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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 644 / 11.12.2018

Eine andere Berichterstattung ist möglich

Diskussion Ali Çiçek, Antonia von der Behrens, Rosa Burç und Axel Gehring über die medialen Diskurse zum deutsch-türkisch-kurdischen Verhältnis

Protokoll: ak-Redaktion

Am 26. November 1993 sprach der damalige Bundesinnenminister Manfred Kanther (CDU) ein Betätigungsverbot für die PKK in Deutschland aus. Nelli Tügel, Redakteurin beim neuen deutschland, hat mit Ali Çiçek von Civaka Azad - Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e.V., der Rechtsanwältin Antonia von der Behrens und den Politikwissenschaftler_innen Rosa Burç und Axel Gehring über das gesprochen, was in der Berichterstattung oft untergeht: die Repression gegen kurdische und türkeistämmige Linke in Deutschland und die ökonomischen Verflechtungen zwischen Deutschland und der Türkei. Diskutiert wurde zudem eine Kritik der Wahrnehmungs- und Deutungsmuster, wenn es um die »kurdische Frage« geht.

Bei Civaka Azad macht ihr Aufklärungsarbeit zu Themen wie Kriminalisierung von kurdischen Aktivist_innen. Von einer solchen seid ihr aber auch selbst betroffen. Hat die Kriminalisierung in letzter Zeit zugenommen und wenn ja, warum?

Ali Çiçek: Die Intensität der Repression hat definitiv zugenommen. Im März 2017 gab es den neuen Erlass vom Bundesinnenministerium, mit dem die Fahnen von YPG und YPJ, also der nordsyrischen kurdischen Organisationen, verboten wurden. Seitdem gibt es bei jeder kleineren Kundgebung oder Demonstration Probleme bei der Anmeldung, 2017 und dieses Jahr auch zum großen kurdischen Kulturfestival in Nordrhein-Westfalen. Im Ergebnis wurde es dieses Jahr verboten. Im zweiten Erlass hat das Innenministerium die Länder aufgefordert, das PKK-Verbot strikter durchzusetzen. Die Folge waren Razzien in Hannover, Hamburg, aber auch bei deutschen solidarischen Kreisen wie in Cuxhaven. In Thüringen wurde ein Büro der Linksjugend gestürmt, in Berlin gab es eine Razzia bei Civaka Azad. Dass die Polizei Türen einschlägt und Computer beschlagnahmt, ist nichts Neues - wir kennen das seit den 1990er Jahren, eigentlich schon seit 1989 mit dem Düsseldorfer Prozess, dem ersten großen PKK-Verfahren in Deutschland. Angesichts der unverhältnismäßigen Polizeieinsätze drängt sich der Vergleich zu den 1990er Jahren auf. Dafür gibt es unterschiedliche Gründe. Zum einen gibt es eine historische Partnerschaft zwischen Deutschland und der Türkei, den strategischen Imperativ, dass sich die deutsche Außenpolitik nach den türkischen Belangen ausrichtet und dementsprechend nicht nur gegen die kurdische Bewegung, sondern auch gegen türkische linke Gruppen vorgeht. Die Repression richtet sich aber auch gegen die solidarischen Beziehungen zwischen deutschen und kurdischen Linken. Deutschland spielt also eine wichtige Rolle dabei, die kurdische Bewegung einzudämmen. In der Phase der Afrin-Invasion zeigte sich das am internationalen Schweigen, was Afrin betraf, obwohl deutsche Panzer an diesem Völkerrechtsbruch beteiligt waren.

Wie haben die deutschen Medien über die Razzia gegen euch berichtet?

A.Ç.: Wir haben die Razzia sofort öffentlich gemacht und unsere Aufgabe betont: Wir machen Öffentlichkeitsarbeit. Kurz war es Thema in linken Medien, nach dem Motto »kurdische Vereine wurden gestürmt«. Ein großer Aufschrei blieb aus. Das war nicht anders als bei anderen Razzien.

