Titelseite ak
ak Newsletter
ak bei Diaspora *
ak bei facebookak bei Facebook
Twitter Logoak bei Twitter
Linksnet.de
Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 648 / 16.4.2019

Wir sehnen uns nach einer großen Erzählung, die uns befreit

Kultur Daria Bogdanska über die syndikalistische Kampagne »Neue Arbeiterbewegung« und ihre autobiografische Graphic Novel

Interview: Gabriel Kuhn

»Gewerkschaften sind altbacken und korrumpiert. Verändern können sie nichts.« So denken nicht wenige junge Aktivist*innen, die sich lieber in anderen Zusammenhängen organisieren. Oder gar nicht. Auch Daria Bogdanska schenkte Gewerkschaften lange keine Beachtung, obwohl sie sich immer wieder mit ihren Chefs anlegte. Bis sie nach Schweden zog und mithilfe der syndikalistischen SAC einen Sieg errang, der dort ein neues Kapitel in der Organisierung von migrantischen Arbeitskräften einleitete. Ihre Erfahrungen hat sie in der Graphic Novel »Von Unten« verarbeitet, die nun auf Deutsch erschienen ist.

Dein Buch »Wage Slaves« erschien 2016 auf Schwedisch. Jetzt ist es unter dem Titel »Von Unten« auf Deutsch erschienen. Wovon handelt es?

Daria Bogdanska: »Von Unten« ist eine autobiografische Graphic Novel über mein erstes Jahr in Schweden. Ich zog dorthin, um in eine Schule für Comiczeichner zu gehen. Ich beschreibe meinen Alltag als Migrantin: Wie kommst du zurecht in einem Land, dessen Sprache du nicht kannst? Wie findest du Freunde? Und wie baust du dir ein neues Leben auf? Und es geht darum, wie du dich unter diesen Umständen gewerkschaftlich organisieren kannst.

Hattest du Erfahrungen mit gewerkschaftlicher Arbeit, bevor du nach Schweden kamst?

Nein. Ich war zwar in verschiedenen linken und feministischen Projekten engagiert und sprach auch immer wieder Probleme am Arbeitsplatz an, aber Mitglied einer Gewerkschaft war ich nie. In Warschau gründete ich einen Fonds für Fahrradkuriere. Das war vor knapp zehn Jahren, als Fahrradkuriere noch hauptsächlich Dokumente lieferten, nicht Essen. Unsere Arbeitsbedingungen waren katastrophal. Wir hatten keine Verträge, keine Unfall- oder Krankenversicherung. Wenn wir ein Problem mit dem Fahrrad hatten, waren wir völlig auf uns alleine gestellt. So initiierte ich einen Fonds, in den Mitglieder einzahlen konnten, damit es in solchen Fällen gemeinsame Ressourcen gab. Eine Art selbstverwaltete Versicherung. Den »Warschauer Notfallfonds für Fahrradkuriere« gibt es bis heute.

Wo nimmst du die Kraft her, um dich gegen Ungerechtigkeiten am Arbeitsplatz aufzulehnen? Zig Tausende befinden sich in ähnlichen Situationen.

Was ältere Gewerkschaftsaktivisten selten verstehen, ist wie bedeutungslos Gewerkschaften den meisten jungen Menschen erscheinen. Sie werden als Teil eines Systems betrachtet, das uns tagtäglich verarscht; erstarrte Institutionen, die nichts verändern und nichts mit unserer Lebensrealität zu tun haben. Ich hatte, bis ich 29 Jahre alt war, nie einen Arbeitsvertrag unterschrieben, obwohl ich - wie so viele meiner Generation - tausende verschiedene Jobs hatte. Bevor ich nach Schweden kam, dachte ich nie an gewerkschaftliche Organisierung.

Was war in Schweden anders?

