Titelseite ak
ak Newsletter
ak bei Diaspora *
ak bei facebookak bei Facebook
Twitter Logoak bei Twitter
Linksnet.de
Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 648 / 16.4.2019

Gegen Weltmachtvisionen und Austeritätspolitik

Diskussion Auch in Boomzeiten der Rechten und Nationalist*innen muss die EU kritisiert werden - von links

Von Jens Renner

Der Philosoph war einigermaßen ratlos: Wo bleibt die proeuropäische Linke? Eingeladen, über »neue Perspektiven für Europa« zu sprechen, gestand Jürgen Habermas gleich zu Beginn seiner Rede: »neue habe ich nicht«. (1) In der Tat. Seine aktuellen Vorschläge decken sich weitgehend mit dem, was er schon 2003, zusammen mit seinem französischen Kollegen Jacques Derrida, in dem Essay »Nach dem Krieg: Die Wiedergeburt Europas« gefordert hatte. (FAZ, 31.5.2003) Habermas und Derrida schrieben damals: »Europa muss sein Gewicht auf internationaler Ebene und im Rahmen der UN in die Waagschale werfen, um den hegemonialen Unilateralismus der Vereinigten Staaten auszubalancieren.«

Das erforderte aus ihrer Sicht den kontinentalen Schulterschluss: »Im Rahmen der künftigen europäischen Verfassung darf und kann es keinen Separatismus geben. (...) Das avantgardistische Kerneuropa darf sich nicht zu einem Kleineuropa verfestigen; es muss - wie so oft - die Lokomotive sein.« Während die deutschen und französischen Lokführer bestimmen, wohin die Reise geht, sollen die Fahrgäste nicht einmal aussteigen dürfen - eine deutlich schlimmere Vision als die des »Kerneuropa«-Erfinders Wolfgang Schäuble, der seinerzeit ein »Europa der zwei Geschwindigkeiten« propagiert hatte.

Fast 16 Jahre später beklagt Habermas innereuropäische Blockaden, einen insgesamt »traurigen Status quo« und speziell den »zögerlichen Fortgang der Verhandlungen über die europäische Verteidigungspolitik«. An der Asylpolitik, die in Wahrheit eine Asylverhinderungspolitik ist, missfällt ihm vor allem, dass sie »immer wieder an der Verteilungsfrage scheitert«. Was der deutsche Philosoph fordert, ist mehr als ein »laues Bekenntnis zu Europa«. Vor allem will er mehr Tempo auf dem eingeschlagenen Weg, sieht aber nur »völlig uneindeutige« Positionen bei Liberalen und Konservativen, einen »Riss« gar bei den Linken.

»Mehr Europa wagen«?

Das Europawahlprogramm der deutschen Linkspartei gab es zum Zeitpunkt seiner Rede noch nicht. Einen Riss hat der Parteitag im Februar in Bonn vermieden. Wer es fertig bringt, wenigstens die Präambel des Programms zu lesen - was schwerfällt - sieht aber die streitenden Fraktionen förmlich vor sich. Da findet sich für alle etwas, am meisten natürlich für die reformorientierte Mehrheitsfraktion. Die will einen »Neustart« der EU, »Mehr Europa wagen!«, um »die europäische Idee und die Europäische Union zu retten«. Was hätte Rosa Luxemburg, die Namensgeberin der parteinahen Stiftung und begnadete Polemikerin, zu diesem Schmus zu sagen gehabt? Immerhin dürfen sich auch die linken Linken über die eine oder andere Formulierung freuen: offene Grenzen nach außen und innen, die Bereitschaft zum Regelverstoß oder den »Mut, uns mit den Mächtigen anzulegen«. Letzteres mit einem klaren Ziel: »Wir wollen ein solidarisches, ein sozialistisches Europa.«

Der Weg dahin bleibt notgedrungen im Dunkeln. Gemäß Gregor Gysis Weisung, das Positive in den Vordergrund zu stellen, enthält der Text eine Fülle wohlklingender Adjektive über die Politik der von links reformierten EU: geeint, friedlich, ökologisch gerecht und inklusiv möge sie sein - oder wenigstens besser, sozialer, ökologischer, gerechter als bisher -, fair und solidarisch durch soziale Mindeststandards, gute Arbeit und armutsfeste Rente. Was auf dem Weg dahin noch fehlt: »eine neue Erzählung von Europa«. Aber auch die ist schon in Arbeit. (siehe Kasten)

