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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 645 / 15.1.2019

Vom Perversen zum Mehrwert

Diskussion Gibt es solidarische Kämpfe über Klassenschranken hinweg? Ray Goodspeed von den Lesbians and Gays Support the Miners im Gespräch

Interview: Yossi Bartal

Im Jahr 1984 sammelt in Großbritannien eine Gruppe schwuler und lesbischer Aktivist_innen Geld für streikende Bergleute. Ihr Einsatz für die Streikenden bewegt die britische Gewerkschaft der Bergarbeiter anschließend, sich stärker für die Rechte schwuler Menschen einzusetzen und dafür, dass sexuelle Gleichberechtigung zum Teil des Labour-Parteiprogramms wird. Der Film »Pride« erzählte diese Geschichte im Jahr 2014 mit viel Humor und einer ordentlichen Portion Kitsch. Nicht zuletzt die wahren Protagonist_innen waren vom Erfolg in den Kinos überrascht - 30 Jahre später wird eine klassenkämpferische Schnulze zum Blockbuster und erzählt doch zugleich die wahre Geschichte der Organisation Lesbians and Gays Support the Miners (LGSM). Ray Goodspeed war und ist immer noch Mitglied bei LGSM.

Wie kam es dazu, dass du dich als junger schwuler Mann überhaupt für einen Arbeiterkampf interessiert hast?

Ray Goodspeed: Meine Unterstützung für die Bergarbeiter hatte eigentlich sehr wenig mit meinem Schwulsein zu tun, sondern mit meinem sozialen Hintergrund. Ich hatte das Unglück, als Arbeiterkind in einem Mittelklasseviertel aufzuwachsen. Alle meine Freunde waren reicher als ich und von Anfang an spürte ich diesen Snobismus uns gegenüber. Es war erniedrigend. In dieser Hinsicht war mein Vater eine prägende Figur. Als leidenschaftlicher Gewerkschaftler beteiligte er sich öfters an Streiks und wurde früh schwarz gelistet. Aktivismus war mir also nicht fremd - während des Bergarbeiterstreikes im Jahr 1972, als Engpässe bei der Stromzulieferung entstanden, lief ich sogar durch die Schule und habe alle Lichter eingeschaltet, um damit den Druck auf die Regierung zu erhöhen. Mit 16 bin ich schon einer trotzkistischen Gruppe beigetreten.

Die mit deiner Homosexualität einverstanden war?

Nicht wirklich. »Militant«, die Gruppe, zu der ich damals gehörte, betrachtete Rechte für Schwule als ein bürgerliches Anliegen und stellte sich vor, die Arbeiter würden damit nicht klar kommen. Als ich mich outete, reagierten jedoch nur die Partei-Apparatschiks befremdet, während hingegen die Menschen aus der Arbeiterklasse damit völlig locker umgingen. Seitdem akzeptiere ich die Vorstellung nicht mehr, dass Arbeiter und Arbeiterinnen besonders homophob wären - auch wenn sie manchmal Sachen unverblümter aussprechen.

Im Film wird die Entstehung der LGSM sehr spontan dargestellt.

Ja, aber ganz so war es nicht. Kurz nach dem Streikbeginn kamen elf von uns zusammen - vor allem aus trotzkistischen und kommunistischen Zusammenhängen. Wir fingen einfach damit an, Geld bei dem CSD oder in schwulen Kneipen zu sammeln und erwarteten höchstens ein Dankschreiben aus dem Dorf, das wir unterstützten. Als wir von ihnen die Einladung bekommen haben, sie zu besuchen, waren wir ganz überrascht. Dann fuhren fast 30 von uns dorthin.

Hattet ihr Angst, mit so vielen Schwulen und Lesben in einem Provinzdorf aufzukreuzen?

Wir hatten keine Ahnung, was auf uns zukommt, wurden aber sehr herzlich empfangen. Im Film wirken die Dorfbewohner viel abgeneigter, als sie eigentlich waren. Sie lebten zwar etwas abgelegen und wussten wenig über Lesben und Schwule - aber wir wussten auch wenig über sie. Es gibt in Wales eine lange anarchistische Tradition - viele sind von dort zum Spanischen Bürgerkrieg gereist, verfügten über internationale Verbindungen und waren sehr belesen.

