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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 644 / 11.12.2018

Auf Katastrophenkurs

International Großbritannien steuert auf einen ungeordneten Brexit zu - rechte Thinktanks hatten daran ihren Anteil

Von Irene Schrieder

Es erwies sich als eine kluge Einschätzung: Kurz nach der Entscheidung der Brit_innen für den Brexit am 23. Juni 2016 schrieb Howard Hotson im Guardian: »Desaster-Kapitalismus: die schockierende Doktrin, die zu entfesseln die Tories kaum erwarten können«. Der Professor für frühe moderne Geistesgeschichte in Oxford verwies mit Bezug auf Naomi Klein auf das stetige Muster der Konservativen, unter fadenscheinigen Versprechungen alles und jedes zu privatisieren. Er warnte, die sich entwickelnde Krise werde in den kommenden Monaten und Jahren unzählige Gelegenheiten für einen gesellschaftlichen Umbau bieten - und zwar weitgehend ohne demokratische Kontrollen.

Angesichts der jüngsten Entwicklung bewies Hotson Weitsicht. Das britische Unterhaus wird aller Voraussicht nach bei der Abstimmung am 11. Dezember (nach Redaktionsschluss dieser Ausgabe) den ausgehandelten Austrittsvertrag mit der Europäischen Union ablehnen. Eine Grundsatzdiskussion ist im Land entbrannt, große Teile sowohl der »Leaver« als auch der »Remainer« lehnen den Vertrag ab. Die EU hat angekündigt, dass sie nicht nachverhandeln wird. Ob die Briten einseitig erklären können, den Austritt zu stoppen, ist rechtlich umstritten - eine entsprechende Anfrage einer Gruppe Politiker_innen des schottischen, britischen und EU-Parlaments ist derzeit beim Europäischen Gerichtshof anhängig.

Die derzeitige Diskussion, insbesondere wenn sie mit der Forderung nach einem zweiten Referendum, einer Neuwahl oder einem Regierungswechsel einhergeht, ist ein Spiel mit der Gefahr eines »No Deal«-Szenarios. In diesem würde das Vereinigte Königreich ohne Vertrag die EU verlassen. Dann verlören am 29. März 2019, um 23 Uhr britischer Zeit, die EU-Verträge in Bezug auf das Königreich ihre Gültigkeit, ohne dass geregelt wäre, was zum Beispiel an der irischen Grenze geschehen soll oder welche Rechte die EU-Bürger_innen im Königreich und die Brit_innen in den EU-Staaten haben. Insbesondere entfiele auch die, gemäß Austrittsvertrag verlängerbare, Übergangsfrist bis Ende 2020, in der verhandelt werden soll, wie die zukünftigen Beziehungen gestaltet werden sollen.

»No Deal« wäre eine Katastrophe für das Land. Das Königreich würde über Nacht zum Drittstaat in Bezug auf die EU. Was das bedeutet, veröffentlicht die EU-Kommission seit über einem Jahr auf ihrer Website in einer fortlaufenden Serie von mittlerweile über 60 »Brexit Preparedness Notices for Stakeholders«. Was mit ihren Exportgütern geschieht, könnten die Brit_innen dabei in den Importbestimmungen ihrer eigenen Überseehäfen nachlesen. Ein großer Teil der Waren könnte von heute auf gleich überhaupt nicht mehr exportiert werden, weil ihnen die Zertifikation fehlt, in der EU verkehrsfähig zu sein. Andere Güter erwarten zumindest mehr oder weniger langwierige Kontrollen an den Grenzen. Insbesondere Waren organischer Herkunft benötigen nicht nur die entsprechenden Papiere, sondern müssen auch bei der Einfuhr in die EU überprüft werden.

Wieso suchte May keinen Konsens?

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wieso Theresa May nicht von vornherein den Konsens aller Beteiligten gesucht hat, so dass die Frage der Zustimmung im Parlament nur eine Formsache gewesen wäre. EU-Chefverhandler Michel Barnier hat von vornherein die Abstimmung mit dem EU-Parlament, sämtlichen Regierungen der 27 verbleibenden EU-Länder sowie zahlreichen gesellschaftlichen Gruppierungen innerhalb der einzelnen Länder gesucht. Anders wäre die Geschlossenheit der EU nicht möglich gewesen. Premierministerin May dagegen hat sich von Anfang an hinter Platitüden wie »Brexit means Brexit« versteckt und auf Fragen, was das bedeuten solle, geantwortet, dass sie einen rot-weiß-blauen Brexit wolle und einen Deal, der für jedermann funktioniere. In ihrer Lancaster-House-Rede vom Januar 2017 erklärte sie, dass jene, die Fragen nach ihrer Verhandlungsstrategie oder nach möglichen Kompromissen stellten, nicht im nationalen Interesse handeln würden.

Entsprechend wurden die Verhandlungen in den britischen Medien mit Metaphern wie dem Kauf eines Teppichs oder Gebrauchtwagens und Begriffen aus dem Pokerspiel dargestellt. Eine Kritik der Maximalforderungen der britischen Regierung, die sich jeglicher Verpflichtung entledigen, aber den zollfreien und reibungslosen Handel sowie die offene irische Grenze beibehalten wollte, fand bestenfalls auf Blogs statt. Der internen Diskussion hatte Theresa May einen Maulkorb verhängt, und die professionellen britischen Medien hielten sich weitgehend daran. Es wurde abgewartet, wie der Deal aussehen würde.