Antonia, du warst Nebenklagevertreterin im NSU-Prozess. Bei den Taten des Nationalsozialistischen Untergrunds wurde zunächst in Richtung Mafia, aber auch in Richtung PKK ermittelt. Die deutschen Medien haben dann schnell die Rede von den »Dönermorden« übernommen, die von der Polizei in Umlauf gebracht worden war. Das sagt viel darüber aus, wie deutsche Medien auf türkische und kurdische Migranten schauen, aber natürlich auch darüber, wie sie auf die PKK blicken. Die NSU-Morde wurden sofort in ein »migrantisches Milieu« abgeschoben. Gibt es da eine Verbindung zur Kriminalisierung in den 1990er Jahren?

Antonia von der Behrens: Die Opfer des NSU waren von ihrer Herkunft her vier Kurden, ein Grieche, vier Türken. In der Presse wurde vielleicht einmal erwähnt »der eine ist Kurde«, aber im Großen und Ganzen waren sie in der öffentlichen Wahrnehmung alle »Türken« und sunnitische Muslime - obwohl eines der Opfer Alevite war. Das spielte für die Berichterstattung aber keine Rolle. Auch dass manche die deutsche Staatsbürgerschaft besaßen, spielte keine Rolle. Deswegen muss man unterscheiden: Bei den Ermittlungen damals gab es alle möglichen Spekulationen hinsichtlich des Motivs für die Morde - Drogen, Mafia, organisierte Kriminalität, aber es wurde auch immer wieder ein PKK-Hintergrund in Spiel gebracht, bei jeder der Taten. Bei allen Taten gab es anonyme und nicht-anonyme Hinweise von Leuten, die gesagt haben, die Taten stünden in Beziehung zur PKK, oder die Polizei hat von alleine diese vermeintliche Spur verfolgt. Das war auch so, als der aus Griechenland stammende Theodoros Boulgarides ermordet wurde, auch bei dem Anschlag auf ein Lebensmittelgeschäft in Köln, das von einer iranisch-stämmigen Familie betrieben wurde und sogar bei dem Mord an der Polizeibeamtin Michèle Kiesewetter. Das zog sich aufseiten der Ermittelnden durch. Der Reflex der Polizei bei jedem Mord sofort - zumindest auch - an die PKK zu denken, ist frappierend und ich glaube, daran hat auch die extrem negative Berichterstattung über die PKK in den 1990er Jahren einen großen Anteil. In der Berichterstattung über die Morde kam ein behaupteter »PKK-Hintergrund« auch, aber eher am Rande vor, es dominierten eher die rassistischen Stereotype: Die Beschreibungen von Opferfamilien, die partout nicht mit der Polizei kooperieren, die nach völlig anderen Werten als die Mehrheitsgesellschaft und in einer Parallelwelt leben würden, in der die Polizei auf eine »Mauer des Schweigens« stoßen würde - und diese Behauptungen setzte die Polizei in die Welt, obwohl alle Familien sich tagelang von der Polizei vernehmen ließen. Es gab eine große Bereitschaft der Medien, einfach das zu drucken, was ihnen von Ermittlungsseite an strukturell oder tatsächlich rassistischen Verdächtigungen und Behauptungen übermittelt wurde.

Wurde die eigene Verstrickung in die rassistische Kriminalisierung nach der Selbstenttarnung des NSU medial thematisiert?

A.v.d.B.: In den Mainstreammedien gab es eine Art tätige Reue: Viele Journalisten haben sich nach der Selbstenttarnung um Berichterstattung bemüht, die die Opferperspektive aufnimmt. Bei der Berichterstattung kürzlich zu Chemnitz haben wir gesehen, dass viele investigative Journalisten auch ihr im Rahmen des NSU-Komplexes gewonnenes Wissen über militante Strukturen in der Neonaziszene anwenden konnten und es viele kenntnisreiche Berichte gab. Da gab es Lernerfolge. Aber die Medien haben nie wirklich Selbstkritik geübt, nach dem Motto: Stimmt, wir sind hier den Sicherheitsbehörden aufgesessen, haben ihre Erzählungen übernommen und geglaubt, weil sie zu unseren eigenen Vorurteilen gepasst haben.

