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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 650 / 18.6.2019

Anhaltender Verfolgungseifer

Deutschland Razzien, Öffentlichkeitsfahndung und Prozesse - die Kriminalisierung der Hamburger G20-Proteste geht weiter

Von Sebastian Bähr

Mitte Mai, fast zwei Jahre nach den Hamburger G20-Protesten, feierte die Hamburger Sparkasse (Haspa) das Richtfest des Neubaus ihrer Filiale im Schanzenviertel, die während der Randale im Juli 2017 zerstört worden war. Olaf Scholz (»Polizeigewalt hat es nicht gegeben!«), damals Hamburgs Erster Bürgermeister, jetzt Bundesfinanzminister und Vizekanzler, ist nach dem Rücktritt von Andrea Nahles gar als neuer SPD-Chef im Gespräch. Auch wenn sich die Welt weiter dreht - das Echo der Protesttage ist nach wie vor zu vernehmen. Der Staat hat bis heute nichts von seinem Verfolgungseifer verloren: Immer noch gibt es alle paar Monate neue Hausdurchsuchungen und Öffentlichkeitsfahndungen. Weiterhin laufen brisante Gerichtsverfahren, deren Ausgang das deutsche Demonstrationsrecht auf Jahre prägen könnte. Der Franzose und vermeintliche G20-Protestierer Loic S. sitzt seit mittlerweile neun Monaten im Untersuchungsgefängnis am Holstenglacis ein.

Zuerst die letzten bekannten Zahlen von Mitte März: Die Staatsanwaltschaft hat bislang über 850 Ermittlungsverfahren gegen rund 1.150 bekannte und 1.590 Verfahren gegen unbekannte Beschuldigte eingeleitet. Insgesamt wurden bisher rund 280 Anklagen erhoben, Gerichte fällten etwa 130 Urteile. Fünf Angeklagte wurden zu Haftstrafen ohne und 59 zu Haftstrafen mit Bewährung verurteilt. Gegenüber den Sicherheitsbehörden scheint der Aufklärungswille weniger stark ausgeprägt: 94 von 154 Ermittlungsverfahren gegen Polizist*innen wurden eingestellt, in keinem einzigen Fall wurde Anklage erhoben.

Ungeachtet davon hält die »Soko Schwarzer Block« weiter an öffentlichkeitswirksamen Repressionsmaßnahmen fest. Mitte Mai führte die Polizei erneut Razzien durch, diesmal in acht Hamburger Stadtteilen und im Umland. Aufgrund der verstrichenen Zeit seit den G20-Protesten dürfte es dabei weniger um die Beweissicherung für Plünderungen oder Krawalle gegangen sein. Vielmehr dienen diese nachträglichen Hausdurchsuchungen offenbar vor allem der Ausforschung von Personen mit vermuteter linker Gesinnung.

Anlassloses Datensammeln

Mitte März begann außerdem die fünfte Runde der Öffentlichkeitsfahndung, erneut wurden 66 Bilder von Unbekannten veröffentlicht. Seit Dezember 2017 stellte die Hamburger Polizei damit Fotos von 334 Personen auf ihre Webseite. Der Landesdatenschutzbeauftragte Johannes Caspar hatte zwar angeordnet, die Bilderdatenbanken zu löschen, da es für diese keine gesetzliche Grundlage gebe. Die Daten seien »unterschieds- und anlasslos« erfasst worden und hätten auch unzählige Personen betroffen, die nicht tatverdächtig seien. Die Hamburger Innenbehörde klagte jedoch gegen diese Anweisung. Bis zu einer Entscheidung wird die umstrittene Software zur Gesichtserkennung weiter eingesetzt. Mehrfach hatten Bürgerrechtler*innen darauf hingewiesen, dass die größte bundesdeutsche Öffentlichkeitsfahndung seit RAF-Zeiten die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen massiv attackiert. Selbst nur als verdächtig geltende Minderjährige werden an den Onlinepranger gestellt, zur Freude des Denunziantenmobs aus Springerpresse und bürgerlichen Hilfssheriffs. Das Ziel der Polizeiführung: Sie will schikanieren und abschrecken, aber auch die Entwicklung und Nutzung biometrischer Datenbanken vorantreiben.

Der politische Deutungskampf um die Protesttage hat sich derweil endgültig von der Hamburger Bürgerschaft auf die Gerichte verlagert. Hier versuchen Staatsanwaltschaft und Polizeiführung mit anhaltendem Ehrgeiz eine repressive Interpretation des Versammlungsgesetzes durchzusetzen. Nach dem langwierigen und im Februar 2018 geplatzten Verfahren gegen den Italiener Fabio V. soll diese nun im sogenannten »Elbchaussee-Verfahren« durchgefochten werden. Ende Dezember wurde der Prozess gegen vier Hessen und den Franzosen Loic S. eröffnet. Die Öffentlichkeit ist ausgeschlossen.

