Krieg für Wahlen
International Sicherheitsexperte Imtiaz Gul über den aktuellen Konflikt im indischen Teil Kaschmirs
Interview: Bahar Sheikh
Kaschmir ist seit der Unabhängigkeit und Teilung des indischen Subkontinents 1947 ein umstrittenes Gebiet. Kaschmir ist aufgeteilt zwischen Pakistan, Indien und China. Pakistan und Indien haben drei Kriege um Kaschmir (1947, 1965 und 1999) geführt. Gerade im indischen Teil Kaschmirs, in dem überwiegend Muslime leben, gibt es immer wieder Unruhen. Der indische Teil Kaschmirs hat proportional zur Bevölkerung die meisten Sicherheitskräfte auf der Welt, von denen mehr als eine halbe Millionen seit 1990 dort stationiert sind. Bei einem Terroranschlag am 14. Feburar 2019 in Pulwama, einem Gebiet im von Indien verwalteten Kaschmir, sind 40 von ihnen ums Leben gekommen. Seit 1989 war das der Anschlag mit den meisten Opfern unter indischen Sicherheitskräften in Kaschmir. Insgesamt verloren seit 1989 70.000 Menschen bei Auseinandersetzungen zwischen Separatistengruppen und der indischen Regierung das Leben. Nach dem Anschlag sah es für kurze Zeit so aus, als ob ein Krieg zwischen Indien und Pakistan ausbrechen könnte. Imtiaz Gul ist der Leiter des Center for Research and Security Studies in Pakistan. Er referiert weltweit zu internationaler Sicherheit und Terrorismusbekämpfung.
Wie schätzen Sie die Reaktion beider Länder auf den Terroranschlag am 14. Februar ein?
Imtiaz Gul: Indien hat die pakistanische islamistische Organisation Jaish-e-Mohammad für den Anschlag verantwortlich gemacht und impliziert, dass der pakistanische Staat verantwortlich wäre. Pakistan hat verleugnet, etwas damit zu tun zu haben. Am 26. Februar gingen dann zwei Luftangriffe auf pakistanischem Gebiet von Indien aus. Am nächsten Tag schoss das pakistanische Militär zwei indische Kampfjets ab und nahm einen Piloten fest. Das löste politischen Druck auf die indische Regierung aus. Dass der Pilot innerhalb von vier Tagen wieder nach Indien zurückgeführt wurde, zeigte wiederum diplomatisches Entgegenkommen von pakistanischer Seite. Die pakistanische Regierung, mit dem seit Juli 2018 amtierenden Pemierminister Imran Khan, hat Gespräche und Verhandlungen angeboten. Aber Indien steht kurz vor den Wahlen, also konnte man dort politisch von der Situation durch eine angriffslustige und feindselige Einstellung gegenüber Pakistan profitieren.
Der Anschlag in Pulwama wurde von der islamistischen Organisation Jaish-e-Muhammad (JeM) ausgeführt. Welche Rolle spielt die Organisation in Kaschmir?
JeM hat sich zu dem Anschlag in Pulwama bekannt. Die Organisation ist auch schon in der Vergangenheit gegen das indische Militär vorgegangen. Auch für den Anschlag 2001 auf das indische Parlament war JeM verantwortlich. Doch in den letzten Jahren hat sich die Organisation auf Druck der pakistanischen Regierung hin mehr im Untergrund aufgehalten. Jetzt steht sie unter einem noch höheren Druck.
Jaish-e-Muhammad soll von dem pakistanischen Geheimdienst ISI gegründet worden sein.
