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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 645 / 15.1.2019

»Das Agrarsystem ist völlig zusammengebrochen«

International Die Aktivistin Ulka Mahajan über den Massenprotest von indischen Bäuer_innen und Landarbeiter_innen

Interview: Line Fleig

Am 29. Dezember 2018 übernahmen Bäuerinnen, Bauern und Landarbeiter_innen aus ganz Indien mehrere Stadtteile von New Delhi. An der Belagerung der Parlamentsstraße am folgenden Tag beteiligten sich rund 100.000 Menschen. Ulka Mahajan ist in der Sarvahara Jan Andolan aktiv, einer soziale Bewegung, die für die Rechte von Adivasi (indigenen) und bäuerlichen Communities in dem an Mumbai angrenzenden Distrikt Raigad kämpft. Sie beteiligte sich an den Protesten. Line Fleig traf Mahajan im Dezember 2018 und sprach mit ihr über die Aktion und die Hintergründe der drei zentralen Forderungen der Mobilisierung (Schuldenschnitt, parlamentarische Sondersitzung, Erhöhung der Mindest-Unterstützungspreise).

Wie kam es zu dieser Massenprotestaktion?

Ulka Mahajan: Die Mobilisierung war vor allem von bäuerlichen Bewegungen und Organisationen ausgegangen, von denen einige mit politischen Parteien verbunden sind. Dem Aufruf waren Bäuerinnen und Bauern aus allen indischen Bundesstaaten gefolgt. Wir protestierten unter dem Banner des All India Kisan Sangharsh Coordination Committee, einem Bündnis an dem sich mehr als 200 bäuerliche Organisationen aus dem ganzen Land beteiligten. In allen Bundesstaaten hatte es vorbereitende Kundgebungen und zahlreiche öffentliche Versammlungen zur Mobilisierung gegeben. Das Ziel: eine breitere Öffentlichkeit über die Probleme der Bäuerinnen und Bauern zu informieren. In Indien kann die bäuerliche Bewegung auf eine lange Tradition zurückblicken. Aber für längere Zeit war sie gespalten. In den letzten zwei, drei Jahren haben die Organisationen begonnen, sich wieder zusammenzuschließen.

Mit welchen Problemen hat die Bauernschaft zu kämpfen?

Es geht dabei vor allem um eine hohe Verschuldung und den schlechten Zugang zu institutionellem Kredit, die niedrigen Preise für die Erzeugnisse, die oft unter den Produktionskosten liegen, den schlechten Zugang zu qualitativ hochwertigem Saatgut und anderen Inputs wie Düngemitteln und den hohen Marktfluktuationen. Die Landarbeiter_innen kämpfen gegen zu niedrige Löhne.

Die Agrarkrise zeigt sich besonders deutlich in der hohen Suizidrate in der Bauernschaft. Als Antwort darauf wurde die Forderung nach einem Schuldenschnitt erhoben. Wie bewertest du das?

Die Suizide werden nicht aufhören, wenn es einen Schuldenschnitt gibt, sondern nur, wenn das Agrarsystem grundlegend verändert wird. Es darf nicht ignoriert werden, dass Kleinstproduzent_innen normalerweise nur Zugang zu informellen Krediten haben. Schuldenschnitte indes betreffen nur Kredite von Banken und anderen Finanzinstituten.

Wie viele Bäuerinnen und Bauern haben denn Suizid begangen?

Offiziellen Zahlen zufolge insgesamt 333.398 zwischen 1995 und 2016. Bis vor kurzem waren es ausschließlich Produzent_innen von Cash Crops und nur Männer. Das hat sich geändert. Die Regierung gibt vor, dass sie das Problem ernst nimmt. Vor einiger Zeit startete sie deshalb eine neue Initiative. Sie schickte Psychiater_innen und traditionelle Volkssänger_innen in Gebiete mit hohen Suizidraten, um das psychische Gleichgewicht der Communities zu fördern. Es ist jedoch keine Frage des psychischen Gleichgewichts. Es ist das gesamte System, das sein Gleichgewicht verloren hat. Das indische Agrarsystem ist völlig zusammengebrochen. Es ist ein sehr kritisches System, das an zahlreiche Politikfelder gekoppelt ist. Es geht darum, Bereiche wie Saatgut, Düngemittel, Pestizide, die Mindest-Unterstützungspreise (MSP), die Import- und Exportpolitik, Landnahmen, den Zugang zu Krediten und zu verschiedenen landwirtschaftlichen Förderprogrammen zu prüfen und neu zu bewerten.

Wurde deshalb eine parlamentarische Sondersitzung eingefordert?

Ja. Die Agitation wurde mit der Forderung nach einer 15-tägigen parlamentarischen Sondersitzung gestartet, die sich ausschließlich mit der Agrarkrise befassen soll. Es geht darum, die Agrarpolitik und jedes Gesetz, das die Landwirtschaft beeinflusst, zu hinterfragen.

Inwieweit war die besondere Situation von Bäuerinnen Thema bei dem Protest?