Wie gerade angedeutet, ist nicht nur die kurdische Bewegung, sondern die türkeistämmige Linke in Deutschland insgesamt stark kriminalisiert. Welche Rolle spielen die Medien im TKP/ML-Verfahren, das derzeit am Oberlandesgericht in München stattfindet?

A.v.d.B.: 2015 haben die berichtenden Journalisten die Informationen der Ermittlungsbehörden vollkommen unkritisch übernommen: Es wurde von »Terroristen« gesprochen, die Bilder der Festnahmen haben das unterstrichen. Dabei waren die Festgenommenen und heutigen Angeklagten Menschen, die teilweise seit zehn Jahren unter Beobachtung standen, die den Behörden bestens bekannt waren - und auf einmal waren sie »Terroristen«, die man mit einer massiven Gewaltdemonstration festnehmen musste. Da ging es natürlich darum, zu suggerieren, dass hier eine große Terrororganisation ausgehoben worden sei. Die Hauptverhandlung läuft nun seit 2016 vor dem Oberlandesgericht München. Das Verfahren ist ähnlich wie das Düsseldorfer PKK-Verfahren zwischen 1989 und 1994 der Versuch, mit einem großen Verfahren mit zehn Angeklagten eine ganze Bewegung zu kriminalisieren. Mittlerweile sprechen die Medien aber vom »Kommunistenprozess« anstatt vom »Terroristenprozess«. Das heißt, es ist gelungen, klar zu machen, dass die Bezeichnung als »Terroristen« nicht passt auf eine Gruppe, der in Deutschland keine einzige Straftat vorgeworfen wird. Viele Medien haben mit der Zeit verstanden, dass die offizielle Darstellung nicht dazu passt, wie sie selbst das Verfahren, die Angeklagten und die Vorwürfe wahrnehmen. So dass die Medien sich eine Meinung jenseits der Version der Sicherheitsbehörden gebildet haben und berichteten - vereinfacht gesagt -, das sind Kommunisten, die in Deutschland auf Wunsch der Türkei verfolgt werden. Es gibt also durchaus Möglichkeiten, die Berichterstattung durch Aufklärung und Öffentlichkeitsarbeit zu beeinflussen.

Was ist eigentlich schlimmer: Wenn es gar keine Medienöffentlichkeit mehr gibt für die Kriminalisierung oder wenn darüber mit einer totalen Schlagseite berichtet wird?

A.v.d.B.: Es gibt darauf keine befriedigende Antwort: Für die Betroffenen ist es erst einmal schlimmer, als »Terrorist« stigmatisiert zu werden. Aber der Spruch »auch schlechte Presse ist gute Presse« hat einen wahren Kern. Die Möglichkeit zu intervenieren ist größer, wenn zumindest negativ berichtet wird. Man muss dann die Polarisierung für sich nutzen und quasi umdrehen. Schweigen führt nicht dazu, dass man mit Journalisten sprechen kann, denn wie soll man aus einer Nicht-Geschichte eine Geschichte machen? Es braucht zumindest Menschen, die ein Interesse an der Geschichte haben.

Es gibt Themen, die es viel schwerer haben, in die Zeitung zu kommen als zum Beispiel eine skandalisierende PKK-Nachricht oder ein Text über Prügeleien zwischen Kurden und Türken. Dazu gehören in meiner Wahrnehmung die ökonomischen Verflechtungen zwischen Deutschland und der Türkei. Axel, teilst du diese Diagnose - und worin besteht diese ökonomische Seite der historischen Freundschaft zwischen Deutschland und der Türkei?