Maulana Masood Azhar gründete Jaish-e-Mohammed nach seiner Entlassung aus dem indischen Gefängnis im Dezember 1999. Zu dieser Zeit hat der Geheimdienst ISI alle Gruppen unterstützt, die in Kaschmir gegen die indische Besatzung gekämpft haben. Diese Gruppen haben auch meist den pakistanischen Teil von Kaschmir als Stützpunkt genutzt. Der Geheimdienst hatte Einfluss auf verschiedene militante Gruppen, er lud quasi jede Gruppe dazu ein, im indischen Teil Kaschmirs zu kämpfen. Diese Kämpfe von separatistischen und teilweise islamistischen Gruppen unterstützten den pakistanischen Standpunkt zu Kaschmir.
JeM will, dass das durch Indien verwaltete Kaschmir zu pakistanischem Gebiet wird, weil es mehrheitlichen muslimisch ist. Wie sehen das die Menschen, die im durch Indien verwalteten Teil Kaschmirs wohnen?
Kaschmiris sollten selbst über ihr Schicksal entscheiden können - und darüber, ob sie unabhängig sein möchten oder Teil Pakistans oder Indiens. Es sollte ein Referendum geben, wie das der UN-Sicherheitsrat schon 1949 in einer Resolution verkündet hat. Man kann ohne ein Referendum gar nicht wissen, was die Bevölkerung will.
Welchen Einfluss haben die anstehenden Wahlen in Indien darauf, wie Indien mit dem Konflikt umgeht?
Pakistan ist immer Thema während der indischen Wahlen. Die Parteien nutzen das Thema Pakistan, um das Wohlwollen der Bevölkerung zu gewinnen. Indien hat sich immer weiter von den UN-Resolutionen entfernt und sich dem Dialog ganz verweigert. Besonders die aktuelle indische Regierung, Modis Regierung, ist in den letzten Jahren äußerst rücksichtslos mit den Protesten in Kaschmir umgegangen.
Also kann man sagen, dass die Modi-Regierung repressiver in Kaschmir vorgeht als ihre Vorgänger?
Ja, auf jeden Fall. Es gibt eine neue Generation von Kaschmiris, Teenager und junge Erwachsene, die im Schatten der Gewalt und in der Präsenz von Armee und paramilitärischen Kräften aufgewachsen sind. Die also den Zustand der Belagerung erlebt haben. Und es sind diese jungen Leute, die sich den militanten Gruppen anschließen und die indischen Autoritäten nicht anerkennen wollen. 2016 hat das Militär begonnen, sogenannte pellet guns zu nutzen, durch die mehrere Hundert Menschen erblindet sind. Es ist eine ungewohnte Art von Repression, die wir seit Juli 2016 beobachten können. Erst letzten Monat besuchte Modi Srinagar, und die ganze Stadt musste dafür stillgelegt werden.
Indische Medien wurden dafür kritisiert, dass sie den Krieg befürwortet und die Stimmung weiter angeheizt hätten, während pakistanische Medien mehr zur Mäßigung aufgerufen hätten. Stimmt das so?
Wenn ich das als Pakistani sage, wird sich das vielleicht subjektiv anhören. Aber wenn es nach den indischen Medien gegangen wäre, wären beide Länder jetzt im Krieg. Die Berichterstattung war sehr emotional und unprofessionell. Der Diskurs hier in Pakistan orientierte sich mehr an den Aussagen des Premierministers und des Armeechefs, die Indien dazu aufriefen, das Problem nicht weiter zu politisieren. Jedoch hat das pakistanische Narrativ seine Schwächen, besonders wegen der Interaktionen Pakistans mit militanten Gruppen in der Vergangenheit. Daher akzeptieren viele Länder das pakistanische Narrativ nicht.
Was ist der Grund für diese extremen Reaktionen in Indien?
In Indien ist eine absolute Mehrheit des Parlaments von rechten Abgeordneten besetzt. In Pakistan hingegen haben rechte Parteien, die Jamaat-e-Islami oder andere religionspolitische Parteien nie mehr als fünf bis sechs Prozent der Stimmen erhalten. Das ist es, was die Welt ignoriert: Rechtsextreme, Nationalisten und Hardliner regieren Indien.