»Das Propaganda-Gesetz soll nur ablenken«
International Jonny Dzhibladze und Ruslan Savolainen von der russischen LGBT-Organisation ComingOut über ihren Aktivismus und ein verzerrtes Russlandbild
Interview: Merle Groneweg
ComingOut wurde 2008 gegründet und ist die größte LGBT-Organisation in St. Petersburg. Im Interview reden die beiden Aktivisten über die Organisierung von LGBT und die Probleme, mit denen sie durch das Propaganda-Gesetz konfrontiert sind. Dieses wurde 2013 verabschiedet, um »Kinder vor Informationen zu schützen, die die Ablehnung von traditionellen Familienwerten befürworten«.
Wozu arbeitet ComingOut?Ruslan Dzhibladze: Wir bieten psychologische sowie juristische Beratung für LGBT-Personen an, machen strategische Prozessführung, haben Programme für Regenbogenfamilien, spezifische Angebote für transgender und nichtbinäre Menschen, einen Club für Eltern von LGBT-Kindern, geben Broschüren heraus und organisieren das QueerFest.
Jonny Savolainen: Neben bis zu 14 Hauptamtlichen sind mehr als 100 Aktivisten dabei und unterstützen uns - darunter Psychologen, Anwälte, Designer und Übersetzer.
Was sind eure Schwerpunkte?
J.S.: Ich schreibe jedes Jahr einen Bericht über homo- und transfeindliche Gewalt und Diskriminierung. Dafür recherchiere ich sowohl Statistiken als auch konkrete Einzelfälle. Außerdem koordiniere ich unsere Supportgruppe für die Transgender Community. Wir organisieren monatliche Gruppentreffen, Peer-to-Peer-Beratungen und Events für die Community und für Unterstützer. Ich mag beide Projekte sehr, auch wenn mich das erste sehr ermüdet, mit all den Geschichten voller Gewalt. Dafür ist die Arbeit im Community-Projekt wirklich inspirierend. Wenn Leute in unsere Support-Gruppe kommen, sind sie meist sehr still und ängstlich. Aber nach sechs Monaten beginnen sie mit ihrer Transition, trennen sich von ihren gewaltvollen Familien und erlangen die Kontrolle über ihr Leben zurück.
R.D.: Ich koordiniere seit fünf Jahren QueerFest. Es ist ein bisschen wie die europäische Pride-Woche: zehn Tage mit verschiedenen Events, Ausstellungen, Konzerten, Vorträgen, Filmen und Theaterstücken. Außerdem habe ich kürzlich den ersten Round Table für kommerzielle Unternehmen organisiert.
Worum ging es bei diesem Round Table?
R.D.: Es ging darum, wie man den Arbeitsplatz LGBT-inklusiver gestalten kann. Wir stellen den Unternehmen unsere Arbeit vor und erklären, wie das Propaganda-Gesetz funktioniert, dass es für sie keinerlei Risiko darstellt, wenn sie LGBT-Menschen einstellen.
Warum sollte es denn überhaupt ein Risiko darstellen?
J.S.: Arbeitgeber fürchten Konsequenzen für ihre Unternehmen oder Institutionen - also, dass sie selbst von Homofeindlichen oder der Regierung verfolgt und angefeindet werden. Wenn wir und unsere Anwälte zu ihnen kommen und erklären, dass es okay ist, eine queere Person einzustellen, dass sie nicht riskieren, von der Regierung verfolgt zu werden, dass sie überhaupt nichts riskieren, sondern stattdessen zeigen können, dass sie »die Guten« sind - dann verstehen sie das.
Wie operiert das so genannte »LGBT-Propaganda«-Gesetz denn?
J.S.: Am häufigsten wird es verwendet, um LGBT-Aktivisten das Recht auf Versammlungsfreiheit zu verweigern - zum Beispiel, wenn wir eine Demonstration organisieren wollen.
R.D.: Meistens sagen sie dir in der Behörde einfach, dass du dein Event nicht machen kannst, weil es Propaganda sei, oder weil an diesem Tag bereits etwas anderes stattfindet. Aber wenn du es dann an einem anderen Tag versuchst, erlauben sie es auch nicht.
J.S.: Webseiten werden wegen des Gesetzes ebenfalls blockiert. Es wird dabei jedoch als Referenz verwendet und nicht direkt angewendet. Nichtsdestotrotz funktioniert das Gesetz genau so, wie es intendiert war.
Nämlich?
J.S.: Das Gesetz wurde entworfen, um uns verstummen zu lassen. Damit wir in den Untergrund gehen und vor allem Angst haben. Leider funktioniert das. Im Grunde genommen wurde es nicht als juristisches, sondern als ideologisches Werkzeug entwickelt. Seit Beginn der Diskussion über das Gesetz und dessen Inkrafttreten haben homofeindliche Einstellungen in Russland enorm zugenommen. Es gab viel Hate Speech von russischen Politikern, Journalisten und anderen Personen der Öffentlichkeit.
R.D.: Die Leute in Russland sind aggressiver gegenüber LGBT-Personen geworden.