Axel Gehring: Das ist ganz klar unterbelichtet - aber nicht nur in den Mainstreammedien, sondern auch in der Linken, die als ökonomische Beziehungen dann hauptsächlich die Rüstungsexporte versteht. Deutschland ist zwar einer der größten Rüstungsexporteure, aber im Gegensatz zu Ländern wie Frankreich oder den USA ist die Rüstungsindustrie hier nicht Leitsektor und liefert gar nicht mehr so viel in die Türkei. Wenn auf die ökonomische Seite durch die Brille des Krieges geschaut wird, gerät oft die gesamte restliche Ökonomie aus dem Blick. Die ist aber sehr viel wichtiger, wenn es darum geht, die deutsche Interessenlage zu verstehen, weil sie quantitativ bedeutsamer ist als die Rüstungsexporte. Während der Griechenlandkrise wurde debattiert, welche Rolle es für die deutsche Wirtschaft spielen könnte, wenn Griechenland kollabiert. Was den Handel betrifft, ist die Türkei als Handelspartnerin auf Platz 16. Die Bundesrepublik hat 2017 für 21 Milliarden in die Türkei exportiert, und nur ein minimaler Teil davon sind Rüstungsexporte. Bei Griechenland geht es um viereinhalb oder fünf Milliarden. Außerdem sitzen Tausende von deutschen Firmen in der Türkei. Wenn wir den Staat als materielle Verdichtung von Klassenverhältnissen fassen und deutsches Kapital in der Türkei sitzt, dann ist der türkische Staat selbst auch eine Verdichtung deutscher Kapitalinteressen. Deutsche Interessen sind also dem Staat nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich.

Apropos Griechenland: Hat die Eurokrise 2010 Auswirkungen auf die deutsch-türkischen Wirtschaftsbeziehungen gehabt?

A.G.: Ja. Ab 2010 gab es eine austeritätspolitische Wende: In Griechenland, Italien, Portugal und Spanien wurden Sparprogramme eingeleitet. Das Problem ist: Dort, wo eingespart wird, kann Kapital sich schlechter verwerten. Kapital geht dann anderswo hin. Über 200 Milliarden Euro europäisches Kapital wurden in der Türkei in zum Teil kurzlaufende Kredite investiert. Mit der Krise in der EU schossen die Kapitalexporte in die Türkei in die Höhe, so konnte sie die letzten Jahre weiter wachsen: Anderswo war das Wachstum sehr viel schlechter, und es wurde dann Kapital in die großen Projekte gepumpt, die eigentlich unter normalen Kapitalmarktbedingungen gar nicht mehr profitabel gewesen wären. Aber durch den Überschuss an Kapital auf dem Kapitalmarkt waren die Zinsen relativ niedrig, sodass eine Menge nicht-profitabler Projekte gestartet werden konnte. Heute sinkt der Währungswechselkurs, auch weil Kapital abfließt, denn die Profite von türkischen Unternehmen sinken aufgrund von Übersättigungserscheinungen. Die Folge dieser Kapitalabzüge ist jetzt der geringe Wechselkurs. Damit tritt natürlich eine noch schärfere Profitabilitätskrise ein. Diese Krise betrifft dann aber direkt die europäischen Banken, weil deren Tochterunternehmen seit der großen Bankenrestrukturierung in den frühen 2000er Jahren auf dem türkischen Bankenmarkt sehr aktiv sind und zum Teil 50 Prozent der Beteiligungen an einigen türkischen Banken halten. Und deren Beteiligungen dann wiederum wie im Falle von spanischen und französischen Banken zu 30 Prozent zum Betriebsergebnis beitragen. Das heißt: Wenn die Türkei richtig in die Knie geht, dann gehen französische, spanische und italienische Banken in die Knie. Was zurzeit also droht, ist eine Neuauflage der Eurokrise, möglicherweise heftiger als die Griechenlandkrise. Und dieser Verflechtungsmechanismus wurde in der politischen Linken all die Jahre übersehen, weil wirtschaftliche Verflechtungen viel zu sehr als Rüstungsexporte begriffen werden.

Welchen Plan verfolgt denn die türkische Regierung wirtschaftspolitisch?

