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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 645 / 15.1.2019

Von Gefährdeten zu »Gefährdern«

Deutschland Tschetschenische Geflüchtete werden als »Islamisten« kriminalisiert, um sie leichter abschieben zu können - dabei arbeiten die Behörden eng mit dem russischen Geheimdienst zusammen

Von Mariam Puvogel Chakib

Sommer 2018, Cottbus ist in heller Aufregung. Um die Wogen zu glätten in einem Klima, in dem viele Bürger_innen nur noch die AfD als Ansprechpartnerin identifizieren, haben Politik und Verwaltung die Bevölkerung zum Bürgerdialog in eine Sporthalle eingeladen. Hauptthema ist die tschetschenische Community, mit rund 8.000 Personen (1) eine der größeren Geflüchtetengruppen in Brandenburg. Von islamistischen Gefährdern, Asyltourismus, muslimischen Banden, fehlender Ordnung und Stadtverschmutzung ist zu hören. Und immer wieder empörte Kommentare darüber, dass »Staatsbürger der Russischen Föderation« hier Asyl beantragen dürfen. Die Politik reagiert zugewandt, man nehme die Sorgen ernst. Der Leiter der Ausländerbehörde, Carsten Konzack, erinnert daran, dass es leider nicht möglich sei, Anträge aus nicht-sicheren Herkunftsstaaten in Eilverfahren zu bearbeiten. Aber es gebe einen guten Kontakt mit dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF). In Fällen, in denen die öffentliche Sicherheit gefährdet sei, würden Anträge sehr wohl vorgezogen werden. Sven Bogacz, Chef der Cottbusser Polizei, bekräftigt: »Diese Leute bearbeiten wir gerade, verwaltungsrechtlich gesehen. Wir beobachten, was die tun. Das BAMF wurde ersucht, Verfahren vorzuziehen. Und wir werden sicherstellen, dass diese Gruppe dann Deutschland verlässt.«

Bei der öffentlichen Sicherheit, von der hier die Rede ist, geht es nicht um die Situation von Geflüchteten in einer Stadt, in der rassistische Übergriffe an der Tagesordnung sind. Vielmehr scheint Konsens zu sein, dass »die Gäste« aus dem Nordkaukasus zur Bedrohung geworden sind. Dabei berufen die Anwesenden sich auf einen Polizeieinsatz im Juni an der Unterkunft in der Hegelstraße, bei dem es zu Massenverhaftungen tschetschenischer Männer kam. Auch in großen Medien ist immer wieder von »verrohten und radikalisierten Tschetschenen« die Rede, die die Islamistenszene in Brandenburg »fest im Griff« hätten. Als im November das Brandenburger SEK eine großangelegte Antiterrorübung durchführte, war das imaginäre Szenario ein Anschlag durch tschetschenische Terroristen.

Generalverdacht des Islamismus

Kaum eine andere Gruppe ist so konstant mit dem Generalverdacht des Islamismus konfrontiert. Kritische Nachfragen sind auch beim Bürgerdialog in Cottbus im Sommer nicht vorgesehen. Tschetschenische Studierende versuchen es trotzdem. Sie fragen Bürgermeister Holger Kelch (CDU), wieso er auf einer Pressekonferenz nach dem Polizeieinsatz behauptete, dass tschetschenische Asylbewerber_innen in den Urlaub nach Tschetschenien fliegen würden - für Kelch ein Beleg dafür, was alles falsch laufe im Asylsystem der Bundesrepublik. Da jedoch nur anerkannte Geflüchtete überhaupt ein- und ausreisen können, insistieren die Betroffenen auf eine Richtigstellung: »Von welchen anerkannten Tschetschenen wissen Sie aus Brandenburg, dass diese Urlaub im Heimatland machen?« Die Antwort, die Kelch dem Leiter der Ausländerbehörde überlässt, ist so zynisch wie bezeichnend. Es gebe nach seiner Kenntnis keine anerkannten Tschetschen_innen mehr in Brandenburg.

