»Das Team ist das Problem, aber auch Teil der Lösung«
Wirtschaft & Soziales Dank »indirekter Steuerung« übernehmen Beschäftigte immer mehr Unternehmerfunktionen - die Philosophin Eva Bockenheimer über die Folgen der neuen Arbeitsorganisationsform
Interview: Hannah Schultes
Kooperation, Eigenverantwortlichkeit, Kreativität - Arbeitssoziolog*innen und auch viele Linke sehen diese neuen Anforderungen in der Arbeitswelt schon lange kritisch. Die damit einhergehenden neuen Managementmethoden gelten als Ursache für intensivierte Ausbeutung und eine Zunahme an gesundheitlichen Belastungen. Die Frage danach, welche Dynamiken am Arbeitsplatz es sind, die dafür sorgen, dass der Widerstand dagegen gering ausfällt, findet oft wenig Beachtung. Als Leiterin gewerkschaftlicher Bildungsseminare beschäftigt sich Eva Bockenheimer mit der Organisation von Arbeit mittels indirekter Steuerung. Gemeinsam mit Beschäftigten identifiziert sie die Mechanismen, die für gestiegenen Leistungsdruck und Konkurrenz sorgen.
In Ihren Seminaren sprechen Sie mit Beschäftigten über indirekte Steuerung - wie unterscheidet sich diese Form von Arbeitsorganisation von älteren Formen?
Eva Bockenheimer: Bis ca. 1970 war die vorherrschende Arbeitsorganisationsform der Taylorismus beziehungsweise der Fordismus, der auf einem System von Befehl und Gehorsam mit klaren Anweisungen basiert. Kennzeichnend für diese Arbeitsorganisation war also die direkte Steuerung: Die Beschäftigten hatten mehr oder weniger das zu tun, was ihnen gesagt wurde, und die Unternehmerfunktionen lagen bei den Kapitalgebern oder ihren Managern. Heute dagegen haben die meisten Beschäftigten den Anspruch und die Fähigkeit, sich in der Arbeit mit dem gesellschaftlichen Sinn ihrer Arbeit auseinandersetzen zu können. Sie möchten ihre Arbeit gut machen und sich mit ihr identifizieren können. Der Philosoph Stephan Siemens bezeichnet diese Fähigkeit in Anschluss an Marx als neue produktive Kraft der arbeitenden Menschen und stellt heraus, dass die Unternehmen gezwungen sind, sich an diese Fähigkeit anzupassen, wenn sie ihre Profite weiter steigern wollen.
Wodurch macht sich diese Anpassung bemerkbar?
Die Unternehmen setzen vermehrt auf sogenannte selbstorganisierte Teams, die nahezu keine direkten Vorgaben bekommen, wie sie ihre Arbeit zu erledigen haben. Diese Teams müssen vor allem bestimmte, von den Unternehmen vorgegebene Gewinnerwartungen erfüllen - und das auch nachweisen. Man gibt immer mehr Verantwortung an die Beschäftigten ab, möchte aber weiterhin die Kontrolle behalten. Dafür steuert man nun indirekt, indem eine sogenannte Umwelt eingerichtet wird, auf die die Teammitglieder unternehmerisch reagieren sollen und müssen. Im Unternehmen werden künstlich Marktstrukturen abgebildet: Die Beschäftigten werden in teilautonomen Unternehmenseinheiten, Business-Units und Profitcentern organisiert, die sich jeweils auf dem unternehmensinternen wie -externen Markt behaupten müssen. Damit wird durchgesetzt, dass sie als Maßstab für die Bewertung des Sinns ihrer Arbeit das im Kapitalismus geltende Kriterium zugrunde legen: den Profit beziehungsweise die Kosteneinsparung. Nach und nach übernehmen die Beschäftigten die Unternehmerfunktionen: Sie koordinieren ihre Zusammenarbeit, denken über Möglichkeiten für Einsparungen und Effizienz nach und orientieren sich an den Anforderungen der Kunden und des Marktes. Viele Beschäftigte begrüßen das selbstorganisierte Arbeiten - aber selbst, wenn sie es ablehnen, sind sie dennoch gezwungen, dieser Forderung nachzukommen.
