»Die Gefangenen sind unsere Familie«
International In der kolumbianischen Grenzstadt Cúcuta leistet ein kleiner Verein von Angehörigen Widerstand gegen dramatische Haftbedingungen
Von Andreas Hetzer
Im Nordosten von Kolumbien liegt Cúcuta, eine Stadt mit 600.000 Einwohner_innen an der Grenze zu Venezuela. 2012 wurde hier ein Gefängnis nach dem Vorbild der Architektur US-amerikanischer Haftanstalten eröffnet. Für die dort Inhaftierten gehört Überbelegung zum Alltag. »Es ist eigentlich für 2.700 Häftlinge ausgelegt, aber momentan befinden sich 3.600 Personen dort in Haft. Außerdem gibt es immer noch um die 150 politische Gefangene - und das, obwohl die Häftlinge der ehemaligen FARC-Guerilla im Rahmen des Friedensabkommens mit der Regierung freigelassen wurden«, so Ángela Ochoa, eine klein gewachsene Frau mit knallrot gefärbten, eng geflochtenen Haaren. Gemeinsam mit anderen Betroffenen hat Ochoa vor sechs Jahren den Verein der Familien und Freunde der Inhaftierten des Gefängnisses von Cúcuta (ASOFAMINTERCCUC) gegründet. Der Verein mit 35 Mitgliedern fordert, dass die Lebensbedingungen in den Gefängnissen verbessert und die systematischen Menschenrechtsverstöße geahndet werden.
Der Gefängnisverwaltung INPEC zufolge sind die Kapazitäten der insgesamt 142 kolumbianischen Haftanstalten im Durchschnitt zu 45 Prozent überlastet. 39.000 Menschen sitzen derzeit hinter Gittern, obwohl für sie dort eigentlich kein Platz ist. Weil es an Resozialisierungsangeboten mangelt, ist es fast unmöglich, Strafminderungen zu erreichen. Der staatliche Kampf gegen Drogen und die repressive Strafrechtspolitik haben dafür gesorgt, dass die Überbelegung in den letzten 25 Jahren zugenommen hat. Zuleidys Rizo Ibarra vertrat die Zivilgesellschaft in der Kommission zur Prüfung der Gefängnissituation im Auftrag des Verfassungsgerichtes und stellte fest: »In den letzten Jahren ist es zu einer unverhältnismäßigen Erhöhung des Strafmaßes und der Erfindung neuer Straftatbestände gekommen.« Selbst geringfügige Delikte wie Diebstahl, Alkohol am Steuer oder Widerstand gegen die Staatsgewalt würden mit Haftstrafen geahndet. Dazu kommt die Verschleppung von Gerichtsverfahren durch die Justiz. 2018 sitzen der Tageszeitung El Espectador zufolge 36.452 Personen ohne Urteil in Haft. Es kommt vor, dass Personen zwei Jahre in Haft verbringen, ohne dass eine richterliche Entscheidung gegen sie vorliegt.
Ángela Ochoa ist immer noch erleichtert, dass ihr Bruder nach zwei Jahren Haftzeit endlich wieder zu Hause ist. Er wurde vom Haftrichter wegen schweren Raubüberfalls und Waffenbesitzes ins Gefängnis geschickt, obwohl ihm nie etwas nachgewiesen werden konnte.
Ihre Mitstreiterinnen Mayerli Vergara und Ángela Karina Molina haben weniger Glück: Sie können derzeit ihre Ehepartner lediglich während der sonntäglichen Besuchszeiten für ein paar Stunden im Gefängnis besuchen. Beide haben ihre Partner im Gefängnis kennengelernt. Mayerlis Ehemann ist politischer Gefangener und wurde wegen »Rebellion« zu 40 Jahren verurteilt. 14 Jahre hat er bereits abgesessen. Ángela Karina Molina hat zumindest die Hoffnung, dass ihr Partner in ein paar Monaten nach der Hälfte der Strafe seine vorzeitige Entlassung beantragen kann. Er wurde ebenfalls wegen »Rebellion« verurteilt, zu neun Jahren Haft. Beide Frauen erklären, dass politische Gefangene wesentlich schlechter behandelt würden als soziale Häftlinge. »Für sie kommt kein Hausarrest als Alternative zum Gefängnis in Frage. Im Hochsicherheitstrakt werden ihnen im Vergleich zu anderen Trakten zahlreiche Vergünstigungen vorenthalten. Intimbesuche sind zum Beispiel nur aller vier Wochen statt wöchentlich möglich«, erläutert Ángela Karina.
