Die dritte Welle des Feminismus
8.März Von Frauenstreiks zu einer neuen Klassenbewegung
Von Cinzia Arruzza
Am 23. Oktober 2018 begannen Tausende Reinigungsarbeiter_innen in Glasgow eine Gewerkschaftsdemonstration für gleichen Lohn mit einer Schweigeminute in Gedenken an all jene Arbeiterinnen, die gestorben sind, ohne zu erleben, dass ihre Arbeit endlich den gleichen Wert wie die ihrer männlichen Kollegen erhält. Lohngleichheit: ein einleuchtendes, fast triviales Ziel - und doch so schwer zu erreichen. Das Weltwirtschaftsforum hat auf Basis der aktuellen Entwicklung berechnet, dass es noch mindestens 217 Jahre dauern wird, bis das Lohngefälle zwischen Frauen und Männern weltweit überwunden ist.
Eine Woche nach dem Streik in Glasgow verließen Tausende Google-Mitarbeiter_innen von Tokio bis New York ihre Arbeitsplätze und gingen auf die Straße. Sie protestierten gegen Fälle sexueller Belästigung durch Manager des Tech-Konzerns, die anschießend vertuscht worden waren. Google trägt wie andere Riesen der Digitalwirtschaft seit Jahren die Maske des progressiven Kapitalismus: ein Arbeitgeber, der Frauen und Männer ausbeutet, das ja, aber ohne Frauen, trans, schwule oder lesbische Mitarbeiter_innen zu diskriminieren. Und einer, der sogar die Kosten für das Einfrieren von Eizellen und für künstliche Befruchtung übernimmt. Der Protest beschränkte sich jedoch nicht auf Fälle sexueller Belästigung am Arbeitsplatz; er brachte eine Reihe von Forderungen zum Ausdruck, unter anderem auch die nach gewerkschaftlichen Rechten.
Diese beiden Kämpfe sind nur die jüngsten in einer langen Reihe von Streiks mit Frauen als Protagonistinnen: von den internationalen Streiks am 8. März bis hin zu denen der Hotel- und Bildungsarbeiter_innen in den USA. Sie stellen uns vor ein Dilemma. Wovon reden wir, wenn wir von Frauenstreiks reden? Haben wir es mit Klassenkampf zu tun - oder mit einer neuen Welle des Feminismus?
Die dritte feministische Welle
Nach mehr als zwei Jahren ist klar, dass wir uns mitten in einer neuen feministischen Welle befinden: Schon zweimal gab es transnationale Streiks am Internationalen Frauentag. Letzten Sommer fegte eine Welle von Besetzungen und Streiks gegen Belästigung und sexuelle Gewalt über Schulen und Universitäten in Chile hinweg, und in Brasilien trat der Hashtag #EleNao feministische Massenproteste gegen den Wahlsieg von Jair Bolsonaro los. Diese Welle feministischer Proteste hat unterschiedliche politische und geografische Schwerpunkte, hat aber überall Themen wie sexistische Gewalt, Lohnungleichheit, reproduktive Rechte und reproduktive Arbeit von Frauen sowie sexuelle Freiheiten in den Mittelpunkt der Debatte gerückt.
Der Einsatz digitaler Technologien und sozialer Medien hat enorm zum transnationalen Charakter der Bewegung beigetragen und nicht nur die Koordination der Kämpfe, sondern auch die Verbreitung von Ideen, Slogans, Analysen und Informationen gefördert. Aber vor allem ist es die Form des Streiks, die die wichtigste Neuerung gegenüber früheren Wellen des Feminismus darstellt. (1) Nicht nur, weil der Streik die Frauenarbeit und die Rolle der Frau in der gesellschaftlichen Reproduktion in den Mittelpunkt der Debatte gerückt hat. Sondern weil er zum Hauptmotor eines Subjektivierungsprozesses geworden ist, durch den eine neue antikapitalistische feministische Subjektivität entsteht, die dem liberalen Feminismus, der in der Bewegung auch präsent ist, kritisch gegenüber steht.