Wo hat das Modell seinen Ursprung?
Ausgangspunkt ist wohl, dass die Beschäftigten in allen Industriestaaten vermehrt die Fähigkeit entwickelt haben, selbstbestimmt und selbstorganisiert zu arbeiten. Spätestens in den 1950ern zeichnete sich ab, dass der Fordismus immer unproduktiver wurde. Für die weitere Entwicklung der Unternehmenssteuerung hin zu selbstorganisierten Teams waren vor allem die Erfahrungen im Silicon Valley in der frühen IT-Industrie zwischen 1950-1970 entscheidend. Dort bildeten sich sukzessive stabile Formen der Teamarbeit heraus, die gezeigt haben, dass Beschäftigte enorm profitabel sind, wenn man sie sich - unter bestimmten Rahmenbedingungen - selbstorganisieren lässt. Ähnliche Entwicklungen hat es in Japan im Toyota-Produktionssystem oder auch in der DDR gegeben. Unternehmensberatungen haben diese Erfahrungen dann auf alle Branchen übertragen, auch wenn fordistische Formen zum Teil noch nebenher laufen. Der Philosoph Klaus Peters und der ehemalige Betriebsratsvorsitzende von IBM Düsseldorf, Wilfried Glißmann, vom COGITO Institut für Autonomieforschung, haben den Begriff der »indirekten Steuerung« - der selbstverständlich kritisch zu verstehen ist - in den 1990er Jahren gemeinsam entwickelt. Sie haben herausgearbeitet, welchen Einfluss das sozialtechnologische Denken der Systemtheorie auf neue Arbeitsorganisationstheorien hat. Stephan Siemens hat in der Initiative »Meine Zeit ist mein Leben« untersucht, wie die Erkenntnisse der Arbeits- und Organisationspsychologie bei der Umsetzung der indirekten Steuerung im Unternehmen genutzt werden.
Sie thematisieren indirekte Steuerung auch in Seminaren zu Burn-out. Wo liegt der Zusammenhang?
Auch das hat mit den Erkenntnissen der Arbeits- und Organisationspsychologie zu tun. Man weiß zum Beispiel, dass ein Team, dem man maßvoll Personal oder Budget entzieht, versuchen wird, die Arbeit solange wie möglich trotzdem auf dem gleichen Niveau wie vorher zu schaffen. Wenn man also die Rahmenbedingungen eines Teams entsprechend einrichtet und ihm die unternehmerische Verantwortung gibt, führt das dazu, dass sich die Teammitglieder wechselseitig unter Druck setzen, damit sie jeweils zum Teamerfolg beitragen. Als Maßstab für den Zusammenhalt im Team gilt die Macht der Gruppe über den Einzelnen. Die Beschäftigten fangen an, sich gegenseitig zu kontrollieren und zu kritisieren - oder sie helfen einander, die Arbeit trotz widriger Umstände zu erledigen, oft auf Kosten der eigenen Freizeit und Gesundheit. Das führt zu einer enormen Arbeitsverdichtung und Arbeitszeitverlängerung, weit über die tariflich vereinbarten oder sogar gesetzlich erlaubten Arbeitszeiten hinaus. Neben dem Stress, der damit einhergeht, sind nun auch die persönlichen Beziehungen zu den Kolleginnen und Kollegen systematisch belastet mit dem unternehmerischen Zweck. Weil die Steuerung aber indirekt läuft, ist sie den Beschäftigten nicht bewusst. Diese ständige unbewusste Belastung spiegelt sich in der tiefgreifenden emotionalen Erschöpfung vieler Beschäftigter wider, und genau das ist ein zentrales Symptom von Burn-out.
Aus welchen Branchen kommen die Teilnehmenden Ihrer Seminare und über welche Erfahrungen berichten sie angesichts der Seminarinhalte?