Tödliche Haftbedingungen
Der Oberste Rechnungshof Kolumbiens gab nach dem Besuch von 22 Haftanstalten in einem Bericht vom Oktober 2018 zu Protokoll, dass die Haftsituation »unhaltbar« sei. Bemängelt wird die Unterlassung von dringend notwendigen Investitionen in Infrastruktur und Instandhaltung der Haftanstalten. Bereits Jahre zuvor hatte das Oberste Verfassungsgericht die Menschenrechtslage in den Gefängnissen als verfassungswidrig eingestuft. Eine 2015 einberufene Kommission zur regelmäßigen Prüfung der Lage in den Gefängnissen hat bisher nichts daran geändert. Angesichts der alarmierenden Situation ist die Liste der Forderungen lang: ein grundlegendes Umdenken in der Strafrechtspolitik, massive Investitionen in Infrastruktur, Neueinstellung von gut ausgebildetem Gefängnispersonal, Korruptionsbekämpfung, Zugang der Inhaftierten zur Gesundheitsversorgung und effektive Resozialisierungsmaßnahmen sowie Strafminderungen.
Die Sterberate in den Gefängnissen steigt; oft sterben Inhaftierte aufgrund unterlassener medizinischer Versorgung, wegen Zusammenstößen zwischen Gefangenen oder übermäßiger Gewalt seitens der Wärter. Anwaltskollektive beklagen Folter und die Verweigerung medizinischer Behandlung bei politischen Gefangenen. Gefängnisverwaltungen provozieren gezielt gewalttätige Zusammenstöße, indem politische Häftlinge mit ehemaligen Angehörigen der Paramilitärs in einen Hof gesperrt werden. Kolumbianische Tageszeitungen berichten regelmäßig, wie Schließer_innen sich bestechen lassen und in Korruptionsnetzwerke eingebunden sind - mit dem Resultat, dass Häftlinge für die Zelle, den Schlafplatz, die Trinkwasserrationen oder sogar für das Mittagessen bezahlen müssen.
»Die kolumbianischen Gefängnisse sind seit jeher Laboratorien systematischer Menschenrechtsverletzungen, die zu einer schwerwiegenden sozialen und humanitären Krise hinter Gittern führen.« So beschreibt die Nationale Gefängnisbewegung die dramatischen Haftbedingungen, der die rund 120.000 Inhaftierten Kolumbiens tagtäglich ausgesetzt sind. Dazu gehören unverhältnismäßig hohe Haftstrafen, defizitäre Gesundheitsfürsorge, Korruption, Folter, schlechte Nahrungsmittelversorgung, Gewalt und Unsicherheit, Zerstörung des sozialen Zusammenhalts und der Familienstrukturen.
»Unter der Haft leiden nicht nur die Häftlinge, sondern auch deren Familienangehörige und Freunde«, betont Mayerli Vergara. Als alleinerziehende Mutter hat sie es schwer, sich eine Zukunft aufzubauen. Denn sie muss nicht nur für sich und ihre drei Kinder sorgen. »Ich unterstütze meinen Mann im Gefängnis, vor allem mit Hygieneartikeln. Alle drei Monate dürfen wir Toilettenpapier, Seife und Zahnpasta mit reinnehmen. Jeden Sonntag bringe ich ihm Essen mit, denn das Essen im Gefängnis ist miserabel und absolut ungenießbar.« Laut der Gefängnisverwaltung gibt es in Cúcuta Arbeitsangebote, so dass Häftlinge Geld verdienen können. Mayerli Vergaras Erfahrung ist eine andere: »Das ist eine Lüge, denn es gibt nur einen Arbeitsplatz pro hundert Häftlinge«. Ihr zufolge führt die schlechte Ernährung und das Fehlen einer medizinischen Versorgung dazu, dass viele Inhaftierte krank werden.
Auch Angehörige werden willkürlich erniedrigt
Die Wächter_innen erniedrigen absichtlich Familienangehörige, die zu Besuch kommen, so Mayerli Vergara. »Jeden Sontag das gleiche Spiel und die gleichen Auseinandersetzungen, einmal wegen des Essens, ein anderes Mal wegen der Kleidung. Wir werden wie Verbrecher behandelt, wenn wir unsere Männer im Gefängnis besuchen.« Bereits um fünf Uhr morgens stellen sich die Familienangehörigen in die Schlange, um auf die Öffnung des Gefängnisses um sieben Uhr oder halb acht zu warten - je nach Belieben der Schließer_innen. Manchmal bleiben die Tore komplett verschlossen, ohne weitere Begründung. Die Mitglieder von ASOFAMINTERCCUC haben ein Theaterstück entwickelt. Das Thema: die zweistündige Tortur der unzähligen Kontrollen und Misshandlungen. »So können Menschen, die sich diese endlose Prozedur nicht vorstellen können, sich ein wenig in unsere Lage versetzen«, erklärt Ángela Ochoa.
Der Zutritt zum Gefängnis verläuft über Schlangen für Kontrollstempel, Zettel mit Namen und die Nummer des Traktes des Inhaftierten, das mehrmalige Passieren von Detektoren, Hundebeschnüffelung und Drogenkontrolle, Durchwühlen und Unbrauchbarmachung von mitgebrachtem Essen, Abtasten des Körpers bis hin zur Entblößung samt Unterwäsche. Schlägt ein fehlerhafter Detektor oder ein Hund an, steigt die Nervosität und die Angst der Besucher_innen, am Zutritt gehindert zu werden. »Der psychische Druck beim anschließenden Verhör ist enorm. Leute, die zum ersten Mal eine solche Kontrolle durchmachen, haben Angst und wissen nicht, was sie in dieser Situation tun sollen. Wenn man daran gewöhnt ist, ist das kein Problem und man kann sich gegen die Willkür wehren. Aber nicht jeder hat den Mut dazu«, schildert Ángela Karina Molina.