Einer der Blogs, die frühzeitig aufschrien, war der linke »Another Angry Voice«. Am 30. März 2017, einen Tag nachdem Theresa May das Austrittsgesuch bei der EU einreichte und so die zweijährige Frist triggerte, diskutierte der Blog Mays griffigen Slogan »Kein Deal ist besser als ein schlechter Deal«. Das geschah vor dem Hintergrund der britischen Forderungen, auf die die EU unmöglich hätte eingehen können. »Another Angry Voice« fragte: »Hat Theresa Mays schale Kein Deal ist besser als ein schlechter Deal-Rhetorik auf einen irreversiblen Kurs des katastrophalen Cliff-edge-Brexit gesetzt?«

Es sieht so aus. Zwar veröffentlichte die Regierung zahlreiche »Positionspapiere« auf der Regierungswebsite, zwar hielt die Premierministerin zahlreiche Reden über die Wünsche des Königreichs - nur machte Britannien nicht einen einzigen schriftlichen Vorschlag in den Verhandlungen mit der EU. Noch im Mai 2018 klagte Michel Barnier in einer Rede auf dem 28. Kongress der Internationalen Federation für Europäisches Recht: »Seit dem Beginn der Verhandlungen vor elf Monaten, kam jeder Fortschritt durch konkrete Textvorschläge von uns. Wir fragen nach Klarheit. Um effektiv zu verhandeln, müssen Sie wissen, was die andere Seite will. Eine Verhandlung kann kein Versteckspiel sein.«

Offenbar war es Verhandlungsstrategie der Briten, die EU-Positionen als Bluff anzusehen und auf ein Angebot in der letzten Minute zu warten: Wie der inzwischen zurückgetretene Brexit-Minister, David Davis, am 25. Oktober 2017 einem Unterhaus-Kommitee erklärte, ist es bei der EU üblich, Entscheidungen in der letzten Minute der letzten Stunde des letzten Tages zu machen und dann gegebenenfalls »die Uhr zu stoppen«. Entsprechend sagte Davis in einem Interview des Senders LBC im Dezember 2017: »Was verlangt mein Job? Ich muss nicht sehr klug sein, ich muss nicht so viel wissen, ich muss bloß die Ruhe bewahren.«

Einfluss des Legatum-Instituts

Eine Analyse der Reden Mays bis zum Frühjahr 2018 zeigt überdies, dass für diese eine Reihe von Publikationen des Legatum-Instituts Pate gestanden haben. Dieser Einfluss findet sich auch in den auf der Website der Regierung veröffentlichten Positionspapieren zu den Brexit-Verhandlungen. Das Londoner Legatum-Institut ist einer der zahlreichen Thinktanks, in denen britische Politik vorgedacht wird, und gilt als Pro-Brexit-Denkfabrik. Das sich als Wohltätigkeitsunternehmen ausgebende Institut ist der ideologische Arm der in Dubai ansässigen Investmentfirma Legatum Limited, deren Gründer Christopher Chandler durch Investitionen im Russland der 1990er Jahre zum Milliardär geworden ist.

Eine »Wohlstandszone«, so zentrale Botschaften der Legatum-Papiere, soll mit den USA, Kanada und den pazifischen Ländern errichtet, das Vorsorgeprinzip aufgegeben und durch das »Innovationsprinzip« ersetzt werden. Ziel: Das Königreich soll führend werden in Medizin- und Agrartechnik, insbesondere auch in Dingen, die derzeit in der EU nicht erlaubt sind. Darüber hinaus sollen Gewerbesteuern gesenkt und Bankerboni erhöht werden sowie Sozial- und Umweltgesetzgebung nicht mehr marktverzerrend wirken.

Mittlerweile hat das Legatum-Institut alle Brexit-Veröffentlichungen von seiner Website gelöscht, nachdem es kritisiert worden war, für ein Wohltätigkeitsunternehmen unerlaubten politischen Einfluss auszuüben. Unter der Koordination der britischen Initiative for Free Trade und des US-amerikanischem Cato-Instituts haben zahlreiche Thinktanks hinter den Kulissen daran gearbeitet, einen Proto-Freihandelsvertrag zwischen den USA und dem Vereinigten Königreich auszuarbeiten. Unter dem Titel »The ideal US-UK trade agreement - a free trader's perspective« ist dieser im Internet abrufbar.

Dann hat Theresa May Anfang Juli 2018 auf dem Landsitz Chequers ihren Brexit-Kurs geändert. Dieser negiert so gut wie alles, was sie bis dahin gesagt hatte. Seitdem verfolgt sie einen weicheren Brexit. In der Folge sind mehrere Minister zurückgetreten. Aber mit der EU konnte schließlich eine Einigung erzielt werden.

Die Übereinkunft zur irischen Grenze, einem der härtesten Konfliktpunkte zwischen der britischen Regierung und der EU, könnte bedeuten, dass das gesamte Königreich möglicherweise auf viele Jahre in einer Zollunion mit der EU verbleibt und zahlreichen EU-Regelungen Folge leisten muss, ohne selbst eine Stimme zu haben. Das erzürnt und enttäuscht die Brexit-Anhänger_innen. Die Erlangung der Souveränität, ein Freihandelsabkommen mit den USA und das deregulierte »Panama an der Themse« stünden dann nur auf dem Papier. Und die Labour Party und die Remainer fragen sich, was das Ganze soll: Wieso bleibt das Königreich nicht gleich in der EU anstatt einen »Vasallenstatus« einzunehmen?

Irene Schrieder schrieb in ak 629 über den Brand des Grenfell Tower in London und das tödliche Desinteresse an den Rechten der Armen.