Es gibt hier noch ein relativ starkes Bewusstsein, was die Bedeutung gewerkschaftlicher Organisierung betrifft. Auch in meiner Generation. Es ist nicht uncool, wenn sich junge Menschen gewerkschaftlich organisieren. Es existiert nach wie vor der Glaube, dass das zu gesellschaftlicher Veränderung beitragen kann. Und die Leute haben recht. Ich bin in meinem Leben immer wieder mit Arbeitskollegen zum Chef gegangen, um höhere Löhne einzufordern. Die Antwort war immer die gleiche: »Wenn ihr nicht zufrieden seid, dann verschwindet. Leute stehen Schlange, um für eure Löhne zu arbeiten.« Ohne Gewerkschaft kannst du gegen diese Verhältnisse nichts machen. Dann kamen in Malmö noch spezifische Umstände hinzu.

Und die waren?

Ich merkte, dass an meinem Arbeitsplatz unterschiedliche Gehälter bezahlt wurden. Arbeiter aus Südasien bekamen fünf Euro in der Stunde, ich sechs und schwedische Kolleginnen sieben. Struktureller Rassismus spielt hier eine Rolle, aber Ethnizität alleine war nicht ausschlaggebend. Mein Chef war aus Bangladesch. Es war schlicht ein Beispiel für die Gesetze kapitalistischer Ausbeutung: Je verzweifelter und abhängiger du bist, desto mehr werden deine Löhne gedrückt. Die Arbeiter aus Südasien waren von ihrem Chef abhängig und mussten die Schulden zurückzahlen, die sie aufgenommen hatten, um überhaupt nach Schweden zu kommen. Die schwedischen Angestellten hingegen brauchten den Job nicht unbedingt. Es handelte sich oft um Studierende, die auf ein bisschen Extrakohle und kostenloses Bier aus waren. Ich lag irgendwo dazwischen. Ich fand das Ganze eklig und musste etwas tun.

Und so gingst du zur Gewerkschaft?

Ja. Wobei die meisten Gewerkschaften nichts mit mir zu tun haben wollten. Ich hatte keinen Arbeitsvertrag und keine Steuernummer. Ich hörte immer nur: »Besorge dir eine Steuernummer und unterschreibe einen Arbeitsvertrag, dann kannst du dich wieder melden.« Die einzige Gewerkschaft, die sich für meinen Fall interessierte, war die SAC.

Die schwedischen Syndikalisten?

Ja.

Aber auch dort verliefen die ersten Treffen enttäuschend.

Die SAC ist mit 3000 Mitgliedern eine relativ kleine Gewerkschaft. Der Kern derjenigen, die aktiv sind, ist noch viel kleiner. Die Leute sind oft erschöpft und desillusioniert. Das war auch mein erster Eindruck, als ich mit der Ortsgruppe in Malmö in Kontakt trat.

Trotzdem gabst du der SAC eine Chance?

Ich hatte nicht viele Wahlmöglichkeiten. Bei der SAC hörte man mir wenigstens zu. Wichtig war, dass ich über Freunde mit SAC-Mitgliedern im ganzen Land in Verbindung treten konnte. Da gab es einige, die sehr hilfreich waren. Diese Leute machten mir Mut. Dank ihrer Unterstützung verfestigte sich mein Glaube, dass sich der Kampf gegen die Ungerechtigkeiten an meinem Arbeitsplatz wirklich auszahlen könnte.

Was er zu guter letzt auch tat, aber wir wollen hier nicht zu viel verraten. Bleiben wir bei der SAC: Du bist dort inzwischen selbst aktiv. Stimmst es, dass du mittlerweile im Vorstand der Ortsgruppe in Malmö bist?

Um Himmels Willen, nein! Ich bin eine miese Bürokratin. Ich bin heilfroh, dass es Menschen gibt, die diese Arbeit machen. Sie ist notwendig. Aber sie ist nichts für mich. Es dauerte mehrere Jahre, bis ich die Organisationsstruktur der SAC verstand. Komitees, Sitzungen, Tagesordnungen - alles ist so formell. Es war nicht leicht, meinen Platz zu finden.