Da ich Seminare für alle großen DGB-Gewerkschaften gebe, kommen die Teilnehmenden aus fast allen Branchen und Qualifikationsstufen. Sie sind meistens selbst überrascht, dass sie alle ähnlichen Mechanismen ausgesetzt werden. Die häufigsten Themen sind Führungskräfte, die sich aus der Verantwortung ziehen, und der gestiegene Konkurrenz- und Leistungsdruck durch gemeinsame Kennzahlen und Zielvereinbarungen. Besonders berührend finde ich die Geschichten von Reinigungskräften, die von ihrer Gebäudeleitung die Vorgabe bekommen, kein Material zu verbrauchen, und die dann auf eigene Kosten Putzmittel kaufen, damit sie ihre Arbeit sinnvoll erledigen können. Am Ende bekommt dann die Gebäudeleitung von der entsprechenden Reinigungsfirma einen Preis für Kosteneinsparungen. Dann gibt es Pflegekräfte, denen gesagt wird, dass die Zeiten vorbei sind, in denen man es sich leisten konnte, Sterbenden die Hand zu halten, oder Ingenieurinnen und Ingenieure, die richtig gute Ideen nicht umsetzen können, weil sie an völlig unrealistischen Zeit- und Budgetvorgaben verzweifeln. Neben diesen traurigen Geschichten gibt es aber auch den Stolz: Wir brauchen keinen Chef, wir organisieren uns selbst! Ein Beispiel für gelungene Gegenwehr sind die »Ultimatums-Aktionen«, bei denen sich Mitglieder eines Teams solidarisieren und gemeinsam androhen, ab einem Tag X bestimmte Probleme nicht mehr durch eigene »freiwillige« Mehrarbeit auszugleichen, wenn die Unternehmensleitung nicht Maßnahmen ergreift, um die Mehrarbeit zu beheben. Dazu kann gehören, mehr Personal einzustellen oder bisher unbezahlte Zusatzleistungen zu vergüten. Besonders beeindruckend waren die Aktionen an der Charité, die ja auch durch die Presse gingen.
In der Soziologie wird das gesellschaftliche Leitbild eines »unternehmerischen Selbst« seit über zehn Jahren diskutiert. Dabei steht oft im Mittelpunkt, wie das Diktat der Selbstoptimierung zunehmend alle Lebensbereiche durchdringt. Lässt sich mit dieser Diagnose nicht auch die Arbeit unter Bedingungen indirekter Steuerung beschreiben?
Die kritische Soziologie kann sicher einige Phänomene treffend beschreiben. Natürlich wirken neoliberale Ideologien nicht nur in den Unternehmen, sondern gesamtgesellschaftlich, das kann man wohl kaum leugnen. Aber das sind bloß ideelle Leitbilder. Mit einer marxistischen, materialistischen Perspektive sieht man, dass die Beschäftigten aktuell lernen, ihre Zusammenarbeit zu koordinieren und sich gemeinsam mit dem gesellschaftlichen Sinn ihrer Arbeit auseinanderzusetzen. Sie tun das zwar in einer beschränkten Form, nämlich unter Maßgabe der Profitorientierung, aber dennoch: Sie tun es, und deshalb können sie auch lernen, sich diese Fähigkeit anzueignen. Stephan Siemens und Martina Frenzel machen das in ihrem Buch »Das unternehmerische Wir« bereits im Titel deutlich: In der Realität mutieren nicht einzelne Individuen zum unternehmerischen Selbst, sondern Beschäftigte nehmen ganz objektiv gemeinsam im Team diese Funktionen wahr. Auch wenn ihnen das zum Teil nicht bewusst ist und sie dabei vielleicht der Selbstoptimierung frönen, liegt diesen Arbeitsorganisationsformen ihre neue produktive Kraft zugrunde, die momentan noch von den Unternehmen instrumentalisiert werden kann. Die Frage ist, wie lange noch.
Zu welchen Widerspruchserfahrungen führt das im Arbeitsalltag?
