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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 646 / 19.2.2019

Bayerisch-ungarische Verhältnisse

Deutschland Die Behörden schieben immer rigoroser ab - eine Reihe von geplanten Gesetzesverschärfungen sollen Geflüchtete noch weiter entrechten

Von Katharina Schoenes

Eine schwangere Frau wird in Abschiebehaft genommen. Ihr Sohn im Vorschulalter bleibt alleine zurück und wird in einem Waisenhaus untergebracht. Die Familie soll nach Lettland abgeschoben werden, der Vater ist aus Angst vor der Abschiebung untergetaucht.

Ein werdender Vater wird von Polizeibeamt_innen aus der Wohnung seiner hochschwangeren Freundin geholt und trotz vorgeburtlicher Vaterschaftsanerkennung nach Italien abgeschoben. Die Frau berichtet, dass die Polizei auch mit ihr äußerst brutal umgegangen sei.

Wenn es darum geht, Abschiebungen durchzusetzen, gehen die Behörden zunehmend brutal und rücksichtslos vor. Selbst Suizidversuche bringen sie nicht dazu, von ihren Plänen Abstand zu nehmen. Noch vor einigen Jahren gaben sich die Innenminister von Bund und Ländern einige Mühe, den Anschein zu erwecken, dass der Schwerpunkt ihrer Politik auf sogenannten »freiwilligen Ausreisen« liege und Abschiebungen nur als äußerstes Mittel zum Einsatz kämen. Dreieinhalb Jahre nach dem »Sommer der Migration« hat sich das Klima deutlich verschoben: Heute lassen diese Politiker_innen kaum eine Gelegenheit aus, sich mit der Durchsetzung von Abschiebungen zu brüsten. Seehofers hämische Freude darüber, dass an seinem 69. Geburtstag 69 Menschen nach Afghanistan in den Krieg abgeschoben wurden, ist da nur die Spitze des Eisbergs. In den letzten Monaten häufen sich Berichte von Geflüchteten und Flüchtlingsräten über Familientrennungen, Fesselungen, Demütigungen und Schlägen - bis hin zur zwangsweisen Verabreichung sedierender Medikamente. (siehe Kasten) Diese Verrohung des behördlichen Umgangs mit Geflüchteten ist Teil der gesellschaftlichen Rechtsentwicklung.

Routinemäßige Fesselungen bei Abschiebeflügen

Dass es sich bei Berichten über brutales Behördenhandeln nicht um Einzelfälle handelt, belegt die Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linksfraktion. Daraus geht hervor, dass Geflüchtete bei Abschiebungen in bestimmte Zielstaaten geradezu routinemäßig gefesselt werden. Von Januar bis November 2018 wurden knapp 7.000 Menschen per Charterflug in einen anderen EU-Staat oder ihr Herkunftsland abgeschoben. In über 300 Fällen wurden die Betroffenen während der Abschiebung gefesselt. Am häufigsten setzten Bundespolizist_innen sogenannte »Festhaltegurte« ein, aber auch Hand- und Fußfesseln und ein »Kopf- und Beißschutz« kamen zur Anwendung. Besonders häufig wurden Geflüchtete auf Flügen nach Italien, Tunesien und Afghanistan gefesselt. Bei Charter-Abschiebungen nach Italien und Tunesien betraf dies gut ein Fünftel der Betroffenen, bei Sammelabschiebungen nach Afghanistan war es jeder zehnte Geflüchtete.

Nicht einmal vor offen rechtswidrigen Abschiebungen schrecken die Behörden zurück. Zahlen, die die Bundesregierung auf Anfrage der Linksfraktion veröffentlichte, zeigen, dass rechtswidrige Abschiebungen 2018 im Vergleich zu den Vorjahren deutlich häufiger vorkamen. Von Januar bis November wurden 2018 neun Menschen rechtswidrig abgeschoben, 2017 gab es zwei rechtswidrige Abschiebungen, in den Jahren davor keine einzige. Dennoch spricht die Bundesregierung verharmlosend von »Vollzugs- und Kommunikationsdefiziten in Einzelfällen«. Gemessen an über 20.000 rechtmäßigen Abschiebungen im selben Zeitraum sind neun rechtswidrige Abschiebungen aus ihrer Sicht zu verschmerzen.