Aber du bist in eine Kampagne in Malmö involviert, die eine Vorbildfunktion für die SAC im ganzen Land hat: die »Neue Arbeiterbewegung«. Kannst du davon erzählen?

Ausgangspunkt war eine einfache Bestandsaufnahme: Die etablierten Gewerkschaften verlieren immer mehr Einfluss und können viele der heutigen Erwerbstätigen - Junge, Prekäre, Migranten - nicht aufnehmen. Das bietet Organisationen wie der SAC eigentlich eine große Chance, aber diese wird nicht wahrgenommen. Warum? Weil man sich auch dort der neuen Situation nicht anpasst.

Und wie tut man das?

Wir sprechen von verschiedenen Ebenen: Erstens braucht man eine Identität, die Menschen anzieht. Die SAC kümmert sich um sehr wichtige Dinge. Aber das alleine reicht heute nicht, um als Organisation attraktiv zu sein. Es müssen Sachen passieren, die Organisation muss sichtbar sein, es braucht Action. Zweitens bedarf es einer anderen Organisationsstruktur. Es muss um vieles einfacher werden, in der Organisation Fuß zu fassen. Es bedarf Kampagnen, in denen man sich unmittelbar engagieren kann, auch wenn man keine Ahnung von syndikalistischer Geschichte oder dem schwedischen Arbeitsrecht hat. Und schließlich ist eine andere Organisationskultur nötig: Wir müssen offen und einladend sein, Menschen miteinander vernetzen und uns umeinander kümmern.

Was genau ist das »Neue« an der Neuen Arbeiterbewegung?

Das ist in erster Linie ein PR-Trick. Wie gesagt, man muss Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Das ist in einer Welt mit unendlicher Information nicht leicht. »Neue Arbeiterbewegung« klingt spannend. Aber es lässt sich auch inhaltlich aufladen. Zum Beispiel geht es darum, an wen wir uns wenden und wie. Wir brauchen Arbeiterorganisationen, die der Realität der heutigen Arbeiterklasse entsprechen. Diese beinhaltet viele Frauen und Migranten. Für sie muss deutlich sein, dass die Organisation sie repräsentiert. Ästhetische Aspekte sind von besonderer Bedeutung: Wie stellen wir uns öffentlich dar? Wir können von Sozialen Medien halten, was wir wollen, aber wenn wir uns ihrer nicht bedienen, haben wir verloren. Ohne sie ist es unmöglich, jüngere Generationen zu erreichen. Visuelle Kommunikation ist das A und O. Organisationen, die mit diesen Entwicklungen nicht Schritt halten, werden nicht überleben.

Als ich dich für das Interview anfragte, meintest du: »Sehr gut, ich rede liebend gerne über Klassenpolitik 2.0!« Ist Klassenpolitik 2.0 dasselbe wie die Neue Arbeiterbewegung?

Nein. Die Neue Arbeiterbewegung ist eine Kampagne, die wir in Malmö betreiben. Da geht es um ganz konkrete Sachen: Wo findet das nächste Treffen statt? Welchen Videoclip sollen wir lancieren? Klassenpolitik als solche ist viel größer. Da geht es um andere Fragen: Wie sieht die Arbeiterklasse heute aus? Ist sie homogen? Eine Multitude? Gibt es sie überhaupt noch?

Und?

Natürlich gibt es die Arbeiterklasse noch. Aber Linke haben oft ein sehr verklärtes Bild von ihr. Klassennostalgie ist ein linkes Laster. Man trauert einer Arbeiterbewegung vergangener Tage nach und bedient sich wehmütig ihrer Sprache. Man redet von »Produktionsverhältnissen« und »proletarischem Bewusstsein«. Aber damit lockst du heute niemandem hinter dem Ofen hervor. Um Sachen bewegen zu können, bedarf es einer anderen Erzählung.

Und die sieht wie aus?

