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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 645 / 15.1.2019

Maßlos, verwegen, inspirierend

Aktion Hundert Aktivist_innen schreiben die Geschichte der Proteste gegen den Hamburger G20-Gipfel im Juli 2017

Von Jens Renner

Ausschreitungen, Krawalle, Chaos und Gewalt. Aus diesen Schlagworten basteln etliche Medien bis heute ihre Rückblicke auf den Hamburger G20-Gipfel im Juli 2017. Diesem verzerrten Bild hat eine Gruppe von etwa 100 Aktivist_innen nun mit dem Buch »Das war der Gipfel. Die Proteste gegen G20 in Hamburg« ihre eigene Sicht der Ereignisse entgegengesetzt. Dabei liegt der Fokus nicht auf dem größten Polizeieinsatz der deutschen Nachkriegsgeschichte mit insgesamt 31.000 Beamt_innen, sondern auf der Vielfalt der Proteste gegen die provokative Show der Mächtigen mitten in der zweitgrößten Stadt Deutschlands.

Der Verleger und Mitherausgeber Theo Bruns fasst in seinem Vorwort auf zwei Seiten pointiert zusammen, was das Ziel der inhaltlich und gestalterisch aufwendigen Veröffentlichung ist: »Unser Anspruch war, die eigene Geschichte zu schreiben, sie nicht den Herrschenden zu überlassen, deren Definitionsmacht in Frage zu stellen.« Herausgekommen ist ein wichtiges Stück Bewegungsgeschichte von unten: lebendig und voller Leidenschaft erzählt, parteilich, aber auch selbstkritisch, in Teilen kontrovers und zu weiterer Debatte einladend.

Streiten ließe sich über die Gewichtung der einzelnen Abschnitte. So wird der mehrtägige Gegengipfel auf gerade mal vier Seiten abgehandelt, und auch die riesige Abschlussdemo mit 76.000 Teilnehmer_innen hätte etwas mehr Raum verdient gehabt. Angemessen gewürdigt werden dagegen diverse Aktionen, die jede für sich zu dem bunten Bild phantasievoller Proteste beigetragen haben: der Rave »Lieber tanz ich als G20«, das Hard-Cornern, die Performance der »Tausend Gestalten«, die Blockadeversuche auf den für die Staatsgäste gesperrten Straßen.

Auch wichtige Treffpunkte für die aus aller Welt angereisten Aktivist_innen werden eindrucksvoll beschrieben: die Camps, die freie Oase Gängeviertel, der Arrivati Park - und nicht zuletzt das im Stadion des FC St. Pauli eingerichtete alternative Medienzentrum FC/MC (»maßlos, verwegen und inspirierend«). Im Mittelpunkt stehen allerdings die Ereignisse auf Hamburgs Straßen. Was sich dort abspielte, wurde von Polizei, Politik und etlichen Medien grob verfälscht. Dass die Autor_innen dem ihre - keineswegs immer einheitliche - Sicht von unten entgegenstellen, ist das wichtigste Verdienst des Buches. Auch im Zeitalter digitaler Informationsflut bleibt Gegenöffentlichkeit in gedruckter Form unverzichtbar. Das zeigt vor allem die Aufarbeitung zweier besonders spektakulärer Ereignisse: der Demo Welcome to hell am Donnerstag und des Riots einen Tag später im Schanzenviertel.

Viele Wahrheiten, viele Akteure

Welcome to hell, »die Demonstration, die nicht stattfinden sollte«, begann am Fischmarkt als bunte Kundgebung mit Redebeiträgen internationaler Gäste, Musik und ausgelassener Stimmung. Als der Demozug sich in Bewegung setzte, wurde er nach wenigen Metern von der Polizei angegriffen. Dabei wurden etliche Demonstrierende erheblich verletzt. Dass in dieser gefährlichen Situation Panik vermieden und eine Spontandemo gegen Polizeigewalt durchgeführt werden konnte, war ein großer Erfolg, der allerdings hart erkämpft werden musste. Gerade auf jüngere Teilnehmer_innen wirkte der brutale Polizeieinsatz traumatisierend - und das war mit Sicherheit auch so beabsichtigt.

Weniger leicht fällt die Bewertung des Riots am Freitagabend. Das zeigt das auf 16 Seiten dokumentierte Streitgespräch, an dem vier linke Augenzeugen beteiligt sind: ein Restaurantbetreiber, ein Anwohner, zwei Aktivisten der Roten Flora. »Freitag war für Donnerstag«, stand später an einer Häuserwand - Revanche für die Zerschlagung der Welcome-to-hell-Demo.

Das liegt auf der Hand. Unwidersprochen bleibt aber auch der Satz des Rote-Flora-Aktivisten: »Der Riot in der Schanze war nicht ein Moment, an den andere anknüpfen können.« Die »Deutungshoheit« über die Ereignisse sei verloren gegangen, in der öffentlichen Auseinandersetzung darüber habe sich die politische Schwäche der radikalen Linken gezeigt. Die Diskussionen um die Freitagnacht der »vielen Akteure« und »vielen Wahrheiten« werden weitergehen, nicht nur in Hamburg.

Ebenso wenig beendet ist die staatliche Verfolgung vieler, die an den Protesten beteiligt waren. Auch über die noch anstehenden Prozesse berichtet das Buch - und über die Polizeigewalt, die es laut einer vielzitierten Lüge des damaligen Hamburger Bürgermeisters und heutigen Vizekanzlers Olaf Scholz (SPD) »nicht gegeben« habe. Dass die vielfältigen Aktionen gegen den Gipfel ein Erfolg waren, steht für alle an dem Buch Beteiligten außer Frage. Weniger überzeugend klingt der positive Ausblick des Mitherausgebers Sven Stillich am Ende des Buches. »Der Protest war der einzige Gewinner des G20-Gipfels in Hamburg«, schreibt er: »Denn auf der anderen Seite, da stehen heute die Verlierer, die in Uniform und die in Anzügen.«

Das ist eher Wunschdenken als Realität, schmälert aber nicht den Wert dieser gelungenen und zur Diskussion anregenden Protestchronik. Sie zu produzieren hat lange gedauert. Dafür ist sie auch besser gelungen als alle bisherigen Publikationen zum selben Thema.

GoGoGo (Hg.): Das war der Gipfel. Die Proteste gegen G20 in Hamburg. Assoziation A, Berlin, Hamburg 2018. 275 Seiten, 150 Fotos, 24 Euro.