A.G.: Aus politischen Gründen will die türkische Regierung keine IWF-Reformen. Da müssten sie der Bevölkerung zu viel zumuten - davor haben sie Angst. Also versucht sie, alternative Geldquellen zu organisieren. Das Problem ist aber: Das Kapital geht nicht dahin, wo die Profitaussichten schlecht sind. Aktuell muss administriert werden, dass das Kapital sich in die Türkei bewegt. Dazu müssen absorptionsfähige Projekte geschaffen werden. Im Immobilien- und Bankensektor geht das wegen Übersättigung nicht. Bei den Infrastrukturprojekten, vor allem den Eisenbahnprojekten, die jetzt mit Siemens und auch unter Beteiligung der deutschen Regierung verhandelt werden, oder bei den Hermesbürgschaften sollen nun de facto staatlich administriert Milliarden investiert werden. Es ist eines der wenigen Felder, wo noch privatwirtschaftlich mit Aussicht auf Gewinn investiert werden kann - staatlicherseits in der Hoffnung, dass dadurch der Wechselkurs stabilisiert werden kann. Historisch ist es so: Aufgrund ihrer geopolitischen Bedeutung wird die Türkei in der Regel weicher angefasst und den Wünschen des türkischen Regimes wird mehr entgegengekommen als denen Griechenlands.

Wie wird denn derzeit in deutschen Medien über die Krise in der Türkei berichtet?

A.G.: Es gibt da eine gewisse Schlagseite: Irrer Despot Erdogan widersetzt sich ökonomisch rationalen Entscheidungen wie Zinserhöhung und IWF-Stand-By-Agreement. Das ist hoch problematisch. Diese ganze orthodoxe IWF-Politik wurde ja in der Krise von 2001 betrieben und auch in den ersten Jahren des AKP-Regimes. Die funktionierte damals gut, weil mit den ganzen Privatisierungen massenhaft Kapital in die Türkei floss, auch da global viel Kapital zirkulierte. Das hat - ganz anders als in Griechenland nach 2010 - zu einem relativ hohen Wachstum geführt. Die globale Krise zeichnete sich 2007 und 2008 ab. Unter diesen Bedingungen wollte die Türkei keine orthodoxe IWF-Politik mehr machen und reduzierte stattdessen die Zinsen, initiierte Public-Private-Partnership-Großprojekte, die Kapital ansaugen können, und machte eine expansivere Wirtschaftspolitik. Dadurch konnte das Wachstum weiter anhalten. Das ging aber auf Kosten des Wechselkurses, führte also in die Krise, in der wir jetzt sind. Was dabei oft nicht verstanden wird: Kapital ist nicht homogen, und es ist auch kein reiner Oben-Unten-Konflikt um Ökonomie. Die großen Holdinggesellschaften sind in Dollar und Euro verschuldet - für die ist ein hoher Wechselkurs wichtig, und sie profitieren von IWF-Politiken. Aber es gibt auch kleinere und mittlere Unternehmen und ärmere Menschen, die sich eher in Lira verschulden. Wenn die Zinsen in die Höhe schießen, sind sie die Hauptleidtragenden. (1) Recep Tayyip Erdogan muss aber jetzt die ökonomischen Interessen der führenden Kapitalfraktionen vertreten, also die des Kapitalverbands TÜSIAD und der großen Holdinggesellschaften, die in Dollar verschuldet sind. Gleichzeitig gibt es, wenn auch häufig gefälscht und frisiert, in der Türkei immer noch Wahlen. Also kann Erdogan nicht einfach eine brutale Austeritätspolitik fahren. So sitzt er zwischen beiden Stühlen, aber dieser Konflikt beispielsweise wird in den deutschen Medien gar nicht wiedergegeben. Niemand fragt sich: Könnte es vielleicht sein, dass es rationale Gründe dafür gibt, wie Erdogan agiert? Dass das mit der Zuspitzung der Krise zu tun hat, die die Regulierungskapazität des türkischen Regimes überfordert? Das wird nicht wahrgenommen.

Rosa, du wirst regelmäßig als Expertin von großen Medien angefragt, um dort zu sogenannten kurdischen Themen zu sprechen. Welche Erfahrungen hast du mit den Journalisten dort gemacht?