Was Sprechblasen und heiße Luft angeht, hat die Konkurrenz von DIEM25, der Bewegung für ein demokratisches Europa 2025, noch deutlich mehr zu bieten als die Linkspartei. Für die Truppe um den ehemaligen griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis, die Ende Mai in mehreren Ländern, auch Deutschland, zur Wahl antreten will, ist die EU irgendwann vom guten Weg abgekommen: »Die Europäische Union hätte der sprichwörtliche Leuchtturm sein können, sie hätte der Welt zeigen können, wie aus jahrhundertelangen Konflikten und Bigotterie Frieden und Solidarität entstehen können.« Verhindert habe das »ein böser Betrug« - eine »Verschwörung kurzsichtiger Politiker, ökonomisch naiver Beamter und in Finanzdingen inkompetenter Experten« habe sich dem Diktat der Konzerne »sklavisch« unterworfen. Deren Macht will DIEM25 brechen - durch »echte Demokratie« und »volle Transparenz«. Subjekt der Demokratisierung sind »die Völker Europas«. Das von diesen zu erkämpfende »Europa der Vernunft, der Freiheit, der Toleranz und der Fantasie« ist auch in diesem Manifest durch eine Sammlung von Adjektiven beschrieben: Es ist nicht nur demokratisch und transparent, sondern auch egalitär, kultiviert, produktiv, kreativ, friedlich, ökologisch und vieles mehr. (2)

Offenbar halten sowohl Linkspartei als auch DIEM25 blumige Versprechen für unverzichtbar, um Menschen zur Stimmabgabe zu motivieren. Vielleicht liegen sie damit gar nicht so falsch. Aber auch ohne Pathos und Geschwurbel ist die Bedeutung der diesjährigen Wahlen zum Europäischen Parlament (EP) offensichtlich. In etlichen EU-Ländern erwarten extrem rechte Parteien Rekordergebnisse. Das hat sogar die Sozialdemokratie und die Parteien der bürgerlichen Mitte aufgeschreckt. Sie fürchten um Mandate und Ressourcen. Dass sie mit ihrer Politik seit Jahren den Rechten den Weg ebnen, ist offensichtlich. Diese Politik muss radikal kritisiert werden, gerade auch im Vorfeld der Wahlen.

Das Europa des Rassismus und Neoliberalismus

Die EU-Bürger*innen leben unter sehr ungleichen Bedingungen. Das mit der Einführung des Euro verbundene Versprechen einer schrittweisen Angleichung der Lebensverhältnisse wurde nie eingelöst. Die neoliberale Politik der Privatisierungen und Deregulierungen - durch die Deutschland in großen Teilen zum Niedriglohnland wurde - hat die Ungleichgewichte noch verstärkt. Auch eine Sozialunion ist die EU nicht geworden - im Gegenteil: Der Zugang zu Transferleistungen hängt weiterhin von der Staatsangehörigkeit ab. Das soll eine »übermäßige Inanspruchnahme« der Sozialsysteme verhindern, wie der EuGH in einem Grundsatzurteil verfügte.

Das mörderische Grenzregime der EU wird immer weiter ausgebaut - siehe die Aufstockung von Frontex und die Kollaboration mit Libyen, wo Geflüchtete unter brutalsten Bedingungen eingesperrt werden. Diejenigen, die es auf lebensgefährlichen Wegen nach Europa schaffen, sehen sich mit Diskriminierung und institutionellem Rassismus konfrontiert.

Im globalen Maßstab versucht die EU, andere Weltmarktakteure zu verdrängen. Dazu dienen etliche bilaterale Abkommen mit Staaten in Asien und Lateinamerika. Zugleich geht der Standortwettbewerb im Inneren der EU weiter. Die Konvergenzkriterien von Maastricht begrenzen die jährliche Neuverschuldung der einzelnen Länder auf drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) und die Gesamtschuldenlast auf 60 Prozent des BIP. Das Griechenland aufgezwungene Austeritätsprogramm ist nur das bislang krasseste Beispiel für den erpresserischen Umgang der Zentrale mit der Peripherie. In Italien nutzt die Rechtsregierung Brüsseler Einmischungen in die Haushaltsgesetzgebung, um sich als unbeugsame Vertretung nationaler Interessen zu inszenieren.

