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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 646 / 19.2.2019

Aufgeblättert

Aus dem Tritt geraten

Joscha Farnbach, Angestellter in einer Druckerei, weiß auf die Frage seiner Kollegin, was er am Wochenende mache, nur zu antworten: »Ausruhen, denke ich.« Symptomatisch für das »wie immer« dahinfließende Leben zwischen Lieferscheinen, Kantinenessen und dem freudlosen Zusammensein mit seiner Freundin. Aus dem Tritt gerät sein Leben, als Farnbach von seinem Chef aufgefordert wird, nach Augsburg zu reisen, um einen unzuverlässigen Lieferanten persönlich zur Räson zu bringen. Die Stadt seiner Jugendjahre beschwört eine Angst hervor, die sich zu Panikattacken auswächst. Der Unfalltod der Eltern ist nicht verwunden, ein traumatisches Erlebnis dort plagt ihn. Farnbach weigert sich mit eigenen Mitteln, der Anweisung des Chefs nachzukommen. Er nimmt den falschen Zug, wird krank. »Über Tage« ist das Romandebüt des 1977 geborenen Autors Andreas Lehmann. Seine Prosa ist fein, ruhig und präzise. Ein Kritiker erkannte in dem Roman Reminiszenzen an die sogenannte Angestelltenprosa der 1970er Jahre, etwa an die »Abschaffel«-Trilogie des im Dezember 2018 verstorbenen Büchner-Preisträgers Wilhelm Genazino. Das ist einerseits zutreffend, weil Lehmanns Darstellung des tristen Büroalltags in der Tat gelungen ist. Andererseits etwas übertrieben, da etliche Passagen des Romans aus Jugenderlebnissen Farnbachs bestehen. Unbestritten jedoch: Lehmann ist mit seinem Debüt ein Roman geglückt, dessen rätselhafte Atmosphäre in den Gedanken seiner Leser_innen noch länger nachwirkt.

Guido Speckmann

Andreas Lehmann: Über Tage. Roman. Karl-Rauch-Verlag, Düsseldorf 2018. 174 Seiten, 20 EUR.

Revolutionärinnen

Ohne die Geschichte der Frauen ist die Geschichte der deutschen Novemberrevolution 1919 unvollständig. Die Unvollständigkeit ist systematisch: »Diese Erinnerungsschwäche ... hängt mit einer symbolischen Ordnung zusammen, die über Jahrzehnte hinweg Vorstellungen von Geschlechtern reproduzierte«, schreibt Dania Alasti, die Autorin des lesenswerten Buches »Frauen in der Novemberrevolution«. Darin geht es um die geschlechtliche Struktur, die spezifische Handlungsweisen zur Folge hatte: »Beginnend mit Hungerkrawallen ab 1915 nahm die Zahl der Proteste, Großdemonstrationen, ökonomischen Streiks mit politischen Forderungen zu. Bei allen Formen des Protests waren Frauen in überwiegender Zahl vertreten.« Frauen spielten eine entscheidende Rolle, ohne ihre Aktionen hätte es gar keine Revolution gegeben. Andererseits gerieten sie schon früh in Vergessenheit. Auch deswegen ist die Novemberrevolution nicht der »Aufbruch«, der sie »hätte sein können«, schreibt die Autorin. Die Novemberrevolution war davon geprägt, dass sie eine Form hatte, die sich aus der Situation der Frauen ergab: doppelt ausgebeutet, für Produktion und Reproduktion zuständig, kaum organisiert oder von Parteien und Gewerkschaften repräsentiert. Mit aktuellen theoretischen und praktischen Bezügen gelingt es Dania Alasti, einen Bogen von der Novemberrevolution bis heute zu ziehen: »Kontinuität des Vergessens« heißt auch, dass die revolutionären Hoffnungen bis heute nicht erfüllt sind.

Torsten Bewernitz

Dania Alasti: Frauen der Novemberrevolution. Kontinuitäten des Vergessens. Unrast Verlag, Münster 2018. 130 Seiten, 12,80 EUR.