Die potenziellen Folgen dieses Prozesses zeigen sich am deutlichsten, wenn man den grundlegenden Unterschied zwischen dieser Welle und den ersten beiden berücksichtigt. Die erste feministische Welle - Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts - spielte sich grob gesagt im Rahmen der entstehenden Arbeiterbewegung ab. Innerhalb dieses historischen Prozesses der Massenpolitisierung und des Eintritts der Arbeiterklasse in die Politik forderte sie die volle Verwirklichung des universalistischen Versprechens, das sowohl dem demokratischen Liberalismus als auch dem Sozialismus eigen ist, indem sie rund um das Motto der Gleichheit agitierte: gleiche Fähigkeiten, gleiche Rechte.
Die zweite feministische Welle war in einen anderen Prozess der Klassensubjektivierung eingebettet, in das Entstehen der Neuen Linken in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern und die Welle antikolonialer und nationaler Befreiungskämpfe. Innerhalb dieses Prozesses übernahm sie das dem Schwarzen Nationalismus entlehnte Schlagwort der Differenz, um den Sexismus in der Gesellschaft und in der Bewegung anzuprangern und einem spezifischen Anliegen Ausdruck und Sichtbarkeit zu verleihen, das allzu unter den Teppich gekehrt wurde.
Der Kontext der dritten Welle des Feminismus ist ein radikal anderer. Dem Aufstieg der neuen feministischen Bewegung gingen natürlich ebenfalls Mobilisierungen voraus, insbesondere die Kämpfe der Jahre 2011-2013 (Occupy, die spanischen Indignados, die Besetzung des Taksim-Platzes in Istanbul). Von diesen hat sie einige Merkmale geerbt, etwa die Unabhängigkeit von allen Parteien und Organisationen der traditionellen Linken oder das hohe Tempo, mit dem sich bestimmte, partielle Anliegen - die Empörung über Feminizide und den Angriff auf das Recht auf Abtreibung - in eine allgemeine Kritik an der kapitalistischen Produktionsweise und ihren staatlichen Institutionen verwandelt haben. Zugleich hat sie einen entscheidenden Schritt nach vorn getan, indem sie den Streik als ihre wichtigste Kampfform und ihre politische Identität wiederentdeckt hat. Die Frauenstreiks machen die feministische Bewegung zum internationalen Prozess der Klassenbildung dieser Epoche.
Was ist Klasse?
Die marxistische Tradition wird von einem Paradox heimgesucht. Einerseits ist der Begriff des Klassenkampfes für den Marxismus ein grundlegendes Instrument zum Verständnis des Kapitalismus. Andererseits ist die Frage, was genau eine Klasse ist, vielleicht die kontroverseste und unklarste innerhalb der marxistischen Debatte wie auch in den Marxschen Schriften selbst. Bei Marx bezeichnet Klasse mal eine metaphysische Einheit oder ein Moment der Geschichtsphilosophie (das Proletariat als Totengräber der bürgerlichen Gesellschaft). An anderen Stellen bestimmt Marx die industrielle Arbeiterklasse auf Basis soziologischer und ökonomischer Kriterien. In »Das Elend der Philosophie« findet sich Marx' berühmte Unterscheidung zwischen »Klasse an sich« und »Klasse für sich«, auch wenn sie nur angedeutet und keineswegs klar ausformuliert ist.
Diese Unklarheiten haben in der marxistischen Debatte zu unterschiedlichen Theorien geführt. Schematisch lassen sich drei Hauptansätze unterscheiden: objektivistische oder soziologische, metaphysische (wobei »Klasse« eine abstrakte Kategorie ist, die das Subjekt einer fortschrittlichen Geschichtsphilosophie bezeichnet) und politische. Um zu verstehen, warum die neue feministische Bewegung als ein Prozess der Klassensubjektivierung verstanden werden sollte, ist ein Blick auf den letztgenannten Ansatz notwendig.