Die Gruppe junger Tschetschenen, die sich entschieden hat, ihre Situation öffentlich zu machen, sitzt in der Herbstsonne vor der Uni - einer der wenigen Plätze in der Stadt, wo ungestört von ständigen Polizeikontrollen und restriktiven Heimleitungen offene Gespräche stattfinden können. Trotz der begründeten Skepsis gegenüber einer Medienlandschaft, die wenig differenziert über sie berichtet, will die Gruppe über die Repression sprechen, deren vorläufiger Höhepunkt der Polizeieinsatz im Juni 2018 war.

Ausgangspunkt des Einsatzes war eine körperliche Auseinandersetzung auf einem Fußballplatz zwischen rund 20 afghanischen und zehn tschetschenischen Jugendlichen, die in der Unterkunft in der Hegelstraße leben. Nach dem Konflikt musste ein Großteil der Tschetschenen mit Verletzungen im Krankenhaus behandelt werden. Obwohl die Polizei darüber informiert war, dass die Betroffenen nicht vor Ort waren, kam es am selben Abend zu Massenverhaftungen tschetschenischer Männer in der Unterkunft. Aslan*, einer der Betroffenen, erzählt: »Es war für uns wie ein Schock, diese völlige Willkür. Die Beamten versammelten einfach alle Tschetschenen, die sie finden konnten. Es war Ramadan, viele von uns waren zum Gebet zusammen gekommen. Wir wurden vor dem Haus zusammengetrieben und vor den Augen unserer Familien in Handschellen abtransportiert.«

Während die Verhaftung eines blinden Mannes durch Protest verhindert werden konnte, wurden andere trotz schwerer Erkrankungen und Behinderungen auf die Wache gebracht. Dort folgte eine Nacht, die für viele traumatisch verlief und eine tiefe Verunsicherung über den Grad der Rechtsstaatlichkeit in dem Land hinterließ, in das sie vor einem despotischen Regime geflohen waren. Keinem der 26 Festgenommenen wurde der Grund der Festnahme mitgeteilt, niemand wurde verhört. Aus reiner Schikane wurden die Geflüchteten nach der erkennungsdienstlichen Behandlung teils gezwungen, sich auszuziehen und die Nacht nackt ohne Decken in unterkühlten Zellen zu verbringen. Wasser wurde selbst denjenigen verweigert, die es zur Medikamenteneinnahme brauchten.

Ein Polizeieinsatz und seine Folgen

»Viele von uns hat das, was in dieser Nacht passiert ist, an die Dinge erinnert, die dir in Tschetschenien passieren können. Das Gefühl, dass deine Rechte nur auf dem Papier existieren. Dass dir nicht mitgeteilt wird, was dir vorgeworfen wird. Auf die Frage nach dem Anruf bei einem Anwalt reagierte ein Beamter mit der Gegenfrage, ob wir nicht wissen, wo wir sind. Das wirkte für uns wie ein Trigger«, fasst einer der Älteren in der Gruppe das Geschehen zusammen.

Währenddessen wurden die Zimmer der Festgenommen von der Polizei durchwühlt, Frauen und Kinder teils mit gezogenen Waffen gezwungen, sich während der Durchsuchung an die Zimmerwände zu stellen. Die Ingewahrsamnahmen hatten nicht nur korperliche und psychische Konsequenzen fur die betroffenen Familien. Auch die aufenthaltsrechtlichen Folgen waren gravierend. Obwohl keiner der Festgenommen eine Anzeige im Zusmmenhang mit der Schlägerei auf dem Fußballplatz erhielt, bekamen mehrere der Betroffenen kurze Zeit später Ablehnungen ihrer Asylanträge zugestellt. Auf der Ausländerbehörde gab eine Sachbearbeiterin umumwunden zu, dass die Entscheidungen im Zusammenhang mit dem Polizeieinsatz standen. Man wolle »nicht noch mehr kriminelle tschetschenische Clans« aufnehmen. Auch Thomas Bergner, der Leiter des Ordnungsdezernats Cottbus, in dem die Ausländerbehörde angesiedelt ist, hatte im Bürgerdialog betont, dass man bereits mit dem BAMF zusammenarbeite, um »Problemfamilien« schneller abzuschieben.