Rosa Burç: 2014 lebte ich in London und wurde mit dem Einfall des »Islamischen Staates« in Shengal zum ersten Mal von einem großen Sender angefragt. Da ein Teil meiner Familie jesidisch ist, war das für die Medien interessant - und es gab kaum jemanden, der zu diesem Thema sprechen konnte. Ich wurde weg von einer Demonstration in ein Studio von Channel 4 gebracht. Ein Briefing gab es nicht, sodass ich auch nicht wusste, wer dazu kommt und was genau das Thema ist. Mir wurde gesagt, ich solle mich bitte auf die humanitäre Krise konzentrieren. Am Schluss war diese Sendung eine Live-Schalte von acht Minuten, mit dabei war ein Vertreter der zentralistischen Dawa-Partei aus Bagdad. Ich war eingeladen, um darzustellen, was denn mit den »armen Jesiden« passiert. So lief dann auch diese Talkrunde ab. Ich wurde gefragt, wie ich mich fühle, ob meine Verwandten gestorben sind, was »wir« von der internationalen Gemeinschaft erwarten: »Soll eine militärische Intervention stattfinden?« Da wurde mir schnell klar, dass ich zwar eingeladen wurde, um über Shengal und den IS zu sprechen. Aber eigentlich ging es darum, das, was an Diplomatie stattfand, zu legitimieren. Soll die internationale Gemeinschaft militärisch intervenieren? Das stand damals als Frage auf der Tagesordnung. Der Herr von der Dawa-Partei meinte auch, es sei ganz schlimm, was da passiert. Aber es gehe doch darum, die Einheit des Iraks zu bewahren, und dann warnte er vor Zersplitterung. Das Argument kennt man aus der Türkei. Weil es eine Live-Sendung war, konnte ich an dieser Stelle intervenieren. Wenn man interviewt wird und die Sendung erst später ausgestrahlt wird, gibt es diese Möglichkeit nicht. Nach diesem Channel-4-Auftritt wurde ich von BBC und CNN eingeladen. Bei CNN sollte die Live-Sendung um acht Uhr morgens stattfinden - um sechs Uhr bekam ich einen Anruf aus Alabama und wurde um Kurzzusammenfassungen gebeten zu Fragen wie: Wer sind die Jesiden? Wo ist »das«? Sind das christliche Minderheiten? Dann habe ich erst mal die redaktionelle Arbeit von CNN-International-Journalisten gemacht und das alles aufgeschrieben. Das war übrigens der Tag, an dem die YPG und YPJ den humanitären Korridor nach Shengal freigekämpft haben, die Massenmedien sprachen aber immer nur über »kurdish forces«.

Wie sah zu dieser Zeit die Berichterstattung in Deutschland aus?

R.B.: In Deutschland war die Berichterstattung 2015, kurz nach der Befreiung von Kobanê, noch »pro-kurdisch«, der Feind war schließlich der IS. In der Zeitschrift Marie Claire gab es eine Titelstory über die »Amazonen Rojavas« mit Porträts von YPJ-Kämpferinnen. Es war eine sensationalistische Berichterstattung, die auf Islamophobie basierte und die Frauenfrage instrumentalisierte. Dass es keine ehrliche Solidarität war, wurde deutlich, als es nicht mehr um den IS, sondern die Türkei ging. Der IS war de facto besiegt, und die Türkei führte ihren eigenen Krieg, gerade auch im eigenen Südosten, in Nordkurdistan. Da gab es zunächst eine komplette Mediensperre, als zum Beispiel kurdische Städte wie Cizre und Sur unter Beschuss standen. Irgendwann mussten die Medien darüber berichten - auch dank der Öffentlichkeitsarbeit von Journalisten wie Kerem Schamberger oder Ismail Küpeli.

Wollen deutsche Journalisten einfach die Türkei schützen, oder woran liegt es, dass es da eine faktische Mediensperre gab, wie du sagst?