Wir hören oft, wie zynisch die heutige Jugend sei. Es ginge ihr nur noch um Ironie, nichts würde ernst genommen. Aber in Wirklichkeit handelt es sich um einen Schutzmechanismus. Wir wissen, dass wir keine Zukunft haben, aber nicht, was wir dagegen tun können. Deshalb wird über alles gelacht. Doch in Wirklichkeit sehnen wir uns nach einer Wahrheit, nach einer großen Erzählung, die uns befreit. Wir wollen, dass uns jemand aufrüttelt und sagt: »Nein, es ist nicht alles relativ. Es geht nicht immer nur um dich!« Diese Sehnsucht drückt sich auch in heutiger Popkultur aus. Sie besteht aus nichts anderem als Remakes. Nur wenn wir diese Sehnsucht auffangen und mit jungen Menschen in ihrer Sprache kommunizieren, können wir sie für Organisationen gewinnen. Die meisten Leute wissen sehr genau, was Unsicherheit, Prekarisierung und Verarmung bedeuten. Sie erleben es jeden Tag an der eigenen Haut. Niemand muss das »Kommunistische Manifest« zitieren, um ihnen das zu verklickern. Versteh mich nicht falsch: Ich bin selbst Marxistin. Aber wir müssen im Hier und Jetzt agieren.

Was bedeutet das für unser Verständnis der Arbeiterklasse?

Wir werden alle einer Gehirnwäsche unterzogen. Menschen glauben tatsächlich, dass sie irgendwann einmal auch reich sein werden. Aber die Wahrheit ist: Die allermeisten von uns werden das nie sein. Wir werden u+nser ganzes Leben gezwungen sein zu malochen. Die Frage ist: Akzeptieren wir das oder wollen wir über unser Leben selbst bestimmen? Es gibt eine Sache, die mir Hoffnung macht, auch wenn das auf den ersten Blick paradox erscheinen mag: Klassenbewusstsein ist unerhört wichtig, um unsere Gesellschaft und die eigene Position in ihr zu begreifen. Aber ich finde es positiv, dass junge Menschen sich nicht ausschließlich über ihre Identität als Arbeiter definieren. Das könnte sie in Kategorien einsperren, die wir letzten Endes überwinden müssen. Schließlich wollen wir eine Gesellschaft aufbauen, in der niemand malochen muss. Wenn uns das gelingt, dann sind wir zuhause.

Daria Bogdanska: Von Unten, Übersetzung aus dem Schwedischen von Katharina Erben. avant-verlag, Berlin 2019. 199 Seiten, 22 EUR.

Daria Bogdanska

wuchs in Warschau auf, spielte in Punk-Bands und arbeitete in mehreren Jobs, unter anderem als Kindergärtnerin, Fahrradmechanikerin und Kellnerin. Nach Aufenthalten in mehreren europäischen Ländern zog sie 2013 nach Malmö, um dort eine Volkshochschule für Comiczeichner*innen zu besuchen.

»Von Unten«: Das erste Jahr in Schweden

Die Graphic Novel »Von Unten« beschreibt Darias Bogdanskas erstes Jahr in Schweden: Die Schwierigkeiten, sich im bürokratischen Dschungel zurechtzufinden ebenso wie die frustrierende Arbeitssuche und die Herausforderungen, die mit dem Aufbau neuer persönlicher Beziehungen verbunden sind. Ein zentraler Aspekt ist Darias Bemühen, die Angestellten des Restaurants, in dem sie arbeitet, zu organisieren sowie der folgende Konflikt mit ihrem Chef, den sie mithilfe der Unterstützung einer engagierten Journalistin und der syndikalistischen Gewerkschaft SAC gewinnt. Die Geschichte macht das Potenzial basisgewerkschaftlicher Organisierung deutlich, aber auch den Mut, den diese erfordert. »Von Unten« ist unterhaltsam, inspirierend und berührend.

Gabriel Kuhn