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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 647 / 19.3.2019

Saudi-Arabiens Vietnam

International Der Krieg im Jemen könnte zum Friedhof des saudischen Imperiums werden

Von Jakob Reimann

Mehr als 85.000 Kinder unter fünf Jahren wurden im seit vier Jahren währenden Krieg im Jemen bereits durch eine menschengemachte Hungersnot ermordet. Das sind mehr als die rund 70.000 durch Waffengewalt Getöteten. (1) Die Hälfte der jemenitischen Bevölkerung leidet akut unter Hunger. Mit weit über 1,2 Millionen Infizierten wütet kriegsbedingt die größte Choleraepidemie seit Beginn der modernen Aufzeichnungen. (vgl. ak 643) Während die UN die »größte humanitäre Katastrophe der Welt« beklagt, setzt die von Saudi-Arabien geführte Koalition unter Komplizenschaft der westlichen Wertegemeinschaft Epidemien und Hunger als Kriegswaffe ein, weshalb einige Analyst_innen bereits Vergleiche zu Hunger-Massenmorden unter Stalin und den Nazis ziehen. Jeder historische Vergleich hinkt, doch sollten die Saudis und ihre Verbündeten im Westen allen voran den Vietnam-Krieg im Hinterkopf behalten, wenn sie den Ausgang ihrer Unternehmung erahnen wollen.

»Sein Vietnam erleben« umschreibt die Situation, in der ein übermächtiger Aggressor von einem unterlegenen Gegner in die Knie gezwungen wird. Weder die knapp drei Millionen US-Soldat_innen noch der größte Chemiewaffeneinsatz der Menschheitsgeschichte konnten den USA damals zum Sieg verhelfen. Die Sowjetunion erlebte ihr Vietnam in Afghanistan. Nach einer Dekade zog die Rote Armee 1989 gedemütigt ab, Moskau musste schmerzlich lernen, dass ein Krieg in Afghanistan nicht zu gewinnen ist - wie bereits Alexander der Große, Dschingis Khan, das British Empire und jetzt die NATO. Nicht umsonst wird das Land »Friedhof der Imperien« genannt.

Diente in Vietnam der Dschungel als Schutz vor einer Invasion, sind es in Afghanistan die unbezwingbaren Berge und Höhlensysteme. Dasselbe gilt für den Jemen. Die unbewohnten Sandwüsten im Landesinneren entwickeln sich über ungangbare Geröllwüsten hin zu massiven Hochebenen im Westen des Landes, in denen die meisten der knapp 30 Millionen Einwohner_innen leben. Nahe der Hauptstadt Sana'a liegt mit 3.665 Metern der höchste Berg des Subkontinents der Arabischen Halbinsel. Die Gebirgsketten mit all ihren ausgebrannten Vulkanen werden fortwährend durch schroffe Taleinschnitte zerpflügt. Der Jemen ist ein kriegsstrategischer Albtraum - und hat damit ebenfalls das Potenzial zum »Friedhof der Imperien«. Im Zuge des Arabischen Frühlings stürzten die Houthi-Rebellen 2012 den Diktator Ali Abdullah Salih - nach 34 Jahren an der Macht -, brachten von ihrer Hochburg Sa'da im Norden bis nach Aden im Süden alle großen urbanen Zentren des Landes unter ihre Kontrolle und trieben Salehs Nachfolger Abed Rabbo Mansur Hadi ins saudische Exil.

Im März 2015 startete - unter Führung der Saudis und Emiratis und in Kollaboration mit dem Westen - eine Koalition aus neun Staaten einen Bombenkrieg gegen die Zivilbevölkerung des Landes. Das Ziel: Riads Marionette Hadi wieder an die Macht bringen. Der seit seinem brutalen Mord am Journalisten Jamal Khashoggi als hochtoxisch geltende Kronprinz und Architekt des Jemen-Kriegs, Mohammed bin Salman, prahlte, der Krieg werde nur wenige Wochen dauern.

Zwar überzog die Koalition das Land mit einem Bombenteppich aus US-Produktion und zerstörte Infrastruktur und Wirtschaft nahezu vollständig, doch sind gegenwärtig bis auf Aden alle eroberten Städte weiter unter Kontrolle der Houthis. Der Rückhalt, den die Rebellen genießen, stützt sich im Kern auf ihr Image als Beschützer. Einerseits sind sie die einzigen Akteure, die ernsthaft gegen Al-Qaida im Jemen kämpfen - im Gegensatz zu den USA, deren Drohnenschläge und Night-Raids immer wieder in Massakern an der Zivilbevölkerung enden und der Al-Qaida so als Rekrutierungsmaßnahme dienen. Andererseits werden die Houthis als Beschützer vor den saudischen und emiratischen »Besatzern« wahrgenommen. Als solche werden die ausländischen Truppen angesehen. Das Internet ist voll mit Houthi-Propagandavideos, in denen Panzer der Saudis zerstört oder deren Truppen in die Flucht geschlagen werden. So wird dieser Beschützermythos aufrechterhalten.

