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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 651 / 20.8.2019

Aufgeblättert

Killermaschine Auto

Wer gegen die Klimakatastrophe kämpft, muss gegen das Auto sein, schreibt Klaus Gietinger. Aber das Auto ist nicht nur schlecht für das Klima. Das Auto ist eine Killermaschine. 54 Millionen Menschen starben infolge von Autounfällen. Nimmt man die autobedingte Umweltverschmutzung hinzu, werden es bis 2030 voraussichtlich 200 Millionen Todesopfer sein. »Keine Technik hat je mehr Opfer gebracht«, schreibt Gietinger. Der Autor, der auch lesenswerte Bücher zur deutschen Geschichte verfasst hat (ak 646), läuft beim Thema Auto zur polemischen Höchstform auf. Das beweist er auch in seinem neuen Buch. Gleichwohl sind seine Behauptungen immer gut belegt. Problematisch ist jedoch seine Verwendung von Suchtmetaphern. Sucht ist eine Krankheit, die Produktion und der Kauf von immer mehr Autos sind damit nicht zu erklären. Und Gietinger kennt ja die wirklichen Ursachen: »Die Bewegung des Kapitals ist maßlos.« Und diese übertrage sich auf unser ganzes gesellschaftliches Leben und auch auf die Art und Weise, wie wir uns bewegen. Die aktuelle Autokrise, ausgelöst durch Dieselgate, deutet Gietinger als Chance, sich vom Auto zu befreien und nicht auf Scheinalternativen wie die E-Mobilität hereinzufallen. Erste Schritte hin zur autobefreiten Gesellschaft sind Tempolimits auf deutschen Straßen und die Rückeroberung des Stadt- und Straßenraumes. Und als Paukenschläge enthält Gietingers Verkehrsrevolution die Vergesellschaftung von Autokonzernen und die Abschaffung des Autos als Privatfahrzeug.

Guido Speckmann

Klaus Gietinger: Vollbremsung. Warum das Auto keine Zukunft hat und wir trotzdem weiterkommen. Westend, Frankfurt/Main 2019. 192 Seiten, 16,90 EUR.

Raumschiffstädte

Seit Generationen leben die Menschen in den riesigen Raumschiffstädten der exodanischen Flotte, mit denen ihre Vorfahren die zerstörte Erde verlassen haben. Aus der Notwendigkeit, soziale Konflikte möglichst gering und die Lebensqualität auf der unbestimmbar langen Reise so hoch wie möglich zu halten, haben sie einen schlichten, aber sehr effektiven Ökosozialismus etabliert: Alle haben das Recht auf eine Wohnung, auf Essen und Kleidung und verschiedene Möglichkeiten, sich den Alltag zu versüßen. Um keine Ressourcen zu verschwenden wird alles recycelt, auch Menschen werden kompostiert. Ganz nebenbei werden die gegenwärtigen Geschlechterverhältnisse gehörig aufgewirbelt. Homosexuelle Beziehungen und Familien sind so normal, dass sie gar nicht gesondert thematisiert werden. Es steht allen Erwachsenen offen, die Dienste des professionellen Erotikpersonals in den öffentlichen Clubs in Anspruch zu nehmen. Im stabilen Orbit um einen fernen Stern hat sich die Flotte niedergelassen. In ihrem Science-Fiction-Roman »Unter uns die Nacht« verwebt Becky Chambers fünf unterschiedliche Geschichten aus der Flotte miteinander. Dabei wird deutlich, wie unterschiedlich die Frage verhandelt wird, ob und warum man weiterhin auf den Schiffen leben sollte, die für die große Migration vorgesehen waren, und wie man sich in einer einst nur auf sich selbst gestellten ökosozialistische Gesellschaft zurechtfindet, die nun in die vom Warentausch dominierte Galaktische Union eingebunden ist.

Tim Schumacher

Becky Chambers: Unter uns die Nacht. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2019. 464 Seiten, 9,99 EUR.