R.B.: Journalisten beziehen ihre Informationen oft hauptsächlich über die staatlichen Nachrichtenagenturen der Türkei. Sobald es eine vermeintlich legitime Quelle ist, eine offizielle Nachrichtenagentur eines Nationalstaates, werden die übermittelten Informationen kaum hinterfragt, obwohl die Türkei eine aktive Kriegspartei ist und kein neutraler Akteur. Da liegt das Hauptproblem beim Umgang von Massenmedien mit der kurdischen Frage. Hinzu kommt, dass sie der Logik »gute Kurden - schlechte Kurden« folgen. Im Nahen Osten sind die »bösen Kurden« die in Rojava, die einer linken antistaatlichen Ideologie anhängen. Die »guten Kurden« sind zwar etwas unbequem, wollen aber wenigstens einen Nationalstaat. Im türkischen Kontext sind die »guten Kurden« die HDP-Abgeordneten, die durch ihre Wahl ins Parlament eine gewisse Legitimität gewonnen haben. Aber alles, was nicht in Ankara stattfindet, ist irgendwie suspekt - man weiß dann nicht, wer eigentlich schuld ist an diesem Konflikt. Erdogan begründete die Aufkündigung des Friedensprozesses mit dem Tod von zwei Polizisten in Suruç. Und relativ schnell lautete die türkische Erzählung: Die PKK beendet den Friedensprozess und kämpft gegen den Staat, deshalb ist es ein legitimer Kampf gegen Terrorismus. Auch wenn Medien kritisch darüber berichtet haben, schwang immer mit, man wüsste eigentlich nicht genau, was da passiert ist. Der Versuch von Journalisten, bei dem Thema objektiv zu sein, schlägt jedenfalls immer dann fehl, wenn die Opfer- und Täterrollen eigentlich klar sind.

Wie war das dann in der Berichterstattung zur türkischen Invasion in Afrin?

R.B.: Es gab deutsche Panzer in Afrin, und als Selahattin Demirtas nach dem Putschversuch 2016 abgeführt und inhaftiert wurde, wurde er nachts in einem deutschen Panzer abgeholt. Das ist relevant, taucht aber in der Debatte überhaupt nicht auf. Dabei zeigen diese Beispiele, dass Deutschland mit verstrickt ist. In deutschen Medien wurde ich kurz vor dem Fall von Afrin in eine Phoenix-Runde eingeladen. In der Runde waren drei Männer - ein deutscher Politikwissenschaftler, ein deutsch-türkischer und ein deutsch-syrischer Journalist -, eine Moderatorin und ich. Bei allen anderen wurden die Berufsbezeichnungen eingeblendet, bei mir stand nur »Tochter eines jesidischen Kurden«. Ich sollte die kurdische Stimme repräsentieren, aber die kurdische Stimme war nur ein orientalistisches Produkt. Das ist symptomatisch für die Berichterstattung: Wenn die Kurden befragt werden, dann als Zeugen oder als Töchter. Aber es wird nicht nach den politischen Forderungen der Kurden in der Region gefragt. Ich habe immer wieder versucht, auf den Demokratischen Konföderalismus hinzuweisen, wenn, wie in dieser Runde, der große Mythos der Abspaltung - »die Kurden sind eine Gefahr für die Einheit der Türkei« - bedient wurde. Da wurde ich jedes Mal sofort unterbrochen. Das ist sehr ermüdend, weil die Kurden auf ihre Rolle als arme Opfer reduziert werden. Eine Diskussion über die eigentlich zentralen politischen Fragen findet so nicht statt.

Findet dieser Dialog in der linken Öffentlichkeit statt?

R.B.: Linke Medien sind viel sensibilisierter hinsichtlich der Frage. Aber auch da sehe ich gewisse Denkmuster, die sich wiederholen. Nationalstaatliche Narrative werden zwar meistens nicht übernommen, aber in der Afrin-Berichterstattung gab es beispielsweise auch linke Medien, die den Völkerrechtsbruch nicht so klar benannt haben und die türkische Seite der Geschichte unterstrichen haben. Auch das ist eine Form des Orientalismus, denn wenn Deutschland ein Nachbarland, zum Beispiel Österreich, belagern würde, hätten wir auch eine ganz klare Meinung darüber, was in diesem Kontext richtig und falsch ist. Aber im Kontext des Nahen Ostens erscheint immer alles möglich. Diese orientalistischen Denkmuster sitzen sehr tief.