Für den Marxisten und Historiker E.P. Thompson ist »Klasse« zuallererst eine historische Kategorie, die von der empirischen Beobachtung individueller und kollektiver Handlungen ausgehen muss - Handlungen, die im Laufe der Zeit einen Klassencharakter ausdrücken und Klasseninstitutionen (Gewerkschaften, Parteien, Verbände usw.) hervorbringen. (2) Der Begriff der Klasse ist demnach dynamisch und bezieht sich auf einen historischen Prozess, kann also nicht auf eine soziologische Definition entlang statistischer Kriterien reduziert werden. So betrachtet ist die Bestimmung der Arbeiterklasse als die Gesamtheit aller Lohnarbeiter_innen oder all jener Menschen, die, ob angestellt oder nicht, keine anderen Ressourcen haben als den Verkauf ihrer Arbeitskraft, wenn auch nicht falsch, so doch abstrakt und unvollständig. Wenn Definitionen dieser Art als vollständige Definitionen betrachtet werden, führen sie zu analytischen Missverständnissen und folgenreichen politischen Fehlern. Im Gegenteil ist Klasse für Thompson der Endpunkt, nicht der Ausgangspunkt ihres Formierungsprozesses. Anders: Klasse ist nicht die Voraussetzung, sondern das Produkt des Klassenkampfes.
Wenn Klasse das historische und dynamische Produkt des Klassenkampfes ist, bleibt aber zu klären, wie der Prozess der Entstehung von Klasse (im Klassenkampf) mit der Position sozialer Gruppen in den kapitalistischen Produktionsverhältnissen zusammenhängt. Die Produktionsverhältnisse strukturieren die Gesellschaft, indem sie Individuen in das versetzen, was die marxistische Historikerin Ellen Meiksins Wood »Klassensituationen« nennt. (3)
Im Falle von Arbeiterklassensituationen sind hier die Enteignung und Trennung von den Produktionsmitteln (Proletarisierung), die Abpressung von Mehrwert durch Lohnarbeit sowie die historisch spezifischen Arbeitsprozesse, Arbeitsteilungen usw. zu nennen.
In eine »Klassensituation« versetzt zu werden, bedeutet jedoch nicht automatisch, zu einer Klasse zu gehören. Tatsächlich präsentieren sich Klassenverhältnisse denjenigen, die sie erleben, nie auf unmittelbare Weise. So schreibt Wood, dass die Fabrikarbeit die Arbeiter_innen nicht zu einer Klasse zusammensetzt, sondern zu einer bestimmten Produktionseinheit: Was Arbeiter_innen direkt erleben, ist ihre Ausbeutung an einem bestimmten Arbeitsplatz, nicht Klassenbeziehungen im Allgemeinen. Natürlich schafft ihre Anordnung innerhalb der Produktionsverhältnisse die Voraussetzungen dafür, dass sich die in einer Produktionseinheit versammelten Arbeiter_innen als Teil einer größeren Einheit erfahren können - mit den Arbeiter_innen anderer Produktionseinheiten im selben Gebiet, im selben Land oder weltweit. Aber diese übergeordnete Einheit ist das Produkt eines historischen Prozesses, den Wood »Klassenbildung« nennt. Damit sich Individuen, die sich in »Klassensituationen« befinden, als Klasse konstituieren können, müssen sie als Klasse kämpfen, sie müssen den Antagonismus zu anderen Klassen erleben.
Dieser theoretische Ansatz hat immense politische Konsequenzen. Wenn Klasse das Ergebnis eines historischen Prozesses der Selbstkonstituierung durch Klassenkampf ist, besteht einer der schlimmsten politischen Fehler darin, mit vorgefertigten, abstrakten Modellen an die Frage heranzugehen, was als Klassenkampf gilt und was nicht. Tatsächlich besteht die Gefahr, dass wir der nostalgischen Sehnsucht nach den Formen und Erfahrungen der Vergangenheit nachhängen (oder unseren Imaginationen davon), statt die Prozesse der Klassensubjektivierung zu erkennen, die vor unserer Nase stattfinden.
