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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 644 / 11.12.2018

Langlebige Legenden

Geschichte Der Januaraufstand 1919 und die Fälschungen der Sozialdemokratie

Von Jens Renner

Manchmal erinnern sich auch deutsche Sozialdemokrat_innen gern an Zeiten, als ihre Partei noch »Geschichte gemacht« hat. Eine Begebenheit, an der die SPD maßgeblich beteiligt war, jährt sich in diesem Jahr zum 100. Mal. Nein, gemeint ist nicht die Novemberrevolution mit ihren unkontrollierbaren Straßenaktionen, sondern ein Ereignis, das still und geordnet im Saal stattfand: die Unterzeichnung des Stinnes-Legien-Abkommens am 15. November 1918. Benannt nach dem Konzernchef Hugo Stinnes und dem Gewerkschafter Carl Legien, markiert es den Beginn jener besonderen Beziehung, die später »Sozialpartnerschaft« genannt wurde.

Beim Festakt am 15. Oktober 2018, ausgerichtet vom Unternehmerverband BDA und dem DGB, stellte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) klar, wer damals die handelnden Personen waren: Stinnes, eben kein »Abziehbild des unmenschlichen Kapitalisten«, als das er oft karikiert worden sei; Legien, »moderater sozialdemokratischer Abgeordneter und Gewerkschaftsfunktionär, der auf der einen Seite radikal-revolutionäre Forderungen aus Teilen der Arbeiterschaft abzuwehren hatte, auf der anderen aber mit dem restaurativen Widerstand des alten Regimes rang« - und das alles in der »aufgeheizten Stimmung« im November 1918.

Natürlich gibt es in der SPD auch Genoss_innen mit einem etwas anderen Geschichtsbewusstsein. Björn Engholm etwa: geboren 1939 in Lübeck, schleswig-holsteinischer Ministerpräsident 1988-93 und SPD-Vorsitzender 1991-93, der 1993 im Zuge der Barschel-Affäre von allen politischen Ämtern zurücktreten musste. Jetzt durfte er neben Sahra Wagenknecht in dem eineinhalbstündigen »Doku-Drama« auftreten, das Ende Oktober/Anfang November von Arte und dem NDR ausgestrahlt wurde: »1918 Aufstand der Matrosen«. Als Hobbyhistoriker mit regionalem Bezug würdigt Engholm den »Versuch einer Revolution, einer halben Revolution«. Unvollendet blieb sie, das weiß er wohl, auch wegen der Politik seiner sozialdemokratischen Vorfahren, namentlich Friedrich Ebert und Gustav Noske. Über letzteren, der eigens zum Abwürgen der Revolution nach Kiel geschickt wurde, sagt er: »Noske war ein Mann der Ordnung, kein Mann der Veränderung und des Umsturzes«.

Eberts Provokation, Noskes Ordnung

Welcher Art die »Ordnung« war, die Noske verkörperte, beschrieb Rosa Luxemburg schon vor 100 Jahren. Am 14. Januar 1919 erschien in der Roten Fahne ihr letzter Artikel, überschrieben »Die Ordnung herrscht in Berlin«. (Seite 30) Gemeint war die mit Waffengewalt hergestellte »Ordnung« der Gegenrevolution - am 12. Januar wurden schlecht bewaffnete Aufständische, die seit dem 5. Januar für den Fortgang der Revolution gekämpft hatten, von regulären Truppen besiegt. Gerufen hatte diese Truppen die sozialdemokratische Reichsregierung alias Rat der Volkskommissare. Noske, der selbsternannte »Bluthund«, war der Verbindungsmann zwischen Regierung und Militär.

Der Aufstand war kein geplanter Putsch einer Verschwörergruppe, sondern die spontane Rebellion revolutionärer Massen. Ausgelöst wurde sie durch eine konterrevolutionäre Provokation: Am 4. Januar 1919 erklärte der Rat der Volksbeauftragten unter Führung von Friedrich Ebert (SPD) den Berliner Polizeipräsidenten Emil Eichhorn, Unabhängige Sozialdemokratische Partei (USPD), für abgesetzt. Eichhorn galt den Mehrheitssozialdemokraten als politisch unzuverlässig. Während der Berliner »Weihnachtskrise« hatte er sich geweigert, die Sicherheitswehr gegen die revolutionäre Volksmarinedivision einzusetzen. In den Kämpfen am 23. und 24. Dezember konnten sich die Matrosen, unterstützt von bewaffneten Arbeitern, gegen konterrevolutionäre Truppen behaupten, denen Ebert den Schießbefehl gegeben hatte. Bei »Eberts Blutweihnacht« (Rote Fahne, 25.12.1918) starben elf Matrosen und 56 regierungstreue Soldaten. Aus Protest gegen Eberts Konfrontationskurs traten die drei USPD-Mitglieder aus dem Rat der Volksbeauftragten aus. Sie wurden durch Gustav Noske und Rudolf Wissell ersetzt.