Kollektives Zentrum

Im Sommer 2015 sorgte das kleine Münzviertel in Hamburg kurzzeitig für Schlagzeilen: Durch geschicktes bezirkspolitisches Agieren und eine spektakuläre Besetzungsaktion war es Stadtteilaktivist*innen gelungen, ein »kollektives Zentrum« (koZe) aufzubauen. Polizei und CDU witterten eine »zweite Rote Flora«. Für zwei Jahre entstand ein Experimentierfeld zwischen Kunst, autonomem Zentrum, Stadtteilpolitik und linkem Freiraum. Aufgerieben zwischen dem beginnenden Abriss umliegender Gebäudeteile, einer mehrwöchigen Polizeibelagerung sowie internen Militanzdebatten räumte das koZe schließlich 2016 nach zwei Jahren mehr oder weniger freiwillig das Feld. Nun melden die Beteiligten sich mit einer Broschüre erneut zu Wort, in der sie die politischen Erfahrungen beleuchten und diskutieren. Entstanden ist eine Collage der unterschiedlichen Bedeutungen und Vorstellungen, die das koZe schon während seines Bestehens enthielt: Autonom geprägte Vorstellungen eines Gegen- und Freiraums stehen denen eines bunten Kulturzentrums oder Ortes der Stadtteilorganisierung gegenüber. Aus einer praktischen Perspektive diskutieren die Autor*innen die Fallstricke der Organisierung in selbstorganisierten Strukturen, quer zu Szenegrenzen. Die Geschichte des Hauses wird akribisch rekonstruiert und anhand von Fotos und Materialien dokumentiert. Die dabei entstehenden Wiederholungen sind in so einem Gemeinschaftswerk wohl unvermeidlich.

Moritz Longerich

die Redaktion (Hg.): Zwei Jahre kollektives Zentrum im Münzviertel - Versuche einer Auswertung, Eigenverlag, Hamburg, 2019. 132 Seiten., erhältlich z.B. bei black-mosquito.org für 6 EUR.

Selbstbestimmung

Dem Missy Magazin darf man gratulieren: nachträglich zum zehnten Geburtstag und nachdrücklich zu dem Erzählband, der anlässlich des Jubiläums erschienen ist. In 15 »freien Stücken« äußern sich Autor*innen aus dem Umkreis des Magazins zum Thema »Selbstbestimmung«: autobiographisch, fiktional, poetisch, essayistisch, experimentell - mitunter alles zusammen. Auch inhaltlich ist das Spektrum breit. Mutterschaft, MeToo, Normierung, Gewalt, Rassismus, Sexismus, die (Un-)Verbindlichkeit von Beziehungen, das Ja- und das Neinsagen sind einige der Themen. Dass sich die verschiedenen Stimmen »nicht um Genrebegrenzungen oder vorgefasste Formate scheren« (Vorwort) ergibt Sinn bei einem Buch, in dem es immer wieder um Grenzen und Grenzüberschreitungen geht, sei es beim Sex, bei der Arbeit, in Freundschaften und der Familie, in der politischen Diskussion, in der Sprache, nicht zuletzt im eigenen Kopf, Bauch, Herz. Oft ist es ein »Ich«, das zum Dreh- und Angelpunkt der Texte wird. Das kann ein Ich sein, das sehr persönliche Einblicke in die Regulationen des weiblichen Körpers während einer Jugend in der Türkei (Sibel Schick) oder einer Jugend in Deutschland (Anke Stelling) gibt. Das kann ein Ich sein, das keinen Platz in weißen Konsens-Debatten findet, da Grenzüberschreitungen zur Schwarzen Lebenswirklichkeit gehören. (SchwarzRund) Damit ist »Freie Stücke« nicht nur ein lesenswerter Beitrag zu aktuellen feministischen Diskussionen, sondern auch zur Gegenwartsliteratur.

Stephanie Bremerich

Sonja Eismann; Anna Mayrhauser (Hg.): Freie Stücke. Geschichten über Selbstbestimmung. Hamburg: Edition Nautilus 2019. 160 Seiten, 16 EUR.