Die neue Klasse: feministisch und antirassistisch
Die überwiegende Mehrheit der Theorien und politischen Strategien der Arbeiterbewegung ist von der Vorstellung geprägt, dass es auf der einen Seite den Klassenkampf gibt, auf der anderen Seite die Frauenbewegung, ökologische Bewegungen, antirassistische Bewegungen und so weiter. Hier stellte sich bestenfalls die Frage, wie man die Bewegungen miteinander verbinden könnte; schlimmstenfalls wurde den verschiedenen »partiellen« Bewegungen vorgeworfen, die Klasse zu spalten, liberale Tendenzen auszudrücken oder von der eigentlich zentralen Frage der Ausbeutung abzulenken. Die neue feministische Welle bietet die Möglichkeit, diese Sackgasse zu überwinden, denn sie verwischt mehr noch als frühere Wellen die (realen und imaginären) Grenzen zwischen Klassenkampf und feministischer Bewegung.
Um auf die Beispiele von Glasgow und Google zurückzukommen: Die Schwierigkeit bei der Beantwortung der Ausgangsfrage - ist es Klassenkampf oder Feminismus? - besteht darin, dass die Frage falsch ist. Diese Streiks, ebenso wie die transnationalen Streiks vom 8. März, sind feministische Klassenkämpfe.
Die feministische Bewegung wird mehr und mehr zu einem Formierungsprozess einer Klassensubjektivität mit spezifischen Merkmalen: von Beginn an antiliberal, internationalistisch, antirassistisch, klar feministisch und tendenziell antikapitalistisch. Natürlich ist dieser Prozess nicht in jedem Land gleich, in einigen Ländern ist er definitiv weiter fortgeschritten als in anderen. Und doch, wenn wir die Bewegung insgesamt betrachten, ist es dieser Aspekt, der ihre größte Neuerung darstellt und die interessantesten Möglichkeiten verkörpert. Die Realisierung dieses Potenzials erfordert vor allem die Fähigkeit der Bewegung, über sich selbst nachzudenken und damit strategisch auf der gleichen Ebene zu denken, auf der sie sich bereits durch ihre Praxis positioniert hat: der einer antisystemischen Bewegung auf globaler Ebene.
Cinzia Arruzza ist Mitglied des Redaktionskollektivs des Viewpoint Magazine und Professorin für Philosophie an der New School for Social Research in New York sowie feministische und sozialistische Aktivistin. Sie ist Autorin des Buches »Dangerous Liaisons: The Marriages and Divorces of Marxism and Feminism.«
Die englische Originalfassung des Artikels erschien unter dem Titel »From Women's Strikes to a New Class Movement: The Third Feminist Wave« am 3. Dezember 2018 im Viewpoint Magazine. Dies ist eine gekürzte und redaktionell bearbeitete Version. Übersetzung: Jan Ole Arps
Anmerkungen:
1) In der englischen Langfassung des Textes unterscheidet die Autorin die aktuelle, »dritte« Welle des Feminismus von der ersten um die Jahrhundertwende und der zweiten der 1960er und 1970er Jahre. Die landläufig als dritte Welle des Feminismus bezeichnete Bewegung der 1990er und frühen 2000er Jahre nimmt sie von dieser Chronologie aus, da sie vornehmlich in der Theorie und an den Universitäten stattgefunden habe, nicht in massenhaften sozialen Mobilisierungen verwurzelt sei. Allerdings sei die aktuelle feministische Bewegung stark von der Queer- und Trans-Theorie und den Analysen der Intersektionalität beeinflusst.
2) E.P. Thompson: Die englische Gesellschaft im 18. Jahrhundert: Klassenkampf ohne Klasse, in: Ders.: Plebejische Kultur und moralische Ökonomie, Frankfurt 1980, Seiten 246-288.
