Die Kastanien im Feuer lassen
Deutschland Die Vatikankonferenz zu Missbrauch hat erneut gezeigt: Die katholische Kirche ist von innen nicht reformierbar
Von Thomas Schlingmann
Ende Februar fand im Vatikan ein hochrangig besetztes Krisentreffen zum Umgang mit sexualisierter Gewalt statt. Nach vier Tagen beendete der Papst die Konferenz mit einer öffentlichen Abschlussrede: Es müsse ein Ende der Vertuschung geben, und es solle mit der Justiz zusammengearbeitet werden. Dafür brauche es »einen Mentalitätswechsel«, ein Priester, der Kinder sexuell missbrauche, werde zu einem »Werkzeug Satans«.
Diese Äußerungen sind beispielhaft für den Umgang der katholischen Kirche mit sexualisierter Gewalt: Obwohl mindestens um die 4,4 Prozent aller Kleriker sexualisierte Gewalt gegen Kinder verübt haben, wird immer noch so getan, als käme die Gewalt von außen, diesmal in Gestalt des Satans. (1) In einer derart stark hierarchischen Organisation wäre ein Ausmisten von oben her verhältnismäßig einfach; zum Beispiel, indem Täter unmittelbar rausgeschmissen werden anstatt sie zu versetzen. Doch stattdessen wird ein »Mentalitätswechsel« abgewartet.
Also alles wie zu erwarten? Nicht ganz: Am Rande der Tagung erhielten auch Tatsachen Aufmerksamkeit, die so bisher weitgehend ignoriert worden waren. Nonnen aus Indien berichteten über Vergewaltigungen durch Bischöfe und Priester, Report München brachte einen Beitrag über die Vergewaltigung von Ordensfrauen, bei Anne Will nahm eine weibliche Betroffene an der Talkshow teil. (2) Mit etwas Erstaunen nahm die Öffentlichkeit zur Kenntnis, dass offensichtlich auch Frauen und Mädchen Opfer sexualisierter Gewalt in der katholischen Kirche werden.
Frauen und Mädchen als unsichtbare Betroffene
Das ist per se nichts Neues. So stellte die im September letzten Jahres veröffentlichte MHG-Studie zu »sexuellem Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz« fest, dass allein in den ausgewerteten Handakten 34 Prozent der Betroffenen weiblich waren. Dabei beschränkte sich die Auswertung auf »Minderjährige«, sexualisierte Gewalt gegen Untergebene, abhängig Beschäftigte und Schutzbefohlene war darin nur am Rande berücksichtigt.
Die weiblichen Betroffenen kamen jedoch bei der Vorstellung der Studie auf der Pressekonferenz und auch in der Darstellung der Medien gar nicht mehr vor. Im Fokus stand sexualisierte Gewalt von Männern gegen Jungen und die Behauptung, unterdrückte, unreife Homosexualität breche sich unter den Bedingungen des Zölibats in Form von sexualisierter Gewalt Bahn. In dieser Konstruktion ist für weibliche Betroffene ebenso wenig Platz wie für Täterinnen, die als Nonnen in Heimen sexualisierte Übergriffe begangen haben.
Wir erleben in der Debatte ein geradezu klassisches Vorgehen. Zunächst wird sexualisierte Gewalt Anderen, Fremden zugeordnet, seien es »Nordafrikaner« oder eben »unreife« männliche Homosexuelle. Sexualisierte Gewalt wird als fehlgeleitete Form von Sexualität erklärt, in diesem Fall gilt männliche Homosexualität als gleichbedeutend mit sexualisierter Gewalt von Männern gegen Jungen. Von der alltäglichen heterosexistisch-patriarchalen Gewalt gegen Frauen ist dementsprechend natürlich keine Rede mehr. Das Bestreben, die eigene Weste weiß zu waschen, trifft sich so mit den Bestrebungen schwulenfeindlicher Kräfte in der katholischen Kirche.
Interessant ist an der MHG-Studie aber noch eine weitere Zahl. Neben den erwähnten Personalakten wurden auch Strafakten ausgewertet. Dort lag der Anteil weiblicher Betroffener mit 20 Prozent im Vergleich zu 34 Prozent weiblicher Betroffener, die aus den Handakten hervorgehen, noch mal niedriger. Dies lässt nur den Schluss zu, dass sexualisierte Gewalt gegen Mädchen offensichtlich seltener angezeigt wird. Im Hintergrund spielen vermutlich zwei Faktoren eine Rolle: Da wäre zum einen die untergeordnete Stellung von Frauen in der katholischen Kirche: Sie dürfen nach wie vor keine Würdenträgerinnen werden, bis 1972 durften Mädchen nicht einmal Ministrantinnen werden, also in der Messe helfen. Zum anderen könnte die falsche Gleichsetzung von Homosexualität und sexualisierter Gewalt in Kombination mit Homophobie dazu geführt haben, dass Anzeigen möglicherweise sogar eher auf Homosexualität als auf sexualisierte Gewalt abzielen.
Denn im Regelfall sind es die Eltern, die eine Anzeige erstatten - Eltern, die deshalb ihr Kind der katholischen Kirche anvertrauen, weil sie selbst Mitglied sind - und damit Teil des frauenfeindlichen, homophoben, katholischen Milieus. Dass es dann im Falle sexualisierter Gewalt von Männern gegen Jungen eher zu einer Anzeige kommt, ist naheliegend.