Kein Stellvertreterkrieg des Irans

Seit der Rückeroberung von Aden kurz nach Kriegsbeginn haben sich die Fronten in den letzten dreieinhalb Jahren nur minimal verschoben. Der Iran erkannte schnell, dass man es mit einem Zermürbungskrieg zu tun hat, und sah die Möglichkeit, seinen regionalen Erzfeind im saudischen Königshaus in einen langen, demoralisierenden, nicht gewinnbaren Krieg zu verwickeln: Saudi-Arabien sein Vietnam zu bescheren.

Wichtig ist es, eines festzuhalten: Das unermüdlich aus Riad kolportierte Narrativ, im Jemen handle es sich um einen Stellvertreterkrieg gegen den Iran, ist schlicht falsch - mögen die meisten Medien es auch noch so oft unhinterfragt übernehmen. Die Houthis erfahren zwar eine gewisse Unterstützung aus dem Iran, doch handeln sie aus rein innenpolitischem Eigeninteresse - zuweilen auch explizit gegen Teherans Absichten. Und historisch ließen die Houthis sich nie für eine fremde Sache vereinnahmen, ganz im Gegensatz etwa zur Hisbollah, die zweifelsohne Irans Vertretung im Libanon ist.

Daher scheint es ausgeschlossen, dass Teheran zur Moskau-Taktik greift und tatsächlich militärisch im Jemen eingreift, sollten die Houthis Gefahr laufen, geschlagen zu werden. Zur Erinnerung: Russland griff erst im September 2015 in Syrien ein, als Assad kurz vor der Niederlage stand. Auch wenn Hardliner im iranischen Sicherheitsapparat ihre Führung seit Längerem drängen, neben Syrien mittelfristig auch im Jemen eine dauerhafte Präsenz zu etablieren (2), ist dies aus drei Gründen mehr als unwahrscheinlich.

Erstens sind die Houthis eine der wenigen tatsächlich unabhängigen Gruppen im Nahen Osten. Selbst für den Preis ihrer militärischen Rettung würden sie keine substanziellen Einschnitte in die jemenitische Souveränität hinnehmen. Sie lehnen etwa den Bau einer iranischen Marinebasis entschieden ab. Zweitens ist das Houthi-Territorium am Roten Meer mit seiner Meerenge am Tor der Tränen zwar eine der weltweit wichtigsten Ölschifffahrtsrouten - und damit ein geostrategisch wichtiger Flaschenhals in Richtung Suez-Kanal -, doch liegt auf der anderen Seite der Arabischen Halbinsel der geostrategische Jackpot direkt vor Irans Küste: die Straße von Hormus. Die Kosten für ein militärisches Eingreifen auf Seiten der Houthis würden daher in keinem Verhältnis zum geringen geostrategischen Nutzen stehen. Drittens käme eine iranische Intervention einer selbsterfüllenden Prophezeiung gleich und würde den iranophoben Hardliner_innen in den USA, am Golf und in Israel in die Hände spielen. Diese scheuen ohnehin keine Mühen, das Bild der Houthis als iranische Marionette zu zeichnen.

Um Irans begrenztes strategisches Interesse am Jemen und seinen Houthis einordnen zu können, ist wiederum ein vergleichender Blick auf die enorme Bedeutung der Hisbollah hilfreich. Dank iranischer Petrodollars ist diese mittlerweile schlagkräftiger als die meisten Armeen dieser Welt. Denn bei aller Obsession mit dem Houthi-Iran-Schreckgespenst und mit dem nicht vorhandenen iranischen Atomwaffenprogramm ist Teherans einzige echte Rückversicherung gegen US-amerikanisch-saudisch-israelische Luftschläge - oder gar gegen eine Invasion à la Irak 2003 - die hochgerüstete Hisbollah im Libanon: Deren 130.000 Raketen würden per Befehl auf die urbanen Zentren Israels niederregnen, sollte die anti-iranische Achse Teheran angreifen. Haifa im Norden des Landes, wo der Autor dieser Zeilen einige Zeit lebte und Familie hat, ist keine 30 Kilometer von der libanesischen Grenze entfernt.

Riads Orientierungslosigkeit

Und daher fährt Teheran im Jemen die Taktik der Sparflamme und trägt mit minimalem Einsatz dazu bei, den Status Quo zwischen Houthis und der von Saudi-Arabien geführten Koalition aufrechtzuerhalten. Das Brookings Institute berichtet von einer »gewissen Unterstützung« etwa beim Programm ballistischer Raketen der Houthis und von Hilfszahlungen von »einigen wenigen Millionen Dollar pro Jahr«. (3) Das ist ein Bruchteil von dem, was Hisbollah oder auch Hamas aus Teheran erhalten. Auch vor dem Krieg gab es bereits gewisse Kontakte, doch ist die bescheidene Houthi-Iran-Connection in erster Linie eine Folge des Jemen-Kriegs, keineswegs dessen Ursache, und für Teheran ein einfaches und billiges Werkzeug, um seinen Erzfeind Saudi-Arabien in diesem sinnlosen Krieg finanziell bluten zu lassen.

