Die Materialität des Digitalen
Diginomics Das Internet verfestigt die westlichen Erzählungen von Konsumismus, Fortschritt und weißer Vorherrschaft
Von Annika Kettenburg
Als informierte Bürger*innen sind wir uns bewusst, dass digitale Technologien der Kapitalakkumulation dienen und die Macht der Tech-Giganten vergrößern. Wir sehen, wie sie die Digitalisierung von Produkten und Dienstleistungen als Weg zu einer Wirtschaft mit weniger Umweltbelastungen anpreisen und wie das den IT-Konzeren nutzt. Wir wissen auch, dass Rechenzentren, das Rückgrat des Internets, enorm viel Strom verbrauchen, und wir haben Bilder von giftigem Elektroschrott im Kopf. Seit Edward Snowden fühlen wir uns unwohl, wenn wir an die Fähigkeiten der Geheimdienste denken, bis in unser Wohnzimmer vorzudringen. Und als offenkundig war, dass Manipulationen in Trumps und Bolsonaros Wahlkampf eine Rolle gespielt hatten, hörten wir auf damit, die Möglichkeiten, Nachrichten fälschen zu können, zu unterschätzen.
Es gibt jedoch Themen, die die Medien in der Regel ignorieren. Zum Beispiel ist erstens völlig unterbelichtet, dass die Materialität der digitalen Sphäre weit über ihre physische Infrastruktur hinausgeht. Sie umfasst die gesamte Wertschöpfungskette der Strom- und Hardwareproduktion, die für den Zugang zum Digitalen notwendig ist - vom Bergbau und der Herstellung über die Verteilung bis hin zur Entsorgung. Auch erneuerbare Energien haben ihren Preis. Abgesehen vom Betrieb der Rechenzentren macht die Produktion von Endgeräten den größten Teil der CO2-Bilanz des Internets aus. Wir nutzen nicht nur mehr Elektronik mit kürzeren Laufzeiten, sondern das Eindringen des Internets in alle Lebensbereiche verändert auch unser gesamtes Konsumverhalten. Wir lesen weniger Bücher, wir schauen Netflix. Auf Instagram lassen wir uns für unser nächstes Urlaubsziel inspirieren - dank des Internets war die Reiseplanung noch nie so einfach.
In der industriellen Produktion sind versteckte Umweltkosten und Rebound-Effekte (1) gut belegbar, in der digitalen Sphäre sind sie weniger sichtbar. Und sie ist es, in der die vorherrschende Erzählung von Wachstum und Fortschritt über den ganzen Globus verbreitet wird - wodurch die Materialbilanz weiter ausgebaut wird.
Zweitens entstehen digitale Technologien nicht zufällig oder aus einer logischen Notwendigkeit heraus. Ihre Entwicklung folgt Interessen. Jeden Tag treffen Manager*innen und Risikokapitalgeber Entscheidungen über die Finanzierung von Projekten - und diese beruhen auf Profitaussichten und Ideologien.
Unterwasserkabel folgen kolonialen Handelsrouten
Stärker als jeder physische Raum bleibt die digitale Sphäre frei von Regulierung. Die Ideale von offenem Wissen und Basisorganisation sind von wenigen Konzernen in eine Datenextraktion des Nutzerverhaltens umgewandelt worden. Aber anstatt zu protestieren, begrüßen und schätzen wir die Monopolisten und ihr Eindringen in unser Privatleben, wünschen uns eine neue Smartwatch und verehren Elon Musk.
Drittens sorgen die Datenwirtschaft und die dort verbreitete Vorstellung der kreativen Zerstörung dafür, dass wir die anhaltende westliche Dominanz aus den Augen verlieren. Nicht nur das globale Netzwerk der Unterwasserkabel folgt den kolonialen Handelsrouten. Die Nachfrage des Internets nach Energie und Hardware trifft marginalisierte Gemeinschaften oft am härtesten. Ihre Rohstoffvorkommen werden geraubt und ihr Wasser verschmutzt. Sie werden für einen neuen Staudamm zwangsumgesiedelt und gedrängt, unter gefährlichen Bedingungen in Metallminen oder Fabriken zu arbeiten.
Kürzlich gab der Film »The Cleaners« den philippinischen Content-Moderator*innen, die gewaltverherrlichende und pornografische Inhalte auf Social-Media-Plattformen löschen, ein Gesicht. Die Technologien für den Internetzugang sind von ungleichen Austauschbeziehungen zwischen Nord und Süd geprägt. Ohnehin profitieren sie von Preisunterschieden und Externalitäten. (2) So verewigt das Internet Aneignungsmuster und setzt die Globalisierung der westlichen Kultur und ihrer Erzählungen von Konsumismus, wirtschaftlichem Fortschritt und weißer Vorherrschaft fort.
