Aufgeblättert
Nach der Revolution
1951, drei Jahre nach dem Bruch Jugoslawiens mit der Sowjetunion, veröffentlichte der jugoslawische Kommunist Milovan Djilas einen Beitrag unter dem Titel »Erscheinungen und Wesen der Sowjetunion«. Dies war keine theoretische Abhandlung sondern eine Argumentationskette, mit der die historische Notwendigkeit nachgewiesen werden sollte, warum Jugoslawien sich von der Moskauer Vorherrschaft lösen und einen eigenen Weg zum Sozialismus einschlagen müsse. Dort habe sich das Staatsmonopol längst zum Staatskapitalismus entwickelt und die Sowjetunion zu einer imperialistischen Großmacht. Sechs Monate später antwortete Ernest Mandel, Mitglied der trotzkistischen Vierten Internationale, auf diesen Beitrag. Es ist vor allem Djilas Auffassung, dass nach der Revolution mit der Verstaatlichung nicht automatisch ein sozialistisches Staatseigentum entsteht, die Mandel zurückweist. Für Mandel ist Djilas offensichtlich ein theoretischer und politischer Gegner, er bezichtigt die jugoslawischen Genoss_innen, der internationalen Arbeiterbewegung zu schaden, und erklärt die Vierte Internationale zur Kraft, die den Weltsieg des Sozialismus anführen könne. Keine Solidarität, sondern erbitterter Machtkampf zwischen den verschiedenen antistalinistischen linken Strömungen. Eine längere Arbeit des deutschen Marxisten Willi Huhn über den sowjetischen Staatskapitalismus rundet diese nicht nur historisch spannende Kontroverse ab.
Renate Hürtgen
Jochen Gester (Hg.): Staat, Kapital, Kapitalismus, Klassen im nachrevolutionären Russland. Eine Kontroverse zwischen Milovan Djilas, Ernest Mandel und Willy Huhn. Die Buchmacherei Berlin 2018, 193 Seiten, 12 EUR.
Kampf um Rojava
Ausgehend vom blutigen Angriff der Türkei auf den kurdischen Kanton Afrin hat Ismail Küpeli als Herausgeber acht kurze Beiträge zusammengestellt. Sie setzen sich mit den aktuellen Entwicklungen in der Türkei und in Kurdistan auseinander. Der Kampf um Afrin hat sich längst in einen Kampf um ganz Rojava verwandelt: Trump zieht die US-Truppen aus Syrien ab, die PYD verhandelt mit Assad und Russland. In dieser unübersichtlichen Lage klärt das Buch über den Zusammenhang zwischen türkischer Rojava-Politik und der akuten Krise der AKP-Herrschaft auf. Geteilt wird die These, dass die AKP spätestens seit den Gezi-Protesten nicht mehr hegemonial herrschen kann. Daraus entspinnt sich eine informative Diskussion, wie das neue Staatsprojekt der AKP zu deuten ist. Als Faschisierungsprozess, dezisionistischer Maßnahmenstaat oder islamistisch-nationalistisch gestütztes Präsidialsystem? Über diese Debatte kommt leider die Situation in Rojava und Syrien etwas zu kurz. Ein Text über die syrisch-kurdischen Beziehungen wäre in Bezug auf eine mögliche Einigung mit dem Assad-Regime spannend gewesen. Zu wenig wird außerdem auf Deutschlands Beteiligung am Konflikt eingegangen. Eine Analyse der deutschen Unterstützung durch Wirtschaftskooperation und Rüstungsexporte hätte verdeutlichen können, dass der Kampf um die Türkei und Rojava auch in Europa stattfindet. Gleichwohl liefert das Buch einen eingängigen Überblick für alle, die nach dem Sieg über den IS nicht den Blick von der Region abwenden wollen.
Lukas Hoffmann
Ismail Küpeli (Hg.): Kampf um Rojava, Kampf um die Türkei. Edition Assemblage, Münster 2019. 127 Seiten, 7,80 EUR.
