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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 644 / 11.12.2018

Moishe Postone nicht den Antideutschen überlassen

Diskussion Für linke Aktivist_innen in Israel war der marxistische Theoretiker lange eine Art »rotes Tuch« - zu Unrecht

Von Eilat Maoz

Ich hatte von Moishe Postone bereits gehört, lange bevor ich seine Schülerin wurde. Der marxistische Professor, so wurde mir gesagt, war einer der Ideengeber einer kleinen, aber einflussreichen Strömung innerhalb der deutschen Linken, die sich Antideutsche nennt. Ich weiß nicht mehr, wer mich zuerst auf diese Gruppierung aufmerksam machte. Vielleicht eine_r der deutschen Aktivist_innen, die sich zu Beginn der 2000er Jahre an palästinensischen Demonstrationen gegen die Mauer beteiligten, oder vielleicht einer meiner israelischen Bekannten, die etwa zu jener Zeit von Tel Aviv nach Berlin zogen und in der dortigen aktivistischen Szene unterkamen. So oder so erschien mir und vielen in meinem Umfeld dieses Phänomen der »selbsthassenden Deutschen« als eine Kuriosität, die Hohn und Spott verdiente - eine weitere Form der »deutschen Schuld«: Wohlmeinende Linke können die Realität des heutigen Zionismus und der Besatzung nicht erkennen. Wir gingen davon aus, dass uns israelischen Aktivist_innen die Rolle zufiel, diese Antideutschen aus ihrem neurotischen Dornröschenschlaf zu wecken.

Von Zeit zu Zeit ergab sich dazu auch die Gelegenheit, und wir erhoben unsere Stimme für eine »konsequentere« Haltung der deutschen Linken zur israelischen Politik. Unsere eigene Position in dieser Dreiecksbeziehung zwischen Deutschen, israelischen Jüd_innen und Palästinenser_innen nahmen wir als unproblematisch wahr: Unsere Arbeit schien im Gegensatz zu der unseres deutschen Pendants unbelastet von generationsübergreifenden Schuldkomplexen und falschen ideologischen Zielsetzungen. Aufgrund unseres umfassenden Wissens um postkoloniale Kritik wähnten wir uns in der Lage, die Reihe von seelischen Verschiebungen zu erkennen, die den Zionismus als Lösung zum Antisemitismus erscheinen ließ, und nicht etwa als das, was er wirklich ist: eine Bestätigung der Auffassung, dass Jüd_innen keinen Platz in Europa haben.

Das war auch meine Haltung, als ich 2012 nach Chicago ging, um dort meinen Doktortitel in Anthropologie zu erwerben. Moishe Postone war zwar nicht der Grund, dort zu studieren, da ich jedoch ein großes Verlangen danach hatte, Hegel und Marx zu lesen, meldete ich mich schnell für sein Kolloquium an. Ich wusste natürlich, dass unsere politischen Ansichten - was Israel betraf - nicht gerade auf einer Linie waren, dies sollte mich jedoch nicht daran hindern, bei einem der führenden marxistischen Denker_innen zu studieren.

Und so begann meine Beziehung zu Moishe Postone, zu gleichen Teilen geprägt von Ehrfurcht und Rebellion. Ich nahm mir vor, eine versierte Schülerin der marxistischen Methode zu werden, die er beim Lesen des ersten Bands des Kapitals so brillant herausarbeitete. Zugleich, und später auch als seine Lehrassistentin, führte ich mit ihm hitzige Diskussionen über den Kampf bei uns »daheim« . Postone war im Allgemeinen für Gespräche offen und obgleich er dank der Tageszeitung Ha'aretz auf dem Laufenden blieb, war er stets begierig, mehr zu erfahren, besonders was die politische Ökonomie der Besatzung und den (desolaten) Zustand der israelischen Linken anging.

Er war generell der Überzeugung, dass die israelische Linke, ebenso wie ihre Entsprechungen anderswo auf der Welt, unter der Krankheit eines »Hyper-Subjektivismus« litt, was manchmal auch als Identitätspolitik bezeichnet wird. Dies jedoch nicht in dem gewöhnlichen Sinn, in dem konventionelle Marxist_innen diesen Begriff nutzen, um jeden Kampf gegen Unterdrückungsformen zu verunglimpfen, der nicht auf der Kategorie der Klasse basiert. Diese Art von Kritik setzte in seinen Augen Klasse einfach nur als politische Identität voraus, scheiterte aber daran, die strukturellen - »quasi-objektiven« - Kräfte zu analysieren, die den Kapitalismus »hinter dem Rücken« der sozialen Akteure reproduzieren.

Kapitalismus nicht als schlechte Absicht gedacht

Postone war der Meinung, das Dilemma der Linken läge während des Großteils des 20. Jahrhunderts »in einem fetischistischen Verständnis der globalen Entwicklung«, also »einem konkretistischen Verständnis abstrakter historischer Prozesse, das diese als politisch und durch menschliches Handeln bestimmt begreift«.

