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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 649 / 21.5.2019

Aufgeblättert

Toni Negri

Unter dem Titel »Über das Kapital hinaus« erscheinen Toni Negris gesammelte Vorlesungen über Marx' »Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie« das erste Mal in deutscher Übersetzung. Gehalten hatte er sie 1977 auf Einladung von Louis Althusser in Paris. In den Texten lässt sich die operaistische Marx-Lektüre wiederentdecken, die immer daran interessiert ist, in den Widersprüchen der gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsbedingungen emanzipatorische Potenziale kollektiver politischer Organisierung auszuloten. Fundamentaler Baustein der operaistischen Theoriebildung ist eine Analyseperspektive, welche die Kreativität und Handlungsmacht lebendiger Arbeit als primären Motor gesellschaftlicher Entwicklung versteht. Das Kapital könne demnach nur auf die revolutionäre Subjektivität der Arbeitskraft reagieren und versuchen, diese durch eine fortwährende gesellschaftliche Integration zu verwerten. So schreiben sich die Erfahrungen politischer Kämpfe direkt in die Theoriebildung ein, und gleichzeitig richtet sich diese auch immer nach vorn. Dieser Perspektive begegnen wir auf fast jeder Seite. In den Vorlesungen sieben bis neun können wir Negris Auseinandersetzung mit dem sogenannten Maschinenfragment nachvollziehen. Dieses Textfragment aus den »Grundrissen« bildet den Ausgangspunkt zahlreicher Auseinandersetzungen um die Widersprüche der zunehmenden Kybernetisierung des Produktions- und Distributionsprozesses, beispielsweise der Debatte um immaterielle Arbeit.

Rabea Berfelde

Toni Negri: Über das Kapital hinaus. Karl Dietz Verlag, Berlin 2019. 264 Seiten, 29,90 EUR.

Butler-Comic

Nach Adorno, Foucault, Marx, Bourdieu, Arendt, Benjamin u.a. hat sich der Illustrator Ansgar Lorenz in der von ihm gezeichneten Reihe »Philosophie für Einsteiger« jetzt Judith Butler vorgenommen. Sein Autor ist einmal mehr René Lépine, der bereits den Textteil der Bourdieu-Einführung und der »Klassiker der Soziologie« in der Reihe übernommen hatte. Der entscheidende Schritt bei Butler ist das Verständnis des biologischen Geschlechts als Effekt von Diskursen. Damit hat Butler nie die geschlechtliche Existenz geleugnet, sondern vielmehr deren Essenzialität. Dennoch bleibt auch für Butler eine feministische Identitätspolitik - mit einem gewissen Unbehagen - Bezugspunkt. Starke Bedeutung misst Lépine den theoretischen Bezugspunkten Butlers bei, vor allem der strukturalistischen Linguistik. Auch die Debatten um Judentum und Israel nehmen einigen Platz ein. Leider fehlen die jüngsten Werke Butlers, die die Prekarität und den Zusammenschluss bzw. die Versammlung in den Fokus nehmen. Abgeschlossen wird der Band mit einem Glossar und Anhängen zur Geschichte des Feminismus, der Sexologie sowie der Schwulen- und Lesbenbewegung. Der Band kommt zur richtigen Zeit, in der die akademische »dritte Welle« des Feminismus als Queer Theory die Verbindung mit der sozialen Bewegung findet. Ein Einführungscomic kann dabei exakt die richtige Literatur für neue Aktivist*innen sein. Queer Theory und Politics ist dabei für einen Zeichner ein dankbares Thema, das sehr ansprechend illustriert ist.

Torsten Bewernitz

René Lépine und Ansgar Lorenz: Judith Butler. Philosophie für Einsteiger. Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2018. 120 Seiten, 19,90 EUR.

»Linksextremismus«

Hetzen und jammern - das ist nicht nur das Erfolgsrezept der AfD, sondern auch der deutschen »Extremismusforschung«. (ak 647) Viel zu sehr würden sich Sozialwissenschaftler*innen, Medien und Behörden auf die Rechte konzentrieren, so die These von Protagonist*innen dieser Pseudowissenschaft. Die vielfach beklagten Lücken bei der Erforschung des »Linksextremismus« zu schließen, ist das erklärte Ziel von Klaus Schroeder und Monika Deutz-Schroeder. Ihr antilinkes Pamphlet trägt den Titel: »Der Kampf ist nicht zu Ende. Geschichte und Aktualität linker Gewalt«. Schon das Umschlagfoto sagt alles: Vermummte Gestalten vor Rauch und Flammen »zielen auf den Umsturz der bestehenden Verhältnisse und bedrohen dazu Leib, Leben und Besitz einer friedlichen Mehrheit«. So steht es auf der Rückseite. Wer das Buch aufschlägt, findet darin einen länglichen Abriss zur Geschichte »linker Gewalt« seit 1789. Das Hauptinteresse der beiden Forscher*innen gilt aber der »aktuellen linken Gewalt«. Bei der Schilderung der Hamburger G20-Proteste halten sie auch an solchen Schreckensmeldungen fest, die von der Polizei längst klammheimlich fallen gelassen wurden: haltlosen Geschichten über angebliche Zwillenangriffe mit Stahlkugeln oder von Dächern geworfenen Gehwegplatten. So entstehen bei den Schroeders aus Falschmeldungen »Gewaltexzesse« und ein »kaum fassbares Ausmaß an linker Gewalt«, auf das die Polizei stets nur »reagiert« habe.

Jens Renner

Klaus Schroeder und Monika Deutz-Schroeder: Der Kampf ist nicht zu Ende. Geschichte und Aktualität linker Gewalt. Herder Verlag, Freiburg, Basel, Wien 2019. 299 Seiten, 26,80 Euro.

Die »neue« Türkei

Bücher über die gegenwärtige Türkei können schnell dazu tendieren, den repressiven Charakter des AKP-Regimes zu essentialisieren und damit nicht zuletzt die Risse innerhalb des Regimes zu übersehen. Oder sie laufen Gefahr, die Widerstände gegen das Regime romantisch zu überhöhen. Dieses Buch vermeidet beide Fehler. 16 kurze Beiträge von zumeist türkeistämmigen Wissensschaffenden und Journalist*innen, die sich der Zeit nach dem Putschversuch des 15. Juli 2016 widmen, zeichnen ein differenziertes Bild der Auswirkungen des niedergeschlagenen Putsches auf die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse im Land. Zahlreiche Geschlechter- und Kulturpolitiken, die hierzulande gern unter dem Begriff der »Islamisierung« verhandelt werden, reagieren eher autoritär-defensiv auf die tiefe Transformation gesellschaftlicher Verhältnisse, als dass sie eine neue konservative Epoche einleiten würden. Sowohl die Widersprüche im politischen Handeln der oppositioneller Kräfte als auch der Regierung werden deutlich. Letztere kämpft mit der Krise ihres ökonomischen Modells, während die reale Tiefe der Westintegration ihr jenen konsequenten »östlichen« Weg der Krisenbearbeitung versperrt, den sie rhetorisch beschwört. Die damit verbundenen Brüche in der AKP hätten trennschärfer herausgearbeitet werden können - führten sie doch mit zum Putschversuch und mündeten in parteiinternen Säuberungen, die ein weiteres Kapitel wert gewesen wären.

Axel Gehring

Ilker Ataç, Michael Fanizadeh, Volkan Agar, VIDC (Hg.): Nach dem Putsch. 16 Anmerkungen zur »neuen« Türkei. Mandelbaum Verlag, Wien 2019. 252 Seiten, 16 EUR.