Die verheerenden Folgen für die Betroffenen erstrecken sich auf alle Lebensbereiche. So schilderte einer der Festgenommenen: »Ich hatte bei einer Autowerkstatt gearbeitet, bis dahin lief alles gut. Nach der Festnahme und den Schlagzeilen sagte mein Chef mir, dass ich nicht wiederkommen bräuchte. Sie hätten kein Interesse an Problemen.« Ein anderer hatte bei einer Sicherheitsfirma gearbeitet. Ohne Angabe von Gründen wurde gegen ihn und andere Tschetschenen bei einem Cottbuser Stadtfest kurz nach dem Einsatz ein Platzverbot verhängt. Eigentlich hätte er dort arbeiten sollen: »Weil ich selbst nicht wusste warum, konnte ich meinem Chef nicht erklären, wie es zum Platzverbot kam. Er gab mir direkt meine Kündigung.«

Obwohl keiner der Betroffenen des Polizeieinsatzes für ein Vergehen verurteilt wurde, brachte auch die lokale Presse die Abschiebung mehrerer Tschetschenen im November unmittelbar in Zusammenhang mit den Vorfällen im Sommer. (2) Der Diskurs über Tschetschenen als Islamisten und Gewalttäter ist so machtvoll, dass die Unschuldsvermutung für diese Gruppe in weiten Teilen der Öffentlichkeit außer Kraft gesetzt ist.

Der lange Arm Kadyrows

Auf die Situation in Tschetschenien angesprochen, werden die Betroffenen in Cottbus still. Selbst in der kleinen Gruppe ist es schwer, offen zu sprechen, da Spitzel des tschetschenischen Regimes jede größere Exil-Community penibel überwachen. (3) Die Angst, scheint nicht überzogen zu sein, angesichts der im Netz kursierenden Videos, auf denen Präsident Ramsan Achmatowitsch Kadyrow offen jenen droht, die es wagen, sich im Ausland kritisch zu äußern.

Auch Zelimzan*, der seit 2013 in Berlin lebt, möchte sich nach dem, was ihm nach einer Demonstration 2016 passierte, nur noch anonym äußern. Nachdem er mit Freunden in Wien an einer Protestaktion gegen die tschetschenische Regierung teilgenommen hatte, bekam er Drohungen. Erst auf Whatsapp, dann wurde er auf dem Weg zum Sport von mehreren Personen abgefangen. »Die waren auch Tschetschenen, ein bisschen älter als ich. Wen ich in Wien kenne, wollten sie wissen - und mit wem ich hier in Kontakt bin. Als sie drohten, meiner Familie in Tschetschenien etwas anzutun, habe ich entschieden, nie wieder auf eine Demonstration zu gehen. Es stimmt, dass viele von uns nach Syrien zum Kämpfen gegangen sind. Früher konnte ich das auch nicht verstehen. Inzwischen kann ich nachvollziehen, was bei denen abläuft. Das hat oft nichts mit religiösem Fanatismus zu tun. Wenn du nirgendwo mehr Widerstand leisten kannst, weder in Tschetschenien noch hier, ist Syrien für viele einfach der letzte Ort, um gegen Putin und Kadyrow zu kämpfen.«

»Nordkorea am Kaukasus« - Tschetschenien heute

Wie ein »Nordkorea am Kaukasus«, so fasst der Anwalt Oleg Khabibrakhmanov, Leiter der russischen Menschenrechtsorganisation Komitee zur Verhinderung von Folter in der Arte-Reportage »Vergessen auf Befehl« den Zustand des Landes fast zehn Jahre nach Kriegsende zusammen. Wer heute durch die Hauptstadt fährt, kann überall an den neuen, leerstehenden Luxushochhäusern Bilder von Wladimir Putin finden, jenem Mann, der für die völlige Zerstörung der Stadt im zweiten Tschetschenienkrieg verantwortlich ist. Putin ist auf diesen Bildern oft gemeinsam mit dem tschetschenischen Präsidenten Kadyrow zu sehen.