Kurz: Postones Lesart von Marx betont die Einschränkungen, die die Verwertungsdynamik, als das Herzstück des Kapitalismus, der Freiheit und damit auch der politischen Handlungsfähigkeit auferlegt. Aus seiner Sicht ist der Kapitalismus eine ganz eigene, historisch-spezifische Lebensform, in der Herrschaft eine Gestalt annimmt, die überwiegend nicht subjektiv ist, also nicht auf den schlechten Absichten der herrschenden Klassen als solcher beruht. Was auch immer diese »personae dramatis« wie Marx sie nennt, von sich selbst denken mögen, sie sind, ebenso wie ihre Arbeiter_innen, gezwungen zu tun, was sie tun, wenn sie bleiben wollen, wer sie sind. (1)

Demnach bestimmt der moderne Kapitalismus nicht nur die Institutionen, die unser Leben strukturieren, sondern auch die Art und Weise, wie wir über diese denken. Jeder Versuch, unsere Realität von »außen« zu kritisieren, wird zwangsläufig jenen Gegensatz reproduzieren, der das Kapital in Bewegung hält: den zwischen der konkreten Warenform (materiell, »real« und unvermittelt) und der abstrakten (symbolisch, sozial und vermittelt).

Die damit einhergehende Verkennung von Kapital mit einer bestimmten Person oder Personengruppe stellt eine Art von einem »konkretisierten« Denken dar, das eine Seite der Fetischform irrtümlicherweise als Auflösung der gesamten Antinomie begreift. Wie der Kapitalismus nicht nur unsere subjektiven Identifizierungen prägt, sondern infolgedessen sogar die Form, in der wir unseren Widerstand gegen seine Herrschaft zum Ausdruck bringen, stellte auch den Kern von Postones Antisemitismuskritik.

Fetisch des Antisemitismus

Postone verstand die nationalsozialistische Ideologie nicht nur als Reaktion auf die Moderne - ob in Form einer Rückkehr zur urwüchsigen Gemeinschaft oder in der überzogenen Umsetzung einer rationalen Bürokratisierung - sondern als historisch-spezifische (Fehl-)Identifikation der Jüd_innen als »wirkliche Kraft«, die verschwörerisch hinter den unverständlichen wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen stecke. Indem die Ideologie diese Fetischform reproduziert, lehnt sie aber die Moderne nicht gänzlich ab. Sie verstand sich vielmehr als emanzipatorische, ja sogar revolutionäre Kraft, die die arische Rasse von der abstrakten Herrschaft jenes parasitären Kapitals befreien sollte, das in der Figur des Juden verkörpert wurde. In diesem Sinne war Postone der Meinung, dass die nationalsozialistische Ideologie nicht in erster Linie mit anderen Formen des Rassismus zu vergleichen sei, die ihren Objekten konkrete Machtformen zuschreiben - materiellen oder sexuellen Charakters. Eher sei diese Ideologie zu vergleichen mit Gesellschaftstheorien, die den Kapitalismus mit Abstraktion gleichsetzen.

Postone war der Überzeugung, dass die dominante Ideologie in Westdeutschland nach 1945 die grundlegende Beziehung zwischen Antisemitismus und Nationalsozialismus verschleiert hatte. Indem sie die Vernichtung der europäischen Jüd_innen von den Bedingungen trennte, die diese erst ermöglicht hatten, konnte ein radikaler Bruch mit der Nazivergangenheit postuliert werden. Die deutsche Linke wiederum neigte dazu, den terroristischen und hochgradig bürokratisierten Charakter des Naziregimes als eine übersteigerte Form des »herkömmlichen Kapitalismus« zu deuten. Beide Formen der Analyse, so Postone, versuchten der historischen Spezifität des Holocaust dadurch zu entrinnen, dass sie die Ideologie der Nazis von ihren Verbrechen gegen die Menschlichkeit trennten. Letztere wurden nicht im Kontext der sozialen und politischen Realität Deutschlands verstanden, sondern entweder als Resultat allgemein menschlicher Neigungen (Rassismus als Sündenbockdenken oder als kollektive Psychose) oder als reflexhafte Reaktion auf einen verallgemeinerten Zustand übersteigerter Repression, faschistischen Terrors oder des Patriarchats im Allgemeinen. Dass diese Theorien an ihrem Gegenstand scheiterten, war, so Postones Schlussfolgerung, Ausdruck davon, dass die Gesellschaftstheorie selbst zu einer »Form der psychischen Repression« geworden war, entsprechend dem Bedürfnis, die eigene Schuld zu leugnen und der schrecklichen Erfahrung von Scham, Reue und Angst vor Vergeltung zu entgehen.