Nach ihrer Niederlage in der »Weihnachtskrise« suchten Ebert und Genossen die Entscheidung. Ihr nächster Schritt war die Absetzung Eichhorns. Der wiederum wollte sich damit nicht abfinden und wandte sich um Unterstützung an seine Partei. Am 4. Januar beschlossen Vertreter der USPD, der Revolutionären Obleute in den Berliner Großbetrieben und der erst wenige Tage zuvor gegründeten Kommunistischen Partei (KPD; bis dahin Spartakusbund) für den nächsten Tag eine Protestdemonstration in der Siegesallee.

Hunderttausende auf den Straßen von Berlin

Das Echo auf diesen Aufruf war überwältigend: Am Sonntag, dem 5. Januar 1919, demonstrierten Hunderttausende gegen die sozialdemokratische Regierung. Unter dem Eindruck dieser für sie unerwarteten Massenaktion versammelten sich am selben Abend 86 Männer im Berliner Polizeipräsidium: 70 Revolutionäre Obleute, zehn Vorstandsmitglieder der Berliner USPD, Emil Eichhorn, zwei Soldaten- und ein Matrosenvertreter sowie Karl Liebknecht und Wilhelm Pieck für die Zentrale der KPD. Mit 80 gegen sechs Stimmen wurde beschlossen, zum Sturz der Regierung aufzurufen. Ein aus 53 Mitgliedern bestehender Provisorischer Revolutionsausschuss - mit Karl Liebknecht, Georg Ledebour (USPD) und Paul Scholze (Revolutionäre Obleute) an der Spitze - rief das Berliner Proletariat für Montag, den 6. Januar, elf Uhr erneut auf die Straße. Auch dieser Aufruf wurde befolgt. Sebastian Haffner schreibt über den entscheidenden Tag der Revolution:

»Die Massen waren am Montagvormittag wieder auf den Straßen, vielleicht noch zahlreicher als am Sonntag. Kopf an Kopf standen sie wieder von der Siegesallee bis zum Alexanderplatz, bewaffnet, erwartungsvoll, tatbereit. (...) Jetzt glaubten sie eine Führung zu haben, jetzt erwarteten sie Entscheidung, Kampf und Sieg. Und dann geschah nichts. Die Führung ließ nichts von sich hören. Einzelne Gruppen machten sich wieder selbstständig und besetzten noch ein paar öffentliche Gebäude - das Wolffsche Telegraphenbüro, die Reichsdruckerei. Den entscheidenden Sturm auf die Regierungsgebäude wollte offenbar ohne Befehl niemand wagen; und Befehle kamen nicht. Auch standen vor der Reichskanzlei einige Tausend Regierungsanhänger, ebenfalls bewaffnete Zivilisten, die die SPD am Morgen zusammengetrommelt hatte. Die Stunden vergingen. (...) Und es kam kein Befehl. (...) Vom Nachmittag an begannen die Massen sich langsam zu lichten. Am Abend hatten sie sich zerstreut. Und als es Mitternacht schlug, lag die Berliner Innenstadt leer. An diesem 6. Januar 1919 war, obwohl es noch niemand wusste, die deutsche Revolution gestorben.« (1)

Was in den nächsten Tagen folgte, war keine revolutionäre Offensive mehr, sondern ein Abwehrkampf. Dass das Wort vom »Spartakusaufstand« grobe Geschichtsfälschung darstellt, kann man auch auf Wikipedia nachlesen: Der Begriff habe sich »eingebürgert« - »obwohl der Spartakusbund beziehungsweise die KPD diesen Aufstand weder plante und auslöste noch führte und erst nach seinem Beginn daran mitwirkte«.

Sozialdemokratische Legenden

Die der SPD nahestehenden Historiker_innen Susanne Miller und Heinrich Potthoff halten sich zwar an die korrekte Begrifflichkeit, schreiben aber in ihrer offiziösen »Kleinen Geschichte der SPD« die Ereignisse auf andere Weise um: »Der Januaraufstand markiert einen Wendepunkt. Von hier nahm das wechselseitige Aufschaukeln der Radikalen von links und rechts seinen Lauf, während gleichzeitig das von der Sozialdemokratie repräsentierte Element einer demokratischen und sozialen Umgestaltung der Gesellschaft zerrieben und zerrissen wurde.« (2) Was auch heißen soll: Die Linken haben die Reaktion der Rechten provoziert - dass das Wüten der Konterrevolution den Charakter eines kalkulierten Rachefeldzuges annahm, bleibt in der Doktrin des gegenseitigen »Aufschaukelns« ein zu vernachlässigendes Detail.