Letzterer führt das Land seit 2007 mit einer Mischung aus inszenierten Traditionen und einer Repression, die den Methoden der russischen Sondereinsatzkommandos während der Kriege in nichts nachsteht. Das Regime verschleppt und ermordet Oppositionelle, dazu setzt es auf Propaganda und Indoktrination auf allen Ebenen des öffentlichen Lebens. An Putins und Kadyrows Geburtstagen sowie am russischen Nationalfeiertag wird die gesamte Bevölkerung der Hauptstadt von ihrer Arbeit freigestellt und aufgefordert, an den Feierlichkeiten teilzunehmen. Bizarre Popschlager verkünden dann aus Lautsprechern: »Ramsan Kadyrow und Wladimir Putin, sie führen unser Land zum heiligen Licht. Russland und Tschetschenien gehören zusammen.« Wer nicht teilnimmt, kann seine Arbeit verlieren und riskiert, die Aufmerksamkeit des Sicherheitsapparats auf sich zu ziehen. Straßen sind nach Befehlshabern der russischen Armee benannt, die die tschetschenische Zivilbevölkerung ermordeten und verfolgten. »Eine Bevölkerung in kollektiver Schizophrenie, die gezwungen wird, ihre Peiniger zu ehren«, kommentiert die Fernsehjournalistin Manon Loizeau, die für ihre Arbeiten über Tschetschenien mehrfach ausgezeichnet wurde.

Rund 18.000 Menschen sind bis heute verschwunden, und es »verschwinden« nach wie vor Menschen. Sich der Verschleppten und Toten zu erinnern ist verboten. Selbst der Gedenktag an die Deportation der Tschetschen_innen unter Stalin, bei der rund ein Drittel der Bevölkerung (mehr als 400.000 Menschen) zwangsumgesiedelt wurde, ist seit 2014 verboten.

Nach außen legitimiert Kadyrows Regime Gewalt gegen die Bevölkerung stets als Kampf gegen den Terrorismus. Dass Kadyrow damit dasselbe Narrativ bedient, mit dem zuvor die russische Regierung die entfesselte Gewalt gegen die Zivilbevölkerung begründete, ist so zynisch wie effektiv. Denn in der Post-9/11-Ära verleiht keine andere Erzählung staatlichem Gewalthandeln eine solche Legitimität wie der Kampf gegen islamistischen Terrorismus.

Dabei lag in Tschetschenien ähnlich wie im Kaschmir oder in den Philippinen der Ursprung des Konfliktes zwischen Regierung und Bevölkerung im Ringen um Selbstbestimmung und soziale und ökonomische Rechte. Und auch in Tschetschenien wirkte die russische Regierung entscheidend daran mit, die islamistische Bewegung zu erschaffen, die zu bekämpfen sie vorgibt. Im zweiten Tschetschenienkrieg vernichtete Russland fast jeden säkularen Widerstand oder trieb ihn ins Exil. Die Reste der Opposition im Land waren isoliert und brauchten Verbündete. Unterstützung kam nur von islamistischen Gruppen im Ausland. Junge Menschen, die angesichts einer aussichtslosen Lage mit dem islamistischen Widerstand sympathisierten, gab es nach Jahrzehnten der Unterdrückung genug.

Der Regierung in Moskau kam die zunehmende Islamisierung des Widerstands entgegen: Das Label der Terrorismusbekämpfung immunisierte gegen internationale Kritik an Menschenrechtsverletzungen. Doch das Antiterrornarrativ in Tschetschenien half nicht nur bei internationaler Anerkennung, es dient heute auch handfesten finanziellen Interessen von Präsident Kadyrow. Denn die totalitäre Überwachung, die paramilitärischen Einheiten und der Bau bombastischer Prestigebauten wären ohne massive Zahlungen aus Russland nicht zu finanzieren. Zumal die Republik trotz Erdölvorkommen zu den ärmsten Teilen der russischen Föderation gehört, mit einer Arbeitslosenquote von 40 Prozent und einem Haushalt, der bis zu 80 Prozent von Moskau alimentiert wird.

Solange Kadyrows Einheiten im russischen Antiterrorkampf (und inzwischen auch in den russischen Einheiten in Syrien) eine so zentrale Bedeutung zukommt, finanziert Putin den aufgeblähten Sicherheitsapparat der Republik mit großen Summen. »Deswegen braucht das Regime immer wieder neue Terroristen, die es verhaften kann. Für diese Summen werden sie weiterhin Terroristen ausfindig machen, egal, ob es noch welche gibt. Deswegen verschwinden immer wieder Menschen.« So fasst es eine tschetschenische Oppositionelle gegenüber der Journalistin Loizeu zusammen.