Mit knapp 70 Milliarden US-Dollar sind Riads Verteidigungsausgaben hinter den USA und China mittlerweile die drittgrößten der Welt und der größte Einzelposten im saudischen Haushalt. Zwar wird dem Königshaus der Zufluss von Petrodollar-Milliarden noch lange Zeit erhalten bleiben, doch nagt das aufgeblähte Militär an den saudischen Finanzen und verhindert so dringend benötigte Investitionen in anderen Bereichen - insbesondere in die »Vision 2030«, dem ambitionierten Programm des Kronprinzen Mohammed bin Salman zur vollständigen Restrukturierung der saudischen Wirtschaft.

So brachen die Währungsreserven Saudi-Arabiens in den letzten vier Jahren bereits um mehr als ein Drittel ein. Zwar ist dies zum großen Teil auf den niedrigen Ölpreis zurückzuführen, doch hat vor allem auch der desaströse Krieg im Jemen einen massiven Anteil daran, dass sich die saudischen Ersparnisse in Luft auflösen. Bereits Anfang letzten Jahres summierten sich die Gesamtkosten des Krieges für Riad auf über 100 Milliarden US-Dollar. Und Brookings berichtet, dass hier jeden Monat fünf bis sechs Milliarden US-Dollar an laufenden Kriegskosten hinzukommen - zusätzlich zum regulären Militärbudget.

So falsch es war, diesen Krieg zu beginnen, so absurd ist es, ihn auch nur einen einzigen Tag fortzuführen - aus finanzieller, militärischer und allem voran menschlicher Perspektive. Der junge Machthaber Mohammed bin Salman wird zwar von den Falken in den USA und Israel in seiner Orientierungslosigkeit bestärkt, doch rast er sehenden Auges auf den Abgrund zu und verursacht neben unerträglichem Leid im Jemen auch den Fall seines eigenen Landes. Ein bedeutender jemenitischer Stammesführer umschreibt es folgendermaßen: »Die Saudis versuchen, einen Amboss mit einem Ziegelstein zu zertrümmern. Sie werden nicht den Jemen, sondern sich selbst zerstören.«

Jakob Reimann schrieb in ak 638 über die Strategie der USA, den Aufstieg anderer Mächte zu verhindern. Umfassende Berichterstattung des Autors zum Jemen findet sich auf: justicenow.de/krieg-im-jemen.

Anmerkungen:

1) Patrick Cockburn: The Yemen war death toll is five times higher than we think, in: The Independent, 26. Oktober 2018.

2) Naveed Ahmad: Iran's quest for foreign naval bases, in: The New Arab, 24. Januar 2017.

3) Bruce Riedel: In Yemen, Iran outsmarts Saudi Arabia again, in: Brookings, 6. Dezember 2017.

Hunger als Kriegswaffe

Der britische Autor Alex de Waal argumentiert in seinem Buch »Mass Starvation. The History and Future of Famine«, dass die gängige Assoziation von Hungersnöten mit Dürren, Klimaschocks oder Nahrungsmittelkrisen in die Irre führt. Eine Liste der World Peace Foundation versammelt 61 Fälle, in denen Hungersnöte beziehungsweise gezielte Strategien des Aushungerns mindestens 100.000 Menschen das Leben gekostet haben. Dabei zeigte sich, dass die tödlichsten Hungersnöte solche waren, die auf politische Entscheidungen zurückgingen. De Waal analysiert sie in ihrer unterschätzten Dimension als Instrument in Genoziden und Kriegen: das Aushungern von einer Million Armenier_innen, der »Hungerplan« des NS-Regimes für die Sowjetunion oder die von Japan forcierten Hungersnöte im Zweiten Weltkrieg. Während es 2016 noch so aussah, als würden sie abnehmen, hat sich diese Entwicklung mit den Hungersnöten in Nigeria, Somalia, Südsudan, Syrien und Jemen umgekehrt. Die UN war vorsichtig, als es darum ging, die Ursachen der Situation im Jemen zu benennen, wo ihr zufolge im Januar 2017 zehn Millionen Menschen hungerten. In Boston Review beschreibt de Waal die politische Verantwortung folgendermaßen: »Die Kronprinzen von Saudi-Arabien und Abu Dhabi haben bewusst über einen längeren Zeitraum hinweg zahlreiche Handlungen begangen, die Millionen von Jemenit_innen von überlebensnotwendigen Gütern abgeschnitten haben.« Im internationalen Recht fristen »starvation crimes« einen Status als marginales Thema, das dem Autor zufolge nicht ausreichend kriminalisiert ist.

Alex de Waal: Mass Starvation. The History and Future of Famine. Polity Press, Cambridge 2018. 260 Seiten, 21,90 EUR.