3) Ellen Meiksins Wood: The Politics of Theory and the Concept of Class: E.P. Thompson and his Critics, in: Political Economy 9 (1982): Seiten 45-75.
Gegen »Arbeitsreform« und Femizide
In Peru rufen unterschiedliche Kollektive zu Aktionen, Protest und auch zum Streik am 8. März im ganzen Land auf. Aufgegriffen wird die Tatsache, dass prekäre Lohnarbeit und die sozioökonomische Ungleichheit immer noch Frauen am stärksten trifft. Über 1,5 Millionen Menschen sind Analphabet_innen. Die Zahl der Analphabetinnen ist insbesondere in ländlichen Regionen hoch. Zudem steigt die Rate der Femizide an Frauen aus der Arbeiterklasse. Knapp jeden dritten Tag wird eine Frau von ihrem Partner oder Ex-Partner getötet, täglich werden um die 350 Fälle von häuslicher und/oder sexualisierter Gewalt angezeigt.
Vonseiten der organisierten Arbeiterbewegung wird die neue »Arbeitsreform« angegriffen, die zentrale Errungenschaften für Arbeiter_innen kappen will. Die Organisierung der Belegschaft in Gewerkschaften soll geschwächt und die Arbeit flexibilisiert werden. So soll beispielsweise die Zahl der bezahlten Urlaubstage auf 22 gekürzt und der Kündigungsschutz gelockert werden. Dieses Thema wird auf den zentralen Kundgebungen und Protesten am 8. März präsent sein. In Lima ist eine große Mobilisierung ins Zentrum der Stadt geplant. Die »Coordinadora 8M« hat einen Demonstrationszug durch die Innenstadt und zum peruanischen Parlament angekündigt. Hierzu rufen Organisationen, Gewerkschaften, Parteien, Nachbarschaftskollektive und Einzelpersonen auf. Nach zwei Jahrzehnten der Gleichsetzung von Sozialismus mit dem Leuchtenden Pfad gründen sich wieder vermehrt sozialistische Frauenkollektive; sie wollen die Kämpfe für materielle Verbesserungen mit denen für das Recht auf kostenlose und sichere Abtreibungen, die in Peru weiterhin verboten sind, zusammenführen. Ein Streik ist für 2019 noch nicht geplant - wird aber für 2020 diskutiert.
Eleonora Roldán Mendívil
Gegen sexualisierte Gewalt und Repression
Dass in Indien sexuelle Belästigung und sexualisierte Gewalt gegen Frauen ein weit verbreitetes Phänomen ist, ist mittlerweile international bekannt - nicht jedoch das tatsächliche Ausmaß und die verschiedenen Facetten davon. Mehrfach gelang es Teilen der indischen Frauenbewegung, dagegen vorzugehen und beachtliche Teilerfolge zu erzielen. Das zeigte jüngst die Kampagne unter dem Hashtag #metooindia. Angestoßen und getragen von Frauen aus der Mittelklasse und Oberschicht erfasste diese innerhalb von nur wenigen Wochen alle Bereiche des öffentlichen Lebens - von der Filmindustrie über Politik, Verwaltung und Sport bis hin zu vermeintlich progressiven NGOs. Zahlreiche Männer, zum Teil in Top-Positionen tätig, sahen sich gezwungen, ihre Posten zu räumen, einige von ihnen sind mit Strafverfolgung konfrontiert.