1941 auf dem Balkan
Bücher, in denen die Darstellung und Reflexion kollektiver und individueller Geschichte gelingt, sind selten. »1941 - Das Jahr, das nicht vergeht« ist eine solche, aus schweren Verletzungen gespeiste Ausnahme, durch die ein geduldiges Publikum etwas über die Geschichte Kroatiens, Jugoslawiens und das beispielhafte Leben einer kroatisch-jüdischen Familie lernen könnte. Wenige Tage nach dem Einmarsch der Deutschen Anfang April 1941 endet die Kindheit des 1928 in Karlovac geborenen Slavko Goldstein. Sein Vater wird als Jude und Linker verhaftet, später unter nicht mehr rekonstruierbaren Umständen ermordet. Goldsteins Mutter schließt sich im Frühjahr 1942 mit Slavko und seinem jüngeren Brüder Danko einer Partisanengruppe an - eine Entscheidung, die ihnen im Unterschied zur Mehrheit ihrer Verwandten das Leben rettet. Nach der Befreiung holt Goldstein verlorene Schuljahre nach, geht zu Hochzeiten des jugoslawischen Stalinismus nach Israel, arbeitet nach seiner Rückkehr als Verleger und Drehbuchautor. 2001 veröffentlicht er mit seinem Sohn Ivo die bis heute umfassendste Darstellung der Verfolgung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung Zagrebs bis 1945. Die besondere Qualität von »1941« liegt nicht nur in der Genauigkeit, mit der rekonstruiert wird, wer in einer gewöhnlichen Kleinstadt welche Verbrechen beging, wer den Hass auf Serben, Juden, Roma schürte, sondern auch in der Benennung aller Fehler und Versäumnisse, die nach 1991 zur gewaltsamen Aktualisierung dieses Hasses führten.
Jens Hoffmann
Slavko Goldstein: 1941 - Das Jahr, das nicht vergeht. Die Saat des Hasses auf dem Balkan. S. Fischer, Frankfurt am Main 2018. 608 Seiten, 30 EUR.
Hambi bleibt!
Auf Seite 48 der Broschüre grüßt das Eichhörnchen - das letzte von 36 eindrucksvollen Fotos rundet eine Bilddokumentation ab, in der von Waldidylle keine Rede sein kann. Denn der Hambacher Forst ist seit Jahren Schauplatz erbitterter Kämpfe nicht nur um die Erhaltung von Bäumen. Es ging und geht um eine andere Energiepolitik, die letztlich nur jenseits des Kapitalismus möglich ist. »System change not climate change« ist der Slogan derjenigen, für die die Klimabewegung »nur antikapitalistisch denkbar« ist. Das sehen nicht alle so, die sich in der Region gegen den Braunkohletagebau engagieren. Zur Demo am 6. Oktober 2018 kamen 50.000 Menschen, weitaus mehr als die, die in den vergangenen Jahren mit großem persönlichen Risiko militante Aktionen durchführten oder auf zivilen Ungehorsam setzten. Als besonders wirksames Mittel erwiesen sich die von den Waldbesetzer_innen gebauten Baumhäuser. Bei der polizeilichen Räumung des Waldes im September 2018 starb ein Blogger nach dem Sturz von einer Hängebrücke. So sieht man in der Broschüre nicht nur fantasievoll konstruierte Baumhäuser, sondern auch brutale Polizeieinsätze. Wie es nach dem vorläufigen Rodungsstopp weitergeht ist offen. »Der Wald bleibt vorerst stehen«, schreibt eine Gruppe von Waldbesetzer_innen: »Nun geht es darum, dafür zu sorgen, dass nicht vergessen wird, wofür die Besetzung des Hambacher Forst stand und weiterhin steht.« Dazu leistet die Broschüre der Aktion Unterholz einen wertvollen Beitrag.
Daniel Ernst
Aktion Unterholz: »Mama, dieser Stock auch?« Von Barrikaden, Waldschützer*innen und Antikapitalismus. 48 Seiten. Zu bestellen unter aktion_unterholz@riseup.net.