Der Verein der drei Frauen ermöglicht den Austausch zwischen den Familienangehörigen über solche Erfahrungen und fängt Ängste auf. Ziel ist es, die Familien in sozialen und rechtlichen Fragen zu unterstützen. »Bevor der Verein ins Leben gerufen wurde, war es für Familienangehörige schwierig, an Informationen zu kommen oder wichtige Dokumente zu den Häftlingen zu schicken, da die Wächter diese verschwinden ließen«, kommentiert Ángela Karina Molina. Dies habe sich dank der Selbstorganisation geändert. Die Workshops mit Anwält_innen, Sozialarbeiter_innen und Psycholog_innen helfen ebenfalls.
20 Stunden Anfahrt zum Gefängnisbesuch
Besonders wichtig ist dem Verein ihr »Casa de paso«. Hier können Familienangehörige von Gefangenen aus anderen Regionen des Landes übernachten, bevor sie am nächsten Morgen zum Gefängnisbesuch aufbrechen. Denn viele Familien müssen teilweise 20 Stunden und mehr für die Anreise auf sich nehmen, um zu den Haftanstalten zu gelangen. Diese liegen meist außerhalb der Städte in abgelegenen Regionen ohne Transportmöglichkeiten. Viele Familien haben kein Geld für ein Hotel und können sich nicht einmal die Fahrt leisten. Manche Inhaftierte bekommen daher jahrelang keinen Besuch. Insbesondere politische Gefangene werden oft absichtlich in Orte weit entfernt von ihren Familien verlegt. Zumindest konnte im Gefängnis von Cúcuta erreicht werden, dass Paramilitärs, politische und soziale Häftlinge in unterschiedlichen Trakten untergebracht sind.
Bildungsarbeit ist ein weiterer Schwerpunkt der Vereinsarbeit. Dafür arbeiten die Frauen und Männer des Vereins mit Regierungsinstitutionen, Gewerkschaften und Universitäten zusammen. Auf diese Weise haben sie es geschafft, gemeinsam mit zwei hiesigen Universitäten eine Fortbildungsmaßnahme zu Menschenrechten ins Leben zu rufen, die von der Gefängnisverwaltung genehmigt wurde.
Seitdem finden hinter Gittern Workshops mit politischen Gefangenen und den Menschenrechtsbeauftragten aus den jeweiligen Gefängnishöfen statt. In Kooperation mit weiteren Bildungsinstituten bieten sie Fortbildungen für Häftlinge an, damit diese nach ihrer Haftzeit bessere Perspektiven haben. »Wir arbeiten auch mit inhaftierten Frauen, denn diesen Aspekt hat die Nationale Gefängnisbewegung bisher vernachlässigt. Man spricht immer von den Männern, wenn von Häftlingen geredet wird. Dabei wird vergessen, dass die Rechte der inhaftierten Frauen genauso verletzt werden«, stellt Ángela Ochoa fest. Lehrpersonal kommt daher auch in die Trakte der Frauen.
Auch wenn die Idee des Vereins vom Kollektiv politischer Häftlinge kam, setzt sich der Verein sowohl für die politischen als auch für die sozialen Häftlinge ein, wie mir die drei Frauen mehrmals versichern. Zu ihrer Arbeit gehört auch, Häftlingen ohne Familienangehörige und Geld eine Rechtsberatung zu verschaffen, damit auch diese Petitionen einreichen oder Anzeigen formulieren können. »Sie sind uns sehr dankbar dafür, dass wir Kopien anfertigen und Papiere hin- und herschaffen«, erzählt Ángela Ochoa. Auch die Spendenaktionen und Proteste kämen allen Gefangenen gleichermaßen zugute. Mayerli Vergara fühlt sich daher als Teil eines gemeinsamen Kampfes über die Gefängnismauern hinweg: »Die Gefangenen geben uns die Kraft, für sie zu kämpfen, sie sind unsere Familie. Aber wir setzen uns für alle im Gefängnis ein, die in den Haftanstalten entrechtet sind.«
Andreas Hetzer ist aktiv bei der Menschenrechtsorganisation RedHer und Teil einer Forschungsgruppe an der Universität Bayreuth und der Universidad del Valle in Cali zur Visuellen Soziologie von Krieg und Frieden. Er hat Ende Oktober beim »Treffen gegen die Kriminalisierung der Armut, der sozialen Bewegungen und der Gefängnissituation in Kolumbien« in Pelaya im Departamento Cesar mit den Angehörigen von ASOFAMINTERCCUC gesprochen.