Die Beschäftigten übernehmen zwar immer mehr Unternehmerfunktionen, aber sie sind ja keine Unternehmer. In fast jedem Seminar stellt irgendwann jemand die Frage: »Wenn wir ohnehin schon alles selbst machen müssen, warum dann noch für einen Unternehmer, der die Rahmenbedingungen setzt und den Profit einstreicht?!« Dadurch, dass sich die Beschäftigten an den Arbeitsinhalten orientieren und sich mit dem Sinn ihrer Arbeit auseinandersetzen, machen sie in ihrer konkreten Arbeit immer häufiger die Erfahrung, dass das, was gesellschaftlich produktiv, und das, was profitabel ist, nicht das gleiche ist, auch wenn kapitalistische Unternehmen das weismachen wollen. Sie sind damit konfrontiert, dass es durchaus möglich wäre, Arbeit global ökologischer, geschlechtergerechter und sozialer zu organisieren, wenn nicht die Profitmaximierung der Maßstab wäre. Sie erleben, dass sie teilweise gegen ihr Berufsethos verstoßen müssen oder ihrem Anspruch an der Qualität ihrer Arbeit nicht gerecht werden können, weil absurde, vom Unternehmen gesetzte Vorgaben es nicht zulassen, sinnvolle und befriedigende Arbeit zu leisten. Mit Marx kann man sagen: Sie erleben, dass die kapitalistischen Produktionsverhältnisse zu einer Fessel für die Produktivkräfte geworden sind.
Was gewerkschaftliche Forderungen betrifft, ist Arbeitszeitverkürzung wieder verstärkt Thema. Inwiefern lässt sich mit Arbeitszeitverkürzung den verlängerten Arbeitszeiten als Begleiterscheinung von indirekter Steuerung entgegenwirken?
Der Kampf um eine Reduzierung der Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich ist sicher angezeigt. Das Problem ist nur: Das Arbeitsvolumen bleibt, und man muss dann dafür sorgen, dass entsprechend Personal eingestellt wird. Unter den Bedingungen der indirekten Steuerung findet die Reduzierung sonst nur auf dem Papier statt oder es gibt eine enorme Arbeitsverdichtung bei denen, die nicht reduziert haben. Wenn der Europäische Gerichtshof entscheidet, dass die Unternehmen verpflichtet sind, Arbeitszeit zu erfassen, dann reagiert er darauf, dass die Beschäftigten den Unternehmen aktuell ohne Ende unbezahlte Arbeitsstunden schenken. Die Beschäftigten müssen dabei unterstützt werden zu lernen, die tatsächlich benötigte Arbeitszeit realistisch einzuschätzen und eine entsprechende Personalbemessung und eine angemessene Zeitvorgabe einzufordern.
Was raten Sie Seminarteilnehmende darüber hinaus konkret für die Praxis?
Den Interessenvertretungen rate ich, zunächst einmal ihr eigenes Gremium und die Kolleginnen und Kollegen über die Mechanismen der indirekten Steuerung aufzuklären. Letztlich geht es darum, alle Beschäftigten darin zu stärken, sich die Unternehmerfunktion selbstbewusst anzueignen und daraus Forderungen zu entwickeln, zum Beispiel bezüglich Personalvorgaben, Budgetplanungen oder Fristen. Das Team ist einerseits das Problem, weil die Teammitglieder sich aufgrund der indirekten Steuerung wechselseitig unter Druck setzen. Es ist aber auch Teil der Lösung. Denn ein Team, dessen Mitglieder sich gemeinsam gegen die schlechten Rahmenbedingungen wehren, ist gerade aufgrund der unternehmerischen Verantwortung heute enorm stark. Ich zeige den Teilnehmenden auch Techniken, wie sie sich gemeinsam Teamprozesse bewusst machen können. Es ist wichtig, die Unbewusstheit aufzuheben, auf der die indirekte Steuerung beruht. Dafür wurde beispielsweise der Vorschlag für eine Betriebsvereinbarung entwickelt, nach der in den Teams Gesundheits- und Sozialverantwortliche gewählt werden, die darin geschult sind, mit den Teamkollegen gemeinsam Teamprozesse zu analysieren. Dadurch können sich die Beschäftigten ihre Beziehungen gemeinsam aneignen und lernen, ihre eigenen Interessen selbstbewusst zu vertreten: eine wichtige Fähigkeit, um den Kapitalismus abzuschaffen und sozialistische Produktionsverhältnisse an seine Stelle zu setzen, in denen die arbeitenden Menschen bewusst gesellschaftlich produzieren und - anders als das im realexistierenