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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 645 / 15.1.2019

Die Evakuierten

Gelbwesten Nach dem Einsturz zweier baufälliger Häuser in Marseille organisieren sich Anwohner_innen gegen Gentrifizierung - Solidarität kam auch von den Gilets Jaunes

Von Leon Reichle

Während aus ganz Frankreich Nachrichten von einer Protestbewegung kamen, die mal Skepsis, mal Sympathien weckte, spielte sich in Marseille ein erbitterter Kampf um den städtischen Raum ab. Am 5. November 2018 stürzten in der ärmsten Stadt Frankreichs zwei mehrstöckige Wohnhäuser in der Rue d'Aubagne im migrantischen Arbeitervierteil Noailles ein und begruben acht Menschen unter sich: Taher, Simona, Fabien, Niasse, Julien, Ouloume, Sherife und Marie.

Eines der beiden Häuser wurde bereits 2012 für unsicher erklärt und stand seit einigen Jahren leer, die Wohnungseigentümer_innen wurden zum Verkauf an die Stadt gezwungen. Sanierungs- oder Sicherungsmaßnahmen blieben aus. Das andere Haus war bewohnt, einige Bewohner_innen verließen es jedoch in den Tagen vor dem Unglück: Angesichts des andauernden Regens waren sie beunruhigt über die verzogenen Türen, die sich nicht mehr schließen ließen. Die Folge der Tode in den baufälligen Häusern waren Evakuierungen aus der Innenstadt - und wütende Proteste seitens der Stadtbevölkerung.

Erste Anzeichen von Gentrifizierung: Noailles

Trotz diesbezüglicher Bestrebungen ist Marseille aktuell die einzige französische Großstadt, deren Zentrum noch keinen vollständigen Gentrifizierungsprozess durchlaufen hat. Im Herzen der Stadt liegt Noailles, Schauplatz der Auseinandersetzungen um die Tode in den baufälligen Wohnhäusern. Das Viertel ist bekannt für seinen Markt, die maghrebinischen Restaurants - und heruntergekommene Häuser. Dass der Stadtregierung die hier lebende Bevölkerung nicht passt, zeigte sich auch, als der seit 23 Jahren im Amt weilende republikanische Bürgermeister Jean-Claude Gaudin befand, es brauche einen »Austausch der ausländischen Bevölkerung« in Marseille.

In den letzten Jahren wurde die Polizeipräsenz in Noailles auf den engen Straßen merklich verstärkt, in der Nachbarschaft wird ein Luxushotel gebaut. Ein zentraler Teil des Marktes ist übergangsweise einer Baustelle der lokalen Stadtentwicklungsgesellschaft Soleam gewichen. Die gleiche Gesellschaft treibt im benachbarten Viertel La Plaine ein millionenschweres Projekt der Sanierung eines Platzes voran. Anwohner_innen sehen die kollektive Nutzung des Place Jean-Jaurès als Aufenthaltsort, Park und Markt des Viertels dadurch gefährdet.

Vor dem Einsturz der Häuser gab es regelmäßige Protestaktionen und Demonstrationen in La Plaine. Um den Protesten von Anwohner_innen, Barbetreiber_innen und Marktverkäufer_innen ein Ende zu setzen, wurde kürzlich eine zwei Meter hohe Betonwand errichtet, die nun die Baustelle »sichert«. Während viel Geld in die Aufwertung des Stadtzentrums fließt, stellt sich angesichts der Wohnraumkrise für die Betroffenen immer häufiger die Frage, wem diese Entwicklungen zugutekommen.

Tausende unsichere Häuser sind weiterhin bewohnt

Wirtschaftlich hat Marseille die Deindustrialisierung noch immer nicht verkraftet. Die Arbeitslosenrate ist mit 18 Prozent fast doppelt so hoch wie die im Rest des Staates, mehr als ein Viertel der Bevölkerung der Hafenstadt lebt unter der Armutsgrenze. Der Tourismus allein kann den Wohlstand der Stadt nicht sichern, obwohl große Hoffnungen auf ihn gesetzt und dementsprechende Investitionen getätigt werden. Seit 1995 läuft in Marseille das größte Stadtentwicklungsprojekt Europas: »Euromediterranée«. Das Ziel einer »intelligenten, vernetzten und nachhaltigen Stadt« wirkt im Lichte der Tragödie vom 5. November geradezu zynisch. Die Geschichte erinnert an das Feuer im Londoner Grenfell Tower und steht hier wie dort für die Verachtung der Armen und ihre Verdrängung aus der Stadt. (ak 629)

Einem offiziellen Bericht von 2015 zufolge sind 40.000 Häuser in Marseille unsicher - vor dem 5. November 2018 waren dennoch lediglich 111 evakuiert. »Es ist schon verrückt: Man hat diese Risse in der Wand, würde aber nie denken, dass die Häuser wirklich einfach einstürzen«, meint Martha, eine ehemalige Hausbesetzerin aus Noailles. Die Vernachlässigung der Bausubstanz in den Vierteln der Armen wurde mit dem Unglück am 5. November von einem auf den anderen Moment sichtbar. »Wir haben uns immer gefragt: Noailles gentrifizieren? Wie wollen sie das denn machen? Und jetzt ist klar: Sie warten einfach bis die Häuser einstürzen«, erzählt ein Freund von Martha.

Erst die Tode am 5. November haben aus dem Kampf um die Stadt eine Bewegung gemacht. »Früher bin ich in Marseille nie auf die Straße gegangen, weil ich mir dachte, das bringt eh nichts. Aber jetzt stellt sich die Frage gar nicht mehr, wir haben keine Wahl mehr! Da sind einfach Leute bei sich zu Hause gestorben!«, berichtete eine Demonstrantin voller Wut in einem Video, als sie kurz nach dem Unglück auf die Straße geht.

Die Stadt sah sich nach dem Einsturz zum Handeln gezwungen und hat bisher 1.600 Menschen evakuiert. Viele von ihnen sind in Hotels in entlegenen Vierteln untergebracht, weit weg von ihrem Arbeitsplatz, ihrem Zuhause und den Schulen der Kinder. Nicht nur der Schock über die zerstörten Häuser, sondern auch die eigene Erfahrung der Verdrängung empört die Evakuierten. »Man gibt uns überhaupt keine Informationen, wir werden wie Unerwünschte behandelt. Ich muss die Leute regelmäßig daran erinnern, dass wir nicht zum Urlaub machen im Hotel sind«, beschwerte sich eine Frau auf der Neujahrsfeier für die Evakuierten.

Selbstorganisierung nach dem 5. November

Unmittelbar nach dem Einsturz haben sich Anwohner_innen und solidarische Stadtbewohner_innen versammelt und das Collectif du 5 Novembre - Noailles en colère (Kollektiv des 5. Novembers - Noailles in Wut) gegründet, um die Betroffenen im Umgang mit der Situation zu unterstützen. Die Aktiven fordern Gespräche mit der Stadt ein und suchen gemeinsam nach Lösungen für bürokratische und alltägliche Probleme. Darüber hinaus gab es Soli-Events und Weihnachtsessen für alle, die die Feiertage nicht isoliert im Hotelzimmer verbringen wollen.

Als am 1. Dezember die Gelbwesten Paris lahm legten, waren in Marseille 12.000 Menschen mit ähnlich heftiger Polizeigewalt konfrontiert. Der 80-jährigen Zineb Rédouane schoss die Polizei eine Gasgranate ins Gesicht, als sie im vierten Stock eines Wohnhauses ihr Fenster schließen wollte. Kurz bevor sie starb, vermutete Rédouane, dass die Polizisten geglaubt hatten, sie würde das Geschehen mit dem Handy filmen wollen.

Auch Gewerkschafter_innen des Gewerkschaftsbunds CGT und die Gelbwesten schlossen sich der Demonstration am 1. Dezember an und bekundeten ihre Solidarität. Plattformen für unterschiedliche Stimmen und spontane Koalitionen entstanden. Neben den Angehörigen der Opfer machten im Zuge der Proteste auch Sans-Papièrs, die aus einem längst baufälligen Squat geräumt wurden, auf ihre Wohnsituation aufmerksam. Im Gegensatz zu den Evakuierten haben sie nicht einmal ein Hotelzimmer zur Verfügung.

Sanierung, Abriss oder Umstrukturierung bleiben lukrativ: Während am alten Hafen Weihnachtsbäume aus Protest angezündet wurden, werden in Noailles weiterhin fast verfallene Häuser versteigert. Viele der Evakuierten sind immer noch schlecht untergebracht und leben in Ungewissheit über ihre Zukunft, denn ob sie ins Stadtzentrum zurückkehren können, ist unklar. Verantwortlich gemacht wird vor allem der verhasste Bürgermeister Gaudin. Die Demonstrationen sind mittlerweile kleiner geworden, doch die Katastrophe ist nicht vergessen.

Leon Reichle promoviert in Leicester zu Verdrängung aus dem Wohnraum und besucht regelmäßig Marseille.