Es gibt das indienweit aufgestellte Bäuerinnen-Forum Mahila Kisan Adhikar Manch, das für die Rechte von Bäuerinnen kämpft. Während des Protestes hatte jedoch keine Bäuerin die Gelegenheit, auf der Hauptbühne zu sprechen. Immerhin sprachen dort Männer erstmals über die speziellen Belange von Bäuerinnen. Ein Schritt in die richtige Richtung, mehr aber nicht. Die indische Regierung meint, wenn sie von der Bauernschaft spricht, in der Regel nur Männer. Ihre patriarchale Haltung spiegelt sich in der Agrarpolitik wieder und zeigt sich auch in der Verwaltung. Im Fokus stehen Männer, obwohl Frauen mehr Zeit in die Landwirtschaft investieren. Bäuerinnen haben beispielsweise kaum Zugang zu institutionellen Krediten, die es für Landbesitzende - meist Männer - gibt, oder zu den staatlichen Programmen, die greifen, wenn das männliche Oberhaupt der Familie Suizid begangen hat. Die Agrarkrise ist komplex. In Debatten dazu wurden in der Regel die Probleme von Kleinstbäuerinnen und -bauern und der von ihnen abhängigen Communities ignoriert. Natürlich betreffen nicht alle Themen alle Teile der bäuerlichen Community gleichermaßen.

Dennoch war solch ein breites Bündnis möglich. Warum?

Es gibt Regierungsmaßnahmen, die alle bäuerlichen Communities betreffen, also auch landlose Communities, deren Lebensunterhalt indirekt mit der Landwirtschaft zusammenhängt.

Kannst du dafür ein Beispiel geben?

Dazu zählen beispielsweise die geplanten, massiven Landnahmen für Megaprojekte: riesige Industriekorridore, Investitionsregionen für die Petrochemie usw. Allein die geplanten Industriekorridore umfassen direkt oder indirekt 40 Prozent der Landmasse Indiens. Im Jahr 2013 hatte die vorherige Zentralregierung das Landenteignungsgesetz reformiert und den bäuerlichen Communities weitreichende Rechte zugesprochen. Sie konnten die Zustimmung zu Projekten verweigern. Die derzeit amtierende Zentralregierung weichte das Gesetz auf und hebelte dieses Recht bei Industriekorridoren aus. Auch verschiedene Bundesstaaten lockerten die Gesetze. Die Regierung gibt vor, diese Megaprojekte dienten der Entwicklung des Landes.

Und dem ist nicht so?

Unsere Erfahrung ist eine andere. Die Anzahl der neuen Arbeitsplätze ist gering, und deutlich mehr Menschen verlieren ihre Lebensgrundlage. Wir sind im Distrikt Raigad aktiv. Allein dort sind Menschen aus 78 Dörfern vom geplanten Delhi Mumbai Industrial Corridor betroffen. Neben den landbesitzenden Bäuerinnen und Bauern betrifft es auch Landarbeiter_innen, Besitzer_innen von Reismühlen, im Transportsektor Tätige usw. Ihnen allen droht der Verlust ihrer Lebensgrundlage. Derartige Landnahmen stellen zudem eine Bedrohung für Ernährungssicherheit und -souveränität dar.

Bei der dritten, zentralen Forderung des Protestes ging es um die Mindest-Unterstützungspreise. Diese erhalten Produzent_innen, wenn sie bestimmte Erzeugnisse an staatliche Sammelstellen abgeben. Was ist der Hintergrund dieser Forderung?

In Indien gibt es das staatliche Public Distribution System. Es soll den Zugang der Armen zu Nahrungsmitteln zu subventionierten Preisen und einen Pufferbestand an Nahrungsmitteln sicherstellen sowie den Erzeuger_innen der Nahrungsmittel Mindest-Unterstützungspreise für ihre Erzeugnisse garantieren. Es wird derzeit im »Food Security Act« geregelt. Verschiedene Industrieländer, darunter die Europäische Union, üben im Rahmen der Welthandelsorganisation (WTO) enormen Druck dagegen aus. Jüngst beugte sich die Regierung diesem Druck und entschied, das Gesetz abzuschaffen. Uns geht es nicht nur darum, es beizubehalten. Wir fordern seine Ausweitung. Das System sollte den Produzent_innen ein angemessenes Einkommen ermöglichen und Arme mit Lebensmitteln zu günstigen Preisen versorgen.

Wie reagierte die Regierung auf die Proteste?

Der Forderung nach einer parlamentarischen Sondersitzung ist die Zentralregierung bisher nicht nachgekommen. Es ist jedoch gelungen, eine starke politische Botschaft an die Regierung zu senden. Fast alle Oppositionsparteien kündigten an, die vorgebrachten Forderungen zu unterstützen. Bei Bundesstaatswahlen unmittelbar nach den Protesten verlor die führende Regierungspartei Bharatiya Janata Party die Macht. Kurz nach Amtsantritt reagierten die neuen Regierungen auf einige der gestellten Forderungen und kündigten beispielsweise Schuldenschnitte an. Der amtierenden Zentralregierung bleiben nur noch wenige Monate bis zu den nächsten Wahlen im Frühjahr 2019. Da alle Oppositionsparteien der Bauernschaft ihre Unterstützung zugesagt haben, herrscht enormer Druck, die Agrarpolitik zu debattieren und zu überdenken und eine umfassende Agrarwende einzuleiten.

Zum Weiterlesen:

Manifest des »All India Kisan Sangharsh Coordination Committee« vom 30.11.2018 unter: kisansabha.org

Das Bäuerinnen-Forum »Mahila Kisan Adhikar Manch«: makaam.in