Diese drei oft übersehenen Beispiele zeigen, dass das Internet ein Fall für die politische Ökologie ist. (3) Die Anwendung von Theorien aus der politischen Ökologie kann unser Verständnis vom Internet und seinen sich verändernden Machtverhältnissen, seinen Gewinner*innen und Verlierer*innen erweitern. Die politische Ökologie kann dazu beitragen, die vorherrschende Wahrnehmung digitaler Technologien als unpolitische Instrumente in Frage zu stellen.
Die oben genannten Beispiele zeigen Probleme, auf die politische Ökolog*innen in ihren Arbeiten oft hinweisen. Aber das Internet kann auch Problemlösungen widersprechen, von denen allgemein angenommen wird, das es sie lösen kann. Als Beispiele möchte ich zwei problematische Tendenzen aufzeigen, die sich aus der zunehmenden Komplexität ergeben.
Zahlen sind nicht objektiv
Erstens inspiriert das exponentielle Wachstum der verfügbaren Daten die Wissenschaftler*innen zu immer mehr globalen Modellierungen. Die renommiertesten Zeitschriften der Nachhaltigkeitsforschung spiegeln diesen Trend wider und veröffentlichen häufiger Studien zu allgemeinen Trends. Ihre stets präziser und umfassender werdenden Quantifizierungen der Realität sind in der Lage, das Ausmaß der weltweiten Veränderungen aufzuzeigen.
Doch durch die Betonung scheinbar objektiver Zahlen könnten die (unbewussten) Entscheidungen in den Hintergrund treten, die bei der Problemformulierung, bei der Wahl der Methode und Datenauswahl sowie bei den abgeleiteten Empfehlungen getroffen wurden. Diese Studien stehen im Widerspruch zur Forderung der politischen Ökologie nach lokalisiertem Wissen, kontextuellen Erklärungen und Erzählungen. Diese zeigen eine Komplexität auf, die nicht bekannt und kalkulierbar, sondern nur verhandelbar ist.
Zweitens beflügelt die zunehmend vernetzte Welt und ihre Informationsflut unseren Wunsch nach einfachen Geschichten, nach Orientierung. Sie stellt einen Nährboden für Verschwörungstheorien und Populismus dar. In einem beispiellosen Ausmaß werden Nachrichten und wissenschaftliche Studien zu Instrumenten politischer Kampagnen, von Machtkämpfen. Algorithmen, die die User*innen auf Plattformen halten, verstärken diese Tendenz, indem sie die Radikalisierung fördern und Echokammern schaffen. Dies wird das Fundament der Demokratie zerstören: die verschiedenen Informationsmöglichkeiten, die notwendig sind, um ausgewogene Entscheidungen treffen zu können.
Die digitale Sphäre in ihrer gegenwärtigen Form verstärkt Ausbeutung und Herrschaft; sie birgt Machtkämpfe und hinterlässt materielle Fußabdrücke. Das Internet hat jedoch immer noch das Potenzial, offenes Wissen, Selbstorganisation, Dezentralisierung und lokale Autonomie zu fördern. Es gibt alternative technologische Möglichkeiten für postkapitalistische Szenarien. (4)
Annika Kettenburg studiert Umwelt- und Nachhaltigkeitswissenschaften in Lund, Schweden. Der Beitrag erschien am 21.2.2019 unter dem Titel »The Internet - a case for political ecology?« auf entitleblog.org, ein Blog, das über polit-ökologische Themen berichtet und diskutiert.
Übersetzung: Guido Speckmann
Anmerkungen:
1) Mit Rebound-Effekt (englisch für Abprall- oder Rückschlageffekt) werden in der Energieökonomie mehrere Effekte bezeichnet, die dazu führen, dass das Einsparpotenzial von Effizienzsteigerungen nicht oder nur teilweise verwirklicht wird.
2) Externe Effekte (Externalitäten) sind Kosten und Nutzen, die in der Produktion oder beim Konsum entstehen, jedoch nicht beim Verursacher anfallen, sondern bei Aussenstehenden. Sie wirken am Markt vorbei und sind deshalb nicht in den Marktpreisen berücksichtigt.
3) Die Politische Ökologie befasst sich mit den Auswirkungen menschlichen Handelns auf Ökosysteme, in Bezug auf dessen politischen und gesellschaftlichen Rahmen. Auch werden die Wechselwirkungen zwischen abiotischen, biotischen und menschlich gestalteten Faktoren untersucht. Die Politische Ökologie ist ein relativ junger Zweig der Sozialwissenschaften.
4) Vgl. Vasilis Kostakis: Are there alternative trajectories of technological development? A political ecology perspective, online: entitleblog.org 6.10.2017.