Frauen in besonders prekären Arbeitsverhältnissen - also Arbeiterinnen aus marginalisierten Communities - umfasst diese Bewegung bisher jedoch kaum. Wenn Frauen versuchen gegen Belästigung und Gewalt vorzugehen, sind die gesellschaftlichen Reaktionen darauf stark von ihrer Klassen- und Kastenzugehörigkeit abhängig - mit dem Vormarsch der rechtskonservativen Hindunationalist_innen gilt dies umso mehr. Deren Anhänger_innen, die mittlerweile Schlüsselpositionen in staatlichen Institutionen besetzen, legitimieren patriarchale Strukturen, indem sie Männern, die Gewalt gegen Frauen verüben, den Rücken stärken, sodass diese Straflosigkeit genießen. Hinzu kommt, dass staatliche Sicherheitskräfte selbst gezielt und systematisch sexualisierte Gewalt gegen Frauen als Waffe einsetzen, beispielsweise in den Krisenregionen Kaschmir sowie im Nordosten und in Teilen Zentralindiens im Zuge sogenannter Aufstandsbekämpfungsoffensiven. Teile der indischen Frauenbewegung wie die Organisation Women Against Sexual Violence and State Repression (wssnet.org) engagieren sich statt für selektive Skandalisierung von Gewalt gegen Frauen für klassen- und kastenübergreifende Solidarität und zeigen ihren strukturellen Charakter auf.
Line Fleig
Mit dem Staat gegen die Regierung
Am 4. Dezember 2018 streikten, demonstrierten und blockierten zehntausende Frauen in ganz Israel. Auslöser war die Ermordung zweier junger Frauen, 16 und 17 Jahre alt, mit denen die Zahl der 2018 verübten Femizide auf 24 anstieg. Vorausgegangen waren lange Versuche von Frauenorganisationen, die Aufmerksamkeit auf die Morde an Frauen zu lenken. Parallel zum Bekanntwerden der beiden Morde sprach sich die Regierung Netanjahu gegen die Gründung eines Untersuchungsausschusses zur Gewalt gegen Frauen aus und brachte eine Gesetzesinitiative zur Lockerung des Waffenrechts auf den Weg. Darauf folgte ein Aufschrei von größtenteils bisher nicht politisch aktiven Frauen.
Die Bewegung im Entstehen richtet sich nicht gegen den Staat, sondern vor allem gegen die Politik der Regierung. Yuval Ofer, Sprecherin des Israel Women's Network, misst den Aufschrei der tausenden Frauen nicht daran, wie links er ist, sondern betont, dass er sich einreiht in eine weltweite neue Frauenbewegung, die sich der politischen wie physischen und psychischen Unterdrückung durch Männer entgegenstellt.
Eine andere Aktivistin erläutert im persönlichen Gespräch: »In allererster Linie sprechen und handeln wir gemeinsam als Frauen - nicht als Jüdinnen oder Palästinenserinnen, Äthiopierinnen oder Russinnen, als alte oder junge Menschen.« Geplant wird derzeit eine Kampagne zu den anstehenden Parlamentswahlen im April mit dem Claim »Ich bin eine Frau, ich wähle«, der angelehnt ist an das Streikmotto vom Dezember 2018: »Ich bin eine Frau, ich streike«. Ziel, so die Aktivistin, ist es, Themen wie die ungenügende Repräsentation von Frauen im Parlament stärker auf die Agenda zu heben.
Hannah Eberle
Mit dem Women's Strike gegen Austerität
In Großbritannien rufen zwei breite Netzwerke zum Streik am 8. März auf. Die Women's Strike Assembly fordert Feminist_innen aller Geschlechter auf, sich dem Streik anzuschließen. In London wird es am 8. März von 10 bis 12 Uhr eine kostenlose Kinderbetreuung im Stadtbezirk Hackney geben, bei der alle Streikenden ihre Kinder abgeben können. Von 12 bis 18 Uhr treffen sich Feminist_innen in verschiedenen Community-Zentren in ganz London zum Reproduktionsstreik. Wie dieser genau aussehen wird, steht noch nicht fest. Von 16 bis 18 Uhr sind dezentrale direkte Aktionen in ganz England geplant. Von 18 bis 21 Uhr protestieren die Frauen in Cardiff in Wales, von 19 bis 21 Uhr werden Sexarbeiterinnen am Londoner Leicester Square protestieren. Der Streikaufruf des Netzwerks Global Women's Strike richtet sich vor allem an Mütter und hat den Titel »Die Verteidigung unserer Kinder und der Welt«. Sie konzentrieren sich auf die Verbindung von Frauenarmut und dem repressiven Jugendamt, das armen Müttern - oft nicht weiß, migrantisch, alleinerziehend und/oder Überlebende häuslicher Gewalt - die Kinder wegnimmt und diese meist gegen ihren Willen zur Adoption frei gibt.