Deutsch-russische Kooperationen

All das wird in deutschen Medien im Diskurs über tschetschenische Gefluchtete und ihren Anspruch auf Asyl weitestgehend ausgeblendet. Von Gerüchten in Tschetschenien über deutsches »Willkommensgeld« ist stattdessen die Rede und von der Notwendigkeit, »finanzielle Anreize« zu senken.

Rassistische Polizeigewalt in Deutschland betrifft nicht nur Geflüchtete aus Tschetschenien. (ak 642) Das Zusammenspiel von Ausländer- und Sicherheitsbehörden erreicht bei der Kriminalisierung von Tschetschen_innen jedoch eine besondere Qualität. Seit 2014 beschreiben Polizei, Verfassungsschutz und Ausländerbehörden Tschetschen_innen immer häufiger als wahlweise islamistische oder kriminelle »Gefährder«. Viele Medien greifen diese Erzählung gern auf und präsentieren sie wieder und wieder. Auch »Tschetschenien-Experten« erfreuen sich wachsender Beliebtheit, klären über archaische Ehrbegriffe auf und füttern den Diskurs über als Geflüchtete getarnte islamistische Gefährder mit populärwissenschaftlichen Erkenntnissen. (4) So verfestigte sich im öffentlichen Bewusstsein das Bild einer diffusen Bedrohung durch »die Tschetschenen«.

Wie Informationen des russischen Geheimdienstes über vermeintliche Islamisten aus Tschetschenien in Deutschland verwertet werden, wird in den meisten Beiträgen nicht thematisiert. Renata Nasseri ist eine der wenigen Journalist_innen, die hinter die Kulissen des Antiterrornarratives schaut und aufzeigt, wie russische und deutsche Geheimdienste zusammenarbeiten, wenn es um den Umgang mit tschetschenischen Geflüchteten geht. (5) Während das Interesse Ersterer die Kriminalisierung und Auslieferung aller Oppositionellen ist, sind die deutschen Behörden unverblümt daran interessiert, möglichst viele Antragssteller_innen wieder abzuschieben.

Wie das konkret funktioniert, illustriert Nasseri am Fall des Ehepaars A. Akuyewa und S. Baisagurow. Deren Asylantrag wurde trotz nachgewiesener Folter und Verfolgung abgelehnt, als die russische Regierung einen internationalen Haftbefehl gegen die damals schwangere Akuyewa erließ. Das BAMF erklärte daraufhin die Verfolgungsgeschichte der beiden nachträglich für unglaubwürdig. Dabei hatte dieselbe Behörde noch vor wenigen Jahren im »Entscheiderbrief« eingeräumt, dass trotz des offiziellen Kriegsendes außergerichtliche Tötungen, Entführungen, Übergriffe auf Journalist_innen und Menschenrechtsverteidiger_innen, mangelhafte Strafverfolgung, als auch Kampfhandlungen und Anschläge an der Tagesordnung seien. Dass sich seither an der Lage nichts geändert hat, bestätigte das Auswärtige Amt in einem internen Papier von 2017. Ungeachtet dessen liegt die Schutzquote für Geflüchtete aus Tschetschenien heute nur noch bei 4,7 Prozent. 2013 war noch knapp jeder fünfte Antrag positiv beschieden worden.

Im Bemühen, möglichst hohe »Rückführungsquoten« zu erzielen, ist inzwischen offenbar fast alles erlaubt. Noch perfidere Züge nahm die Zusammenarbeit mit russischen Behörden im Fall von Adam Albakov an. Albakov, der bereits in Polen aufgrund seiner nachgewiesenen Verfolgungsgeschichte anerkannt worden war, wurde 2017 trotzdem auf Ersuchen Russlands von Deutschland ausgeliefert. Der fingierte Vorwurf hätte selbst die deutsche Polizei aufhorchen lassen müssen, denn vorgeworfen wurde dem jungen Mann eine Tat, die er nicht begannen haben konnte, da er zu diesem Zeitpunkt bereits in Polen lebte.