Tatsächlich aber unterschieden sich die Gräueltaten der konterrevolutionären Bürgerkriegsarmeen qualitativ von den bewaffneten Aktionen der Revolutionäre. Das zeigte sich schon am 11. Januar, noch vor dem Zusammenbruch des Januaraufstandes, als fünf Parlamentäre aus der besetzten Druckerei des Vorwärts - trotz weißer Fahne - von regulären Truppen gefangen genommen, misshandelt und erschossen wurden. In der Nacht vom 15. auf den 16. Januar folgte die Ermordung Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs durch reaktionäre Offiziere unter Hauptmann Waldemar Pabst. Noske war aktiver Mittäter: Er hatte die Überwachung von Liebknechts Telefon angeordnet und Befehl gegeben, Pabst ständig Liebknechts Aufenthaltsort mitzuteilen. Darüber hinaus habe er, so Pabst später, sein Einverständnis mit den Morden an den beiden »Unruhestiftern« signalisiert: »Aus Noskes Andeutungen musste und sollte ich entnehmen, auch er sei der Ansicht, Deutschland müsse so schnell wie möglich zur Ruhe kommen.« (3)

Die Morde an Liebknecht und Luxemburg, »die wie niemand sonst in den Augen von Freund und Feind die deutsche Revolution verkörperten«, schreibt Sebastian Haffner, waren »der Auftakt zu den tausendfachen Morden in den folgenden Monaten der Noske-Zeit, zu den millionenfachen Morden in den folgenden Jahrzehnten der Hitler-Zeit«. Haffner, der sich mit dem Bürgerkrieg in der ersten Jahreshälfte 1919 eingehend befasst hat, sieht den »Geist der späteren Konzentrationslager und Ausrottungskommandos« schon bei den »Truppen der von Ebert herbeigerufenen, von Noske kommandierten Gegenrevolution«. Das Bündnis der SPD-Führung mit »avantgardistischen Frühnazis« (Haffner) ist ein entscheidendes, wenn auch aus dem kollektiven Gedächtnis weitgehend verdrängtes Kapitel der deutschen Verbrechensgeschichte.

Anmerkungen:

1) Sebastian Haffner: Die deutsche Revolution 1918/19. Rowohlt, Berlin 2018.

2) Susanne Miller/Heinrich Potthoff: Kleine Geschichte der SPD. Darstellung und Dokumentation 1848-1983. Verlag Neue Gesellschaft, Bonn 1988.

3) Zitiert bei Klaus Gietinger: Eine Leiche im Landwehrkanal. Die Ermordung der Rosa L. Decaton Verlag, Mainz 1993.

Nur einer darf der Schurke sein

Und dann gab es am 8. November doch noch eine kleine Feier im Atrium des Willy-Brandt-Hauses in Berlin. Zum Gedenken an die Novemberrevolution spielte eine Band zeitgenössische Lieder, darunter »Wer hat dem Kaiser die Krone geklaut? - Der Ebert, der helle, der Sattlergeselle«. Das berichtete die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (FAS) vom 11. November 2018. Höhepunkt der Veranstaltung war die Rede der Parteivorsitzenden Andrea Nahles. Vor 100 Jahren seien auch »Fehler« gemacht worden, sagte sie: »Ebert habe der Revolution enge Grenzen gesetzt, und Noske habe mit undemokratischen gestrigen Eliten kooperiert. Man könne die Geschichte der SPD nicht in rosaroten Farben malen, vor allem nicht diese Zusammenarbeit mit den Militäreliten des Kaiserreichs. Und dann der Satz: Und dass Gustav Noske seine Hände beim Mord an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht im Spiel hatte, ist wahrscheinlich.« Was die FAS als Sensation präsentiert - »Kein SPD-Vorsitzender hat jemals auch nur annähernd einen derartigen Satz gesagt« -, ist in diesem Zusammenhang eine geschichtspolitische Provokation, die Noske als eine Art Einzeltäter erscheinen lässt. Eine dreiste Fälschung: Die Kooperation der SPD mit den »undemokratischen gestrigen Eliten« - den Vorläufern der Nazis - beruhte auf einer Entscheidung Friedrich Eberts, kam also von ganz oben. (ak 643)