In dem Verfahren geht es um die Geschehnisse in Altona am Morgen des 7. Juli 2017. Eine Gruppe von über 200 Personen war damals fernab der Gipfelblockaden überwiegend schwarz vermummt und mit Transparenten durch die Elbchaussee gezogen. In der noblen Straße zündeten Personen aus dem Zug Autos an, legten Brände und schlugen Schaufenster ein. Laut Staatsanwaltschaft entstand ein Schaden von mindestens einer Million Euro. Den fünf Verdächtigen wird Landfriedensbruch in einem besonders schweren Fall, Mittäterschaft bei Brandstiftung, gefährliche Körperverletzung und Verstoß gegen das Waffengesetz vorgeworfen. Der Knackpunkt: Den Angeklagten können keine konkreten Straftaten nachgewiesen werden. Sie sollen vielmehr stellvertretend für die Taten aller haftbar gemacht, also in Kollektivhaft genommen werden. Laut Staatsanwaltschaft reiche die Anwesenheit in dem Aufzug für eine Verurteilung als Mittäter aus. Die Richter erklärten am ersten Verhandlungstag, dass die Verdächtigen eine »psychische Beihilfe« geleistet haben könnten.

Wie auch im Verfahren von Fabio V. geht es hierbei um die elementaren Fragen, ob man für die Taten anderer haftbar gemacht werden kann und welche Aufzüge unter das Versammlungsrecht fallen. Die Staatsanwaltschaft argumentiert, dass es sich bei dem Protestzug in der Elbchaussee um eine Verabredung zu Straftaten gehandelt hätte, ähnlich wie bei geplanten Schlägereien zwischen Fußballhooligans. Zentral sei hier der »gemeinsame Tatentschluss«. Der Aufmarsch sei demnach keine Versammlung gewesen, wie sie durch das Grundgesetz zu schützen sei. Die Verteidigung hält dagegen, dass der Aufzug sehr wohl alle Eigenschaften einer Demonstration gehabt habe. Die Polizei hätte danach die gewalttätigen Teilnehmer*innen von den friedlichen trennen müssen, um letzteren die Durchführung ihres Protestes zu ermöglichen.

Bereits 1985 hatte das Bundesverfassungsgericht in seinem wegweisenden Brokdorf-Urteil festgelegt, dass die »Unfriedlichkeit« einzelner Teilnehmender das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit nicht aushebeln dürfe. Der Bundesgerichtshof entschied zwar 2017, dass das »ostentative Mitmarschieren« in einer gewaltbereiten Gruppe ausreiche, um wegen Landfriedensbruchs verurteilt zu werden - hier bezog er sich jedoch explizit nur auf Fußballhooligans. Rechtsexpert*innen warnen vor den Folgen, wenn sich die Polizei mit ihrer Sichtweise durchsetzen sollte: Willkürliche Verfahren gegen Aktivist*innen wären jederzeit möglich. Die Angst vor einer generellen Haftbarmachung auf Demos würde lähmen, demobilisieren und letztlich zu einem Verzicht auf das Grundrecht führen.

Es geht um Grund- und Persönlichkeitsrechte

Zusammenfassend lassen sich zwei Jahre nach G20 mehrere Motive des staatlichen Handelns identifizieren: Neben Rache dürfte es vor allem darum gehen, dass demokratiefeindliche Agieren der Behörden sowie den exzessiv aufgefahrenen Sicherheitsapparat jener Tage nachträglich zu legitimieren. Der vielseitige Protest soll zeitgleich als Ganzes delegitimiert werden, harte Exempel gegen Einzelne sollen einschüchtern. Die Auseinandersetzungen im Juli 2017 dienten und dienen auch als Vorwand für weitreichende Versuche, elementare Grund- und Persönlichkeitsrechte abzubauen und Blaupausen für neue Verfolgungsinstrumente zu schaffen. Dies muss im Kontext einer europa- und bundesweit zunehmend autoritären Entwicklung gesehen werden.

Und doch, der Staat hat nicht immer Erfolg beim Zähnezeigen: Nach jüngsten Recherchen des NDR hat das Hamburger Landgericht mittlerweile Zweifel an der Ermittlungsarbeit der Polizei. Zeugen des Elbchaussee-Prozesses hätten laut einem Beschluss der Richter Polizeivermerke als »Quatsch« bezeichnet - Aussagen hätten sie nie wie angegeben getätigt. Die zuständige Strafkammer schlussfolgerte: Auf das geschriebene Wort der Beamten sei »wenig Verlass«, ihre Videos seien wenig aussagekräftig - nach dem Ausgang von Fabios Prozess eine weitere Schlappe für die Polizei. Ein langer Atem bleibt dennoch notwendig: Verhandlungstermine für das Elbchaussee-Verfahren sind bis September angesetzt. Die Hamburger Antirepressionsinitiative United we stand hat im Mai und im Juni zu Knastkundgebungen für Loic S. aufgerufen.

Sebastian Bähr ist Redakteur bei der Tageszeitung neues deutschland. In ak 634 schrieb er über Öffentlichkeitsfahndung nach den G20-Protesten.

Unitedwestand.blackblogs.org