Häufig sind von den rechtswidrigen Abschiebungen Menschen betroffen, deren Asylverfahren noch gar nicht abgeschlossen ist. Nasibullah S. war einer der 69 Afghanen, die an Seehofers Geburtstag nach Kabul abgeschoben wurden. Zu diesem Zeitpunkt stand die Entscheidung des Verwaltungsgerichts über seine Klage gegen den Ablehnungsbescheid des BAMF noch aus. Im September 2018 wurde ein syrisches Ehepaar mit drei Kindern rechtswidrig aus Sachsen nach Rumänien abgeschoben, obwohl dessen Asylverfahren noch lief.

Im April 2018 wurde ein Angehöriger der uigurischen Minderheit aus Bayern nach China abgeschoben, obwohl er einen Asylfolgeantrag gestellt hatte. Normalerweise bemüht sich die für die Abschiebung verantwortliche Behörde um die Rückholung der Betroffenen. Doch von dem uigurischen Geflüchteten fehlte zunächst jede Spur. Mittlerweile hat sich herausgestellt, dass er in China in Haft sitzt. Ihm droht eine Verurteilung wegen »Separatismus«.

Die brutalen und rechtswidrigen staatlichen Maßnahmen zeigen: Asylsuchende, die kein Aufenthaltsrecht haben, werden vielfach nicht als Menschen mit berechtigten Interessen wahrgenommen, sondern zu bloßen Objekten staatlicher Zwangsmaßnahmen degradiert, die um fast jeden Preis aus dem Land geschafft werden sollen.

Die Zahl der Abschiebungen bewegt sich seit Jahren auf einem hohen Niveau. 2016 wurden gut 25.000 Menschen abgeschoben, 2017 und 2018 lag die Zahl mit knapp 24.000 bzw. gut 23.500 leicht darunter. Mehr als verdoppelt hat sich in den letzten Jahren die Zahl der Dublin-Überstellungen in andere EU-Staaten: von knapp 4.000 im Jahr 2016 auf mehr als 9.000 im Jahr 2018.

Gegenwehr ist oft erst in letzter Sekunde möglich

Stark gestiegen ist auch die Zahl der Abschiebungen, die in letzter Minute scheitern - etwa aus medizinischen Gründen, an der Weigerung der Piloten oder weil die Betroffenen Widerstand leisten. Im ersten Halbjahr 2018 war dies bei 989 Abschiebungen der Fall. Es liegt auf der Hand, dass diese Entwicklung eine Folge der Gesetzesverschärfungen der letzten Jahre ist. Weil Abschiebungen seit 2015 überwiegend unangekündigt stattfinden, können Betroffene häufig erst im letzten Moment auf etwaig bestehende Abschiebungshindernisse wie beispielsweise medizinische Gründe hinweisen. Und weil die Behörden auf die berechtigten Interessen von Geflüchteten kaum noch Rücksicht nehmen, haben diese vielfach keine andere Wahl, als sich in letzter Sekunde verzweifelt gegen die staatlichen Zwangsmaßnahmen zur Wehr zu setzen.

Die umfassende Entrechtung, gepaart mit einer geringen gesellschaftlichen Beschwerdemacht der Geflüchteten, öffnet Polizeiwillkür und Polizeigewalt Tür und Tor. Wenn die Bundesregierung in diesem Zusammenhang erklärt, es stehe jedem frei, die Bundespolizei mündlich, fernmündlich, schriftlich oder online zu kontaktieren und ihr Beschwerden zu übermitteln, kann man das nur als schlechten Witz auffassen.