J.S.: Häufig denke ich, dass das eigentliche Ziel des Gesetzes war, einen inneren Feind zu finden und die öffentliche Aufmerksamkeit auf die bösen LGBT-Personen zu lenken - statt auf die Finanzkrise, die Sanktionen, die russische Außenpolitik. Jeder weiß, dass Schwule in Russland »verboten« sind. Aber nicht jeder weiß, dass Russland am Krieg in Syrien beteiligt ist und wie viele Menschen dort sterben. Das Propaganda-Gesetz ist ein Instrument, um davon abzulenken.
Auch in westlichen Medien hat das Gesetz große Aufmerksamkeit erfahren. Es gibt viel Berichterstattung über die Situation von LGBT-Personen in Russland. Wie empfindet ihr das?
J.S.: Ich denke, es ist wichtig, über die negativen Folgen der homo- und transfeindlichen Politik zu sprechen, insbesondere über die des Propaganda-Gesetzes. Aber meistens haben die Leute im Westen zwar von dem Gesetz gehört, wissen jedoch nicht, wie es funktioniert. Und, ja, wir haben dieses homofeindliche Gesetz, aber es hatte nicht nur negative Konsequenzen wie den Anstieg von Homofeindlichkeit in unserer Gesellschaft. Es hat uns auch näher zusammengebracht, es hat uns stärker gemacht, es hat dazu geführt, dass wir unsere Arbeit noch professioneller und kompetenter machen.
R.D.: Oft sehen wir in westlichen Medien und unter westlichen Aktivisten diese viktimisierende Haltung gegenüber russischen LGBT: Dass wir so arm dran wären, weil es so viel Homo- und Transfeindlichkeit gibt, oder dass wir Hilfe brauchen und gerettet werden müssen.
J.S.: Aber wir müssen nicht gerettet werden. Unterstützung ist großartig, und wir schätzen sie wert. Aber tatsächlich sind wir recht erfolgreich. Wir können westlichen Ländern beibringen, wie man sich selbst retten kann! Ich sage nicht, dass Russland total einzigartig ist, aber wir haben aufgrund der gewaltvollen, gefährlichen Umgebung, in der wir leben, viele verschiedene Herangehensweisen entwickelt. Wir haben viel Wissen zu teilen.
Findet ihr, dass negative Ereignisse weniger Raum in der Berichterstattung einnehmen sollten? Zum Beispiel hat der homofeindliche Politiker Vitaly Milonov die Eröffnungsnacht des Side by Side LGBT International Film Festivals im Oktober 2018 in St. Petersburg verhindert. In der zweiten Festivalwoche fiel ein Screening wegen einer falschen Bombendrohung aus. Wie soll darüber gesprochen werden?
J.S.: Ich denke, beides sollte Erwähnung finden. Es gehört zu unserem Leben. Aber es sollte nicht die einzige Information sein, an die Leute sich erinnern.
R.D.: Dieses Jahr waren wir auf die Probleme bei dem QueerFest nicht vorbereitet; denn die letzten beiden Jahre verliefen ohne Störungen. Jetzt mussten zwei Veranstaltungen wegen falscher Bombendrohungen abgesagt werden - die Leute mussten den Ort verlassen, wir mussten neue Räume finden, um weiterzumachen.
J.S.: Ja, das war beängstigend und schwierig. Aber das Gefühl, das für mich bleibt, ist, wie stark wir sind, wie sehr wir uns gegenseitig unterstützt haben, und wie schnell es uns gelungen ist, einen neuen Raum zu finden. Jedes negative Event kann auch positive Konsequenzen haben und uns zeigen, dass wir nicht arme Opfer sind. Wir können auf die Gewalt mit Stärke, Solidarität und Unterstützung antworten. Auch deshalb sollten wir die schlechten Dinge nicht verschweigen.
Die negative Berichterstattung kann zu einem verzerrten Bild der Situation hier führen. Was nervt euch im Kontakt mit internationalen Gästen oder Kooperationspartnern?
R.D.: Einige unserer Gäste haben Angst, nach Russland zu kommen - wegen der politischen Situation und der Homofeindlichkeit. Sie haben viele Stereotype über Russland: Dass man in St. Petersburg umgebracht wird und so weiter.
J.S.: Und, ja, Russland ist ein autokratisches Regime und gefährlich in Bezug auf Homo- und Transfeindlichkeit. Aber wir sind oft sehr ermüdet von Leuten aus Westeuropa, die uns anrufen und sagen: »Ich will nach Russland kommen als Tourist, wie soll ich mich verstecken, sollte ich die Polizei vermeiden, sollte ich - oh, sie werden mich umbringen.« Neulich noch habe ich einen Anruf bekommen von einem schwulen Paar aus Schweden, das noch nie in Russland war. Es schien zu glauben, dass Russland eine extrem gefährliche Diktatur ist - mit Soldaten, die entlang der Straßen patrouillieren und Leute auf ihr Schwulsein hin kontrollieren. Nun, es ist ein gefährliches Land und eine gefährliche Umgebung, aber nicht bis zu diesem Grad. Wir haben eine schwierige Zeit mit dem herrschenden Regime. Aber die Leute in Russland - und insbesondere in St. Petersburg, einer sehr liberalen Stadt -, sind nicht total homo- oder transfeindlich. Die Gesellschaft ist recht offen.