Die Verteilung zwischen männlichen und weiblichen Betroffenen in der MHG-Studie unterscheidet sich gravierend von wissenschaftlichen Untersuchungen, denen zufolge in der Gesamtbevölkerung wesentlich mehr Mädchen als Jungen Opfer sexualisierter Gewalt werden. Fraglich bleibt, wie valide die Zahlen der MHG-Studie überhaupt sein können. Für eine Auswertung standen nämlich nur von den Diözesen ausgewählte Unterlagen zur Verfügung. Noch schwerwiegender ist, dass schon unter dem letzten Papst zahlreiche Akten in den Vatikan verbracht worden sind und dort bis heute unter Verschluss gehalten werden. Dass diese Akten keine Bagatellfälle enthalten dürften, ist naheliegend. Das reale Ausmaß sexualisierter Gewalt in und durch die katholische Kirche ist somit bisher genauso wenig bekannt, wie die Geschlechtsverteilung unter den Betroffenen und bei den Täter_innen.
Eine Kommission zur Aufarbeitung ist notwendig
Was wäre also zu tun? Für eine Aufarbeitung der sexualisierten Gewalt in und durch die römisch-katholische Kirche ist es dringend notwendig, auch die betroffenen Mädchen und Frauen stärker in den Blick zu nehmen. Ebenso müssen männliche, erwachsene Betroffene, wie Priesterschüler, Kandidaten, Novizen berücksichtigt und Täterinnen, zum Beispiel in katholischen Heimen, einbezogen werden. Eine echte Aufarbeitung würde bedeuten, Akten, die im Vatikan unter Verschluss liegen, auszuwerten sowie Unterlagen über die Zahlung von Alimenten durch Kleriker und kirchliche Fonds zu sichten - hier dürften sich schnell Fälle finden lassen, in denen minderjährige Mädchen, abhängig Beschäftigte oder Schutzbefohlene Kinder geboren haben.
Wer sexualisierte Gewalt gegen Kinder wirklich bekämpfen will, muss sie stärker im Kontext sexualisierter Gewalt insgesamt - auch der gegen Erwachsene - betrachten statt ausschließlich unter Kinderschutzaspekten. Denn in beiden Fällen kommt es zu einer Gleichsetzung von Sexualität und sexualisierter Gewalt und der Bemühung überkommener »Triebstau«-Modelle.
Statt der einzelnen Täter müsste die patriarchale Ideologie und autoritäre Struktur der katholischen Kirche im Mittelpunkt stehen. Eine solche Aufarbeitung ist jedoch von der katholischen Kirche ebenso wenig zu erwarten wie ein konsequenter Umgang mit Täter_innen. Nur eine unabhängige, vom Staat eingesetzte Kommission von außen mit weitreichenden Befugnissen könnte ein derartiges Programm umsetzen. In einer solchen Aufarbeitungskommission müssten einschlägige Expert_innen, sowohl Betroffene als auch Nicht-Betroffene, unabhängig von Religion und Glaube zusammenarbeiten. Ob es aber in Anbetracht der engen Verflechtungen zwischen den christlichen Kirchen und der Politik gelingt, eine solche Aufarbeitung durchzusetzen, ist fraglich.
Die Komplizenschaft der Engagierten
Es gibt natürlich auch in der katholischen Kirche Menschen, die sich innerhalb der Institution gegen sexualisierte Gewalt engagieren. Diese Engagierten übernehmen oftmals Aufgaben und Funktionen, die es mit sich bringen, dass sie in der Öffentlichkeit als Ansprechpartner_innen fungieren, wenn es um das Thema geht. Sie sprechen vor allem über das, was sie schon erreicht haben und noch erreichen wollen.
Die Kräfte, die nichts ändern wollen, bleiben dagegen unsichtbar, und so übernehmen die Engagierten - bewusst oder unbewusst - die Funktion eines Prellbocks, an dem sich die Öffentlichkeit abarbeitet. Es sind aber gerade diese unsichtbaren Beharrungskräfte, die seit zwei Jahrtausenden die katholische Kirche prägen. Es wird Zeit, dass diejenigen, die in der katholischen Kirche für eine Veränderung eintreten, Verantwortung für ihr Handeln dergestalt übernehmen, dass sie das Bündnis mit den Verteidigern der herrschenden Ordnung aufkündigen. In Anbetracht der tiefen Verwurzelung sexualisierter Gewalt in den Strukturen und der Ideologie der katholischen Kirche weiterhin das Konzept der »unasancta«, der einen heiligen Gemeinschaft, zu verfolgen, bedeutet, sich zum Komplizen zu machen. Wer wirklich etwas ändern will, sollte aufhören, für andere die Kastanien aus dem Feuer zu holen und stattdessen mit Kräften außerhalb der Kirche beispielsweise für eine unabhängige Aufarbeitung zusammenarbeiten. Eine Organisation wie die katholische Kirche ist von innen nicht reformierbar.
Thomas Schlingmann ist Mitbegründer und Mitarbeiter von Tauwetter, einer Anlaufstelle von Männern und für Männer, die in Kindheit oder Jugend sexualisierter Gewalt ausgesetzt waren.
Anmerkungen:
1) Die Zahl entstammt der sogenannten MHG-Studie zu sexuellem Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz. Die Studie ist an vielen Stellen zu kritisieren (ak 643), u.a. weil sie das Ausmaß eher unter- als überschätzt, dennoch lassen sich die dort ermittelten Zahlen bei entsprechender Vorsicht auswerten.
2) In Report München berichtete Doris Wagner, die schon 2014 ihre Geschichte in dem Buch »Nicht mehr ich: Die wahre Geschichte einer jungen Ordensfrau« veröffentlichte.