Gerade lässt der Bundesinnenminister eine Reihe weiterer Verschärfungen im Asyl- und Aufenthaltsrecht erarbeiten, um Ausreisepflichtige künftig noch stärker unter Druck setzen zu können. Der Anfang Februar bekannt gewordene Referentenentwurf eines »Zweiten Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht« beinhaltet unter anderem die Einführung eines neuen Status noch unterhalb der Duldung für Menschen, die aus Sicht der Behörden nicht genügend an der eigenen Abschiebung mitwirken. Außerdem sehen die Pläne des Ministeriums vor, Abschiebehäftlinge künftig zusammen mit Strafgefangenen in »normalen« Gefängnissen unterzubringen - ein Vorhaben, das klar europarechtswidrig ist. Abschiebehaft soll ausgeweitet werden und es soll eine erweiterte »Strafbarkeit von Handlungen Dritter, die auf eine Behinderung der Durchsetzung der Ausreisepflicht zielen«, geben. Das klingt nach ungarischen Verhältnissen.

All dies wird nichts daran ändern, dass Geflüchtete ihr Land aus guten Gründen verlassen haben und dorthin nicht zurückkehren können. Die geplanten Verschärfungen werden daher nicht zu höheren Ausreisezahlen führen, sondern sie werden einer weiteren Entrechtung und Verelendung von Geflüchteten ohne Aufenthaltsrecht Vorschub leisten. Der bayerische Flüchtlingsrat und Pro Asyl warnen davor, dass die »bayerische Art« im Umgang mit Asylsuchenden in der ganzen Bundesrepublik Nachahmung finden könnte. Isolation, Arbeits- und Ausbildungsverbote, Residenzpflicht, Wachdienst- und Polizeigewalt in den Ankerzentren treiben Geflüchtete in Bayern schon jetzt massenhaft in die Illegalität.

Katharina Schoenes ist Mitarbeiterin im Bundestagsbüro der Linkspartei-Abgeordneten Ulla Jelpke.

Abschiebehaft

Seit 100 Jahren werden Menschen in Deutschland nur deshalb inhaftiert, um sie leichter abschieben zu können. Um auf diese lange Geschichte unrechtmäßiger Haft aufmerksam zu machen, haben Organisationen, Initiativen und Einzelpersonen die Kampagne »100 Jahre Abschiebehaft« gestartet, die gleichzeitig deren Abschaffung fordert. Aktionen, Proteste und Materialien finden sich unter www.100-jahre-abschiebehaft.de.

Brutalisierung des Abschieberegimes

Ein Mann tritt in den Hungerstreik, um gegen seine drohende Abschiebung zu protestieren. Er muss deswegen im Krankenhaus behandelt werden. Trotzdem wird er nach Marokko abgeschoben. Seine schwangere Freundin bleibt in Deutschland zurück.

Eine Frau wird mit ihren Kindern, aber ohne ihren Mann nach Spanien abgeschoben. Sie wehrt sich gegen die Abschiebung und schreit verzweifelt. Deswegen wird sie gefesselt, außerdem wird ihr gegen ihren Willen ein Beruhigungsmittel verabreicht. Als sie sich aufgrund des emotionalen Ausnahmezustands in die Hose uriniert, wird sie von den sie begleitenden Polizeibeamt_innen verhöhnt.

Eine Frau mit Schwangerschaftsdiabetes wird aus der Mainzer Uniklinik geholt und zum Abschiebeflug nach Hannover gebracht. Weil sie sich wehrt, wird sie ins Flugzeug getragen und in den Sitz gedrückt. Sie protestiert weiter gegen die Abschiebung, der Pilot weigert sich schließlich, sie mitzunehmen. Polizist_innen setzen die nur mit Jogginganzug und Hausschuhen bekleidete Frau und ihren einjährigen Sohn daraufhin kurzerhand am Bahnhof aus, ohne Proviant und mit nur wenig Bargeld, das nicht einmal für ein Rückfahrticket reicht.