Deutsche und israelische Projektionen

Postones Weigerung, den Zionismus mit Faschismus und Kolonialismus in einen Topf zu werfen und ihn stattdessen als eine Form des Nationalismus unter anderen zu begreifen, hat ihm unter jenen deutschen Linken, die sich Antideutsche nennen, einen guten Ruf eingebracht. Diese scheinen nämlich zu glauben, dass seine Theorie eine unerschütterliche Solidarität mit Israel und seiner Politik rechtfertigt. Aber Postones Gedanken lassen sich auch für eine Kritik jener Israel-Unterstützer_innen in Stellung bringen, die geistigen Trost in einer projektiven Identifikation mit den Jüd_innen suchen - als Versuch, Schuld von sich zu weisen und die Notwendigkeit zu verleugnen, sich den sozialen Verhältnissen zu stellen und auf deren Transformation hinzuarbeiten.

Postone war sicherlich kein Antizionist, und zwar vor allem deshalb, weil er keinen Grund sah, warum in einer in Nationalstaaten aufgeteilten Welt den Jüd_innen das Recht auf Selbstbestimmung verweigert werden sollte. Gleichzeitig war er weit davon entfernt, den jüdischen Staat zu idealisieren. Vielmehr betrachtete er den Zionismus mit seiner Entscheidung für Nationalismus und Partikularismus als eine Verzerrung und Verfälschung der jüdischen Tradition, in dem gerade die andauernde Abwägung von Partikularismus und Universalismus so zentral war. Postone glaubte nicht, dass sich die Spannung zwischen den beiden Polen einfach dadurch auflösen lässt, dass man sich für eine Seite entscheidet. Er glaubte eher an die Arbeit einer Vermittlung, die ihre Möglichkeitsbedingungen sorgfältig erkundet und über sie Rechenschaft abliefert.

In diesem Sinne könnte Postones warnende Erzählung von großer Bedeutung nicht nur für die Linke in Deutschland, sondern auch in Israel sein. Sie mahnt uns zu reflektieren, wie ein verwerfliches Regime dadurch weiter ernährt wird, dass linke Kritik sich nicht ihrer eigenen Verflechtungen in einem Gewebe projektiver Identifikationen bewusst wird. Denn selbst eine rudimentäre Analyse der Wirkung der Zweiten Intifada auf die israelische Linke würde zeigen, dass es hier zu einer bezeichnenden Spaltung kam. Auf der einen Seite stehen nun jene »desillusionierten« Liberalen, für die die Palästinenser_innen mit der Aufnahme des bewaffneten Kampfes endlich »ihr wahres (böses) Gesicht« gezeigt haben. Auf der anderen Seite steht eine radikale Linke, die dem idealisierten Bild eines »guten Palästinensers« verfallen ist: eines Opfers, das stets nach Gerechtigkeit strebt, nie jedoch nach Rache.

Natürlich haben beide Bilder herzlich wenig mit den komplexen Realitäten des palästinensischen Widerstands gemein. Sie sind ebenfalls nicht in der Lage zu begreifen, wie die israelische Politik und ihr stetig wachsender Sicherheitsapparat, der von Zeit zu Zeit in Form sinnloser und überzogener Gewaltspektakel ausbricht, auf ähnlichen Mechanismen der Verleugnung, der Scham und der Angst basiert. Auch wir als Teil der israelischen Linken vermögen nicht zu erkennen, dass Israels unausgesprochenes Wissen um die eigene Gewalt zu einer Kraft geworden ist, die das Gemeinwesen in Form grotesker Fantasien und Alpträumen bevorstehender Rache heimsucht. Solche projektiven Fantasien zwingen Israel gewissermaßen zur kontinuierlichen Ausübung »präventiver« Gewalt, die sich mit jeder neuerlichen Anwendung exponentiell, ja sogar geometrisch steigern muss.

Genau deshalb muss die israelische Linke den Mut aufbringen, sich ihren eigenen projektiven Identifikationen zu stellen, und wird womöglich die pseudo-universalistische Haltung ablegen müssen, die wir unserer eigenen Gesellschaft gegenüber einnehmen. Das bedeutet sicherlich nicht, dass wir uns nun der zerstörerischen Politik Israels zuwenden müssen. Aber wir sollten dem linksradikalen Ethos des »Verrats«, das wir als Zeichen unserer moralischen Überlegenheit einzunehmen pflegen, lieber entsagen und bereit sein, es durch ein Ethos der Verbundenheit zu ersetzen. Verbundenheit zu den vielfältigen Gemeinschaften und Bevölkerungen, mit denen wir leben und mit denen wir, trotz all unserer Illusionen und falschen Zuweisungen, unser Leben und unsere Welt teilen.

Eilat Maoz ist Doktorandin der Anthropologie an der University of Chicago und Autorin des Buches »Inappropriate Acts: Law and Violence on Israel's Colonial Frontier« (Jerusalem: Van Leer). Bis 2012 war sie Hauptkoordinatorin der Frauenkoalition für Frieden, Israel/Palästina. Eine längere Version dieses Artikels erscheint demnächst auf der Webseite der Rosa-Luxemburg-Stiftung Israel (rosalux.org).

Übersetzung: Sebastian Landsberger

Anmerkung:

1) Karl Marx in MEW 23, Seite 125.