Dass die Militarisierung der EU langsamer vorangeht als von ihren Betreibern gewünscht, ist nur ein schwacher Trost. Denn die Richtung ist klar - um Weltmachtpolitik auf Augenhöhe mit den USA und China zu betreiben, wird die EU immer mehr zur Militärmacht, auch ohne gemeinsame Armee. Theoretisch ließen sich all diese Entwicklungen mit linken Mehrheiten umdrehen. Aber nicht das jetzt zu wählende Europäische Parlament ist das Machtzentrum der EU, sondern der Europäische Rat, die Versammlung der nationalen Regierungen.

Die EP-Wahlen Ende Mai markieren ein Jubiläum: Vor genau 40 Jahren, am 10. Juni 1979, wurde das Europäische Parlament zum ersten Mal direkt gewählt. Im Arbeiterkampf (AK), dem Vorläufer von ak - analyse & kritik, wurde damals zur Wahlabstinenz aufgerufen, weil die zu wählende Versammlung die einflusslose »Karikatur« eines Parlaments sei und es den Herrschenden um die Verbreitung einer aggressiven »Europa-Idee« gehe, die der damalige Spitzenkandidat der CSU, Otto von Habsburg, so auf den Punkt brachte: »Das Europa der Neun ist ein Ausgangspunkt. Von diesem Europa der Neun soll später das größere Europa ausgehen. Es geht bis zu den Grenzen Russlands.« (Der Spiegel 8/1979) Diesen Großmachtvisionen erteilte der AK eine Absage. Die Polemik gipfelte in dem fett gedruckten Aufruf: »Bei dieser Wahl gibt es nichts zu wählen. Für eine niedrige Wahlbeteiligung, bleibt massenhaft zu Hause.« (AK 154, 28.5.1979)

Nach Lage der Dinge begünstigt eine niedrige Wahlbeteiligung heute die radikale Rechte. In dieser Hinsicht muss der Appell von vor 40 Jahren revidiert werden.

Anmerkungen:

1) Jürgen Habermas: Wo bleibt die proeuropäische Linke? Rede auf der Konferenz »Neue Perspektiven für Europa«, Bad Homburg, 21. September 2018. Der Text ist dokumentiert in: Blätter für deutsche und internationale Politik 12/2018.

2) DIEM25 Democracy in Europe Movement 2025. Bewegung für ein demokratisches Europa 2025: Europa demokratisieren! Europa wird demokratisiert oder es wird zerfallen! www. diem25.org.

Europa von links - das Manifest von Ventotene

Auf dem Hamburger Europaparteitag der Linken im Februar 2014 forderte Katja Kipping erstmals die Rückbesinnung auf ein besonderes historisches Dokument: das Manifest von Ventotene. Auch andere Exponent*innen der Linkspartei sprechen sich für die »kritische Wiederaneignung« dieser Schrift aus. Verfasst wurde sie 1941 von den Antifaschisten Altiero Spinelli, Ernesto Rossi und Eugenio Colorni, die auf die kleine Insel Ventotene vor der italienischen Küste zwischen Rom und Neapel verbannt waren. In einem längeren Abschnitt skizzierten sie »die europäische Einheit« als Aufgabe nach der Niederlage Nazideutschlands und seiner Verbündeten. Neben historisch bedingten und nur teilweise überzeugenden Lehrsätzen enthält das Manifest auch zeitlos Richtiges: »Die Revolution muss, um unseren Bedürfnissen gerecht zu werden, sozialistisch sein; das heißt sie muss sich einsetzen für die Emanzipation der arbeitenden Klassen und für die Schaffung humanerer Lebensbedingungen.« Revolutionäre Agitation auf dieser Grundlage dürfte das Europäische Parlament gehörig in Wallung bringen.