Auch bei der Verfolgung mutmaßlicher Terroristen scheinen deutsche Behörden auf Informationen aus Russland zurückzugreifen. Nach mehreren Großrazzien bei mutmaßlichen tschetschenischen Islamisten, denen jedoch in vielen Fällen keinerlei Anklageschriften vorgelegt wurden, befürchten betroffene Tschetschen_innen in Thüringen nun, ihre Namen seien durch Hinweise des russischen Geheimdienstes in deutsche Gefährderlisten geraten. Die Staatsanwaltschaft in Gera, die eineinhalb Jahre später noch immer keine Anklageschrift vorlegen will, bestreitet dies. Allerdings arbeite man mit dem russischen Geheimdienst zum Zweck der Informationsgewinnung zusammen.

Der Umgang von Politik und Behörden mit der tschetschenischen Community in Brandenburg zeigt, wie migrationspolitische Fragen in den Bereich der Sicherheitspolitik verschoben werden, indem Geflüchtete als - potenziell »radikalisierte« - Muslime markiert und zu Gefährdern erklärt werden. In einem Klima, in dem Politiker_innen von der Linkspartei bis zur CSU versuchen, der AfD rechts das Wasser abzugraben, entsteht ein Zugzwang, Wehrhaftigkeit gegen »Asylbetrug« und die vermeintliche Bedrohung der öffentlichen Sicherheit zu suggerieren. Im Umgang mit tschetschenischen Geflüchteten können gleich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen, Islamismus und »Asyltourismus« gleichermaßen ins Visier genommen werden. Das kommt auch dem Bemühen der in Cottbus regierenden CDU entgegen, sich als Hardliner zu inszenieren.

Am Fall der tschetschenischen Community in Brandenburg wird deutlich, welche Konsequenzen die Zusammenarbeit deutscher Behörden mit repressiven Regimen im Namen der Terrorismusbekämpfung hat. Hier zeigt sich, was künftig auch an anderen geflüchteten Gruppen vollzogen werden könnte. Umso wichtiger ist es, die Forderungen der Betroffenen in Cottbus solidarisch zu unterstützen. In einem offenen Brief an die Stadt Cottbus und den Innenminister Brandenburgs vom 1. Juli 2018 schreiben sie: »Wir fordern Sie auf, Asylpolitik und Sicherheitspolitik nicht miteinander zu vermischen. (...) Wir fordern weiterhin, dass die Polizei aufhört, die Daten an die Ausländerbehörde zu übermitteln, ohne dass es eine Verurteilung gibt. Wir sehen das überzogene Handeln der Polizei als Strategie, Abschiebegründe bewusst zu produzieren!«

Mariam Puvogel Chakib schrieb in ak 631 über die Instrumentalisierung von Antisemitismus in Berlin im Kontext rassistischer Zuschreibungen.

* Name geändert.

Anmerkungen:

1) Zahlen zu tschetschenischen Geflüchteten beruhen auf Schätzungen. Im August 2017 sprachen offizielle Zahlen von rund 9.733 Geflüchteten aus der Russischen Föderation in Brandenburg. Hierunter können jedoch auch Menschen aus Dagestan und Inguschetien sein. 2017 wurden 592 Erstanträge von Bürger_innen der Russischen Föderation gestellt.

2) »Tschetschenen nach Prügeleien abgeschoben«, titelte die Lausitzer Rundschau in ihrer Online-Ausgabe vom 22. November 2018.

3) Das gab sogar der Focus zu, der jedoch diesen Hinweis auf die politische Verfolgung tschetschenischer Bürger_innen zu einer »doppelten Unterwanderung« Brandenburgs umdeutete, das nun von Islamisten und Regimespionen heimgesucht werde (Artikel »Tschetschenen haben Brandenburgs islamistische Szene übernommen« am 2.11.2017 auf focus.de).

4) Etwa der Tschetschenien-Experte Christian Osthold, den das Magazin Focus Ende August ausgiebig seine fragwürdigen Thesen ausbreiten lässt (Artikel »Islamismus-Experte: Tschetschenen dominieren die deutsche Salafisten-Szene« am 24.8.2018 auf focus.de).

5) Renata Nasseri: »In Kadyrows Schatten. Das prekäre Exil tschetschenischer Flüchtlinge in Deutschland«, Deutschlandfunk 2018. Erstsendung: Dienstag, 20. März 2018, 19.15 Uhr.