Gab es gar keine Homophobie?

Natürlich gab es Vorurteile, aber der Satz von einem der Bergarbeiter im Film fasst die zumeist positive Einstellung uns gegenüber gut zusammen: »Warum soll ich glauben, was die Zeitungen über sie schreiben, wenn ich nicht glaube, was sie über uns schreiben?« Übrigens, während des Streiks kamen sie zum ersten Mal auch in Berührung mit Schwarzen Aktivisten aus London oder mit irischen Republikanern. In der Zeit haben sich alle gegenseitig geöffnet.

Der Film erzählt eine Erfolgsgeschichte - habt ihr euch selbst als erfolgreich betrachtet?

Unser Erfolg lag darin, dass wir genug Geld gesammelt haben, damit keiner unserer Bergarbeiter durch Hunger zum Arbeiten gezwungen werden konnte. Am Ende verlieren aber die Bergarbeiter den Streik und es ist unbeschreiblich, wie fatal das für die Arbeiterbewegung in Großbritannien war. Der damalige Fortschritt in der Labour-Party hinsichtlich von LGBT-Rechten, der tatsächlich durch die Unterstützung der Bergarbeiter ermöglicht wurde, hatte erstmal wenig Einfluss - die konservative Regierung verabschiedete kurz danach Section 28, eine Verordnung, die die »Förderung von Homosexualität« in Schulen verbot. Erst 1997 unter Tony Blair hörte es mit der staatlichen Verfolgung von Schwulen und Lesben auf. Da waren die meisten von uns schon gar nicht mehr aktiv.

Und damit ging eure Geschichte zuerst verloren?

Wir standen immer noch in persönlichem Kontakt mit den Leuten aus Wales - aber die Erinnerung an die solidarischen Bewegungen der 1980er Jahre, sogar in linken und schwulen Kreisen, verblasste mit der Zeit. Als ein Filmemacher 2012 zu uns kam und sagte, er wolle eine Komödie aus unserem Leben machen, waren wir erst einmal skeptisch, gaben dann aber unser Einverständnis. Uns war klar, dass im Film aus dramaturgischen Gründen vieles verändert werden würde: Er ließ uns viel dümmer dastehen, als wir waren - aber auch viel schöner! Zudem wurde unsere kommunistische Zugehörigkeit nur am Rande thematisiert: Wer möchte auch schon die stundenlangen Debatten zwischen Trotzkisten und KP-Mitgliedern im Kino sehen? Viel wichtiger ist, dass unsere Geschichte jetzt weltweit bekannt ist und dieses Weihnachten wieder im Fernsehen lief.

Der Film war ja tatsächlich ein weltweiter Blockbuster - welche Reaktionen habt ihr bekommen?

Das Lustigste kam von den Mainstream-Schwulen: Weil der Film so erfolgreich war, mussten sie so tun, als ob sie uns nicht schon seit eh und je verachtet hätten. 2015 luden sie uns sogar ein, an der Spitze des CSD zu laufen - die ehemaligen Aktivist_innen von LGSM zusammen mit den meist heterosexuellen Schauspielern aus dem Film. Wir bestanden aber darauf, nur gemeinsam mit den Gewerkschaften zu marschieren, und haben uns deshalb erst hinter all den Banken und Großunternehmern einreihen müssen. Trotzdem haben die Zuschauer nur auf uns gewartet und der Applaus war überwältigend. Wir fühlten uns, als ob wir eine Weltmeisterschaft gewonnen haben.

Eure verfilmte Geschichte hat zudem eine neue Organisation inspiriert, die Lesbians and Gays Support the Migrants. Die sammelt nicht nur Geld für migrantische Projekte, sondern hat sich auch einen Namen mit spektakulären Aktionen gemacht, nicht zuletzt durch die Blockade eines Flugzeugs im vergangenen Sommer, mit dem Geflüchtete abgeschoben werden sollten.