Die taz hat 2014 eine Seite 1 gemacht mit dem Titel »Die PKK gehört zu Deutschland«, der Tagesspiegel forderte die Aufhebung des PKK-Verbotes, die HDP-Euphorie reichte bis in die deutschen Mainstreammedien hinein. Heute ist das Interesse an Selahattin Demirtas so weit zurückgegangen, dass es zu seiner Verurteilung vor kurzem nicht einmal eine Meldung deutscher Agenturen wie dpa gab. Aber auch wie die HDP gesehen wird, hat sich verändert: Manche Berichte gelangen zu dem Schluss, dass es nach dem letzten Parteitag jetzt wieder mehr »in die PKK-Richtung« gehe. Was hat sich zwischen Kobanê und Afrin verändert, wie wird das bei Civaka Azad diskutiert?

Ali Çiçek: Es gibt innerhalb der kurdischen Politik zwei Pole: zum einen die sozialistische PKK, zum anderen die irakische KDP beziehungsweise den nationalistischen Flügel. Letzterer besaß bis 2014 das Monopol hinsichtlich der diplomatischen und internationalen Beziehungen. Seit 2014 schwindet das Monopol der KDP. Das Ziel der internationalen Politik war und ist es, die kurdische Bewegung auf Nordkurdistan, die Türkei, einzudämmen. Kobanê war ein Bruch mit dieser Politik, ein positiver Bezugspunkt. Jetzt haben wir die Situation in Afrin, und die Euphorie ist eine andere als zuvor. Kobanê wurde gegen den IS verteidigt, der als das Böse der Welt galt. Da war es natürlich leicht, sich dagegen zu solidarisieren. Wir hatten eine PKK, die im Friedensprozess mit der Türkei stand. Es gibt eine starke Annäherung zwischen kurdischen und deutschen linken Strukturen, auch über eine theoretische Beschäftigung mit dem demokratischen Konföderalismus. Dieser Prozess hält weiter an, auch wenn es weiterhin Vorbehalte gibt. Aber natürlich haben die kurdischen Strukturen auch vor 2014 sehr viel Öffentlichkeitsarbeit gemacht, das sind auch Früchte dieser Arbeit. Die Wahrnehmung der kurdischen Bewegung in der deutschen Linken hängt trotzdem stark von den Massenmedien ab.

Inwiefern?

A.Ç.: Mit dem PKK-Verbot begann ja eine breite Medienhetze, die Stigmatisierung als stalinistisch, separatistisch, es ging um »interne Exekutionen« und um Abdullah Öcalan als »Führer«. Das hat eine nachhaltige Wirkung auch auf die Linke gehabt. Linksliberale Medien waren damals noch Vorreiterin in der Anti-PKK-Hetze. Nur in Deutschland und der Türkei ist die PKK derart stark kriminalisiert, zum Beispiel was das Zeigen von Fahnen betrifft. Das PKK-Verbot ist in diesem Sinne ein Instrument, das die breite Solidarität mit der kurdischen Bewegung eindämmen soll. Aber eine Selbstkritik, die innerhalb der kurdischen Community formuliert wird, lautet, dass Solidarität keine Einbahnstraße ist. Es gibt auch hier eine kurdische Diaspora, eine junge Generation, die von gesellschaftlichen Problematiken betroffen ist und sich auch hier einbringen muss. Es gibt derzeit viele Teilkämpfe, die geführt werden, und die Frage ist, wie sie zusammengeführt werden können.

Anmerkung:

1) Im September hatte die Zentralbank die Zinsen auf 25 Prozent angehoben. Inzwischen zeigen sich die Folgen: Der Wechselkurs hat sich vorläufig etwas erholt, aber eine große Konkurswelle rollt nun über das Land.