Der Global Women's Strike und die Women's Strike Assembly betonen die gravierende Austeritätspolitik der konservativen Regierung, die vor allem ärmere Frauen trifft. Fünf Millionen Kinder leben in Großbritannien in Armut. Beide Netzwerke sprechen sich für die Entkriminalisierung von Sexarbeit aus. Der Global Women's Strike ruft daher für den 8. März zu einer Kundgebung auf, die von 12 bis 14 Uhr vor den Royal Courts of Justice, dem obersten zivilen Gerichtshof, stattfinden wird.
Fiona Roldán Clausen, Eleonora Roldán Mendívil
Frauen und LGBTIs im Fokus
Die feministische Bewegung in der Türkei hat sich in den letzten Monaten mit den Arbeiterinnen der Kosmetikfabrik des Konzerns Flormar im westtürkischen Gebze solidarisiert, die im Mai 2018 entlassen wurden, weil sie sich gewerkschaftlich organisiert hatten. Seitdem protestieren die Entlassenen jeden Tag vor den Werkstoren für ihre Wiedereinstellung. Arbeitsunfälle, Schwerstarbeit trotz Schwangerschaft, unbezahlte Überstunden und eine Verweigerung jeglicher Lohnerhöhungen gehörten in der Fabrik zum Alltag. Als die Unternehmensleitung erfuhr, dass die mehrheitlich weiblichen Arbeiter_innen sich in einer Gewerkschaft organisiert hatten, entließen sie innerhalb von wenigen Tagen 132 von ihnen. Ihre gewerkschaftliche Vertretung Petrol Is erkennt Flormar nicht an. Das Unternehmen für Kosmetikprodukte betreibt seine komplette Produktion in der Türkei und verkaufte 2012 51 Prozent seiner Firmenanteile an den französischen Konzern Yves Rocher. In Paris und Berlin protestierten Feminist_innen daher vor Yves-Rocher-Filialen.
Feministische Gruppen in der Türkei diskutieren über einen Aufruf zum feministischen Streik für 2020, zum 8. März 2019 finden wie jedes Jahr Demonstrationen in der ganzen Türkei und in Nordkurdistan statt. Am Valentinstag demonstrierten Aktivist_innen mit Slogans wie »Wir wollen keine Liebe, die tötet« und »Ohne Gleichheit keine Liebe«. LGBTI-Organisationen protestieren derzeit gegen das verhängte Verbot von Veranstaltungen zu queeren Themen in der Provinz Ankara.
In Istanbul trat die Feministin und Journalistin Ayse Düzkan Ende Januar ihre 18-monatige Haftstrafe wegen einer Solidaritätsaktion für die kurdische Zeitung Özgür Gündem an. In den kurdischen Gebieten finden laufend Festnahmen in den Reihen der linken Parteien HDP und DBP statt. Mitte Dezember 2018 traf es über 50 Frauen in Diyarbakir und Batman bei einer Hungerstreikaktion in Solidarität mit politischen Gefangenen, Ende Januar wurden 15 Lokalpolitikerinnen in Sirnak festgenommen.
Anfang Februar endete der Prozess gegen die ehemalige Bürgermeisterin von Diyarbakir Gültan Kisanak und die HDP-Abgeordnete Sebahat Tuncel mit einer Verurteilung zu Haftstrafen von 14 und 15 Jahren. Unterdessen setzt die Abgeordnete Leyla Güven auch nach ihrer Entlassung aus der Haft ihren über 100 Tage andauernden Hungerstreik für eine Aufhebung der Isolation Abdullah Öcalans fort.
Hannah Schultes