Ja. Kurz nachdem der Film in den Kinos lief, kam eine Gruppe von jungen queeren Aktivistinnen und Aktivisten zu uns und wollte mit uns gemeinsam LGSM wiederbeleben. Wir fanden die Idee toll, wollten uns aber in unserem Alter anderen Themen zuwenden und nicht nur unsere Vergangenheit wiederholen. In der Debatte darüber, wer heute Solidarität am nötigsten hat, kamen sie schnell zum Beschluss, dass Geflüchtete im heutigen politischen Klima Bergarbeiter quasi ersetzt haben. Viele Geflüchtete kommen auch aus konservativen Gegenden - wo zum Beispiel afrikanische erzevangelikale Kirchen das Sagen haben. Man kann nicht davon ausgehen, dass sie immer erfreut sein werden, mit Schwulen und Lesben zusammenzuarbeiten. Man muss sie trotzdem bedingungslos unterstützen. Die heutigen LGSM-Mitglieder bekommen aus der schwulen Szene ähnliche Reaktionen wie wir damals. So werden sie manchmal gefragt, wie sie Menschen unterstützen könnten, von denen sie gar nicht gemocht oder sogar gehasst werden? Sie erhalten aber auch viel Zuspruch und sind viel mutiger, als wir es waren - sie wurden kürzlich sogar mit Terrorparagrafen angeklagt, weil sie Abschiebungen verhindern.

In den 1980er Jahren waren Schwule und Bergarbeiter beide verhasste Gruppen - heute ist die Situation anders.

Ja, die Instrumentalisierung von LGBT-Menschen durch kapitalistische und konservative Institutionen ist heutzutage überall zu sehen. In den letzten 30 Jahren wurden wir von ekligen Perversen zu einem kommerziellen Mehrwert transformiert. Dabei wird oft vergessen, dass unsere wichtigen Erfolge durch linke Bewegungen und Gewerkschaften erkämpft wurden und nicht von oben kamen. Es verwirrt mich immer noch, dass ausbeuterische Firmen im CSD laufen können und sich als gayfriendly präsentieren dürfen, während sie ihre Arbeiterinnen und Arbeiter, einschließlich ihrer LGBT-Belegschaft, einfach scheusslich behandeln. Sie lieben mich sozusagen, wenn ich schwul bin. Wenn ich allerdings aufhöre zu pimpern, zur Arbeit gehe und meine Rechte als Arbeiter einfordere, dann bin ich entbehrlich. Ich will kein Teil dieser Pinkwashing-Propaganda sein.

Verurteilt wegen »Terror«: Stansted 15

15 Aktivist_innen schnitten am späten Abend des 28. März 2017 ein Loch in den Maschendrahtzaun, der den Londoner Flughafen Stansted umgibt, näherten sich einer dort geparkten Boeing 767, legten sich hinter der Maschine auf den Asphalt und ketteten sich aneinander. Der Abschiebeflug sollte von Stansted nach Ghana und Nigeria gehen. Die Blockade war erfolgreich, das Flugzeug konnte nicht abheben, und die Migrant_innen blieben vorerst im Land. Zu den Gruppen, die die Aktion organisierten, gehört Lesbians und Gays Support the Migrants (LGSM). LGSM organisiert Spendensammlungen und Informationsveranstaltungen, berät Asylbewerber_innen, denen die Abschiebung droht. Die Staatsanwaltschaft wirft den Aktivist_innen nun vor, »die Sicherheit eines Flughafens in Gefahr gebracht zu haben« - ein Vergehen, das im schlimmsten Fall mit lebenslanger Haft bestraft werden kann. Das entsprechende Gesetz wurde infolge des Lockerbie-Terroranschlags von 1988 eingeführt, ein Bombenanschlag auf eine Boeing der Linie PanAm über der schottischen Kleinstadt Lockerbie, bei dem 270 Menschen zu Tode kamen. Am 10. Dezember 2018, dem Tag der Menschenrechte, folgten die Geschworenen der Argumentation des Staatsanwalts und sprachen die Protestierenden schuldig. Die Verkündung des Strafmaßes wird im Februar erwartet.