Feminismus

In 14 Beiträgen werden die wichtigsten Debatten in deutschsprachigen akademischen Auseinandersetzungen mit Feminismus und Marxismus präsentiert. Die Kategorien Sozialer Reproduktion und Sorgearbeit ziehen sich als roter Faden durch alle Beiträge und zeigen auf, warum feministische sowie marxistische Auseinandersetzungen mit dieser oft unsichtbar gemachten Sphäre notwendig für das Verstehen der Ökonomie als Ganzes sind. Einzelne Beiträge versuchen queer-feministische Kritik, Regulationstheorie sowie Staatskritik fruchtbar mit marxistischen Ansätzen zusammenzubringen. Dies gelingt schwer. Meist wird eine grundlegende Kritik an marxistischen Kategorien und/oder Theoremen vorgenommen, um dann zu zeigen, welche Teile für eine feministische Konzeptualisierung von Gesellschaft brauchbar sind. Dabei verfallen viele Autorinnen in liberal-feministische Marx-Rezeptionen oder nehmen die Interpretation bestimmter Marxist_innen als stellvertretend für den Marxismus an. Dass marxistisch-feministische Wissensproduktion eine eigene, lange Tradition hat, die weit über Europa und die USA hinausgeht, bleibt eigentlich unbeachtet. Auch verwenden viele Autorinnen unkritisch Annahmen der Intersektionalitätstheorie, ohne diese marxistisch-feministisch aufzuschlüsseln. Diese Gleichsetzung der Kategorie Klasse mit Kategorien wie Geschlecht, »Rasse« oder Staatsangehörigkeit führt in der Praxis in Sackgassen der Identitätspolitik. Trotzdem ist der Sammelband spannend und lesenswert.

Eleonora Roldán Mendívil

Alexandra Scheele und Stefanie Wöhl (Hg.): Feminismus und Marxismus. Beltz Juventa, Weinheim 2018. 249 Seiten, 29,95 EUR.

Rosa Luxemburg

Fast 700 Seiten umfasst die Biografie, die der Historiker Ernst Piper zum 100. Todestag der großen Revolutionärin vorgelegt hat. Hinzu kommen mehr als 100 Seiten Anmerkungen, Bibliografie und Namensregister. Trotz seines Umfangs ist das Buch sehr gut lesbar: Der Autor schreibt anschaulich und nicht ohne Humor. Seine Sympathie für Rosa Luxemburg verhehlt er nicht: Er finde sie »bis heute faszinierend«, sei aber »deshalb noch lange kein Anhänger der Idee der Diktatur des Proletariats«. Seine Darstellung des »Privaten« ist empathisch, nicht voyeuristisch. Rosa Luxemburgs schwierige Beziehung zu ihrem langjährigen Geliebten Leo Jogiches wird ebenso plastisch erzählt wie ihre Freundschaften zu Clara Zetkin, Mathilde Jacob und etlichen anderen starken Frauen. In den im engeren Sinne »politischen« Teilen seines Buches erweist sich der Autor als Kenner der Materie. So macht er die erbitterten Debatten nachvollziehbar, die in der SPD um den von Rosa Luxemburg propagierten Massenstreik geführt wurden. Dass sie im Streit der Fraktionen viel einstecken musste, aber auch austeilen konnte, wird immer wieder deutlich - bis in ihre letzten Lebenstage. Zu Recht kritisiert Piper das Taktieren der neu gegründeten KPD, Rosa Luxemburg eingeschlossen, während des Januaraufstandes 1919. Weniger überzeugt seine relativ zurückhaltende Kritik an der SPD, namentlich Friedrich Ebert. Hier würde man sich ein bisschen mehr vom politischen Furor seiner Heldin wünschen.

Jens Renner

Ernst Piper: Rosa Luxemburg. Ein Leben. Karl Blessing Verlag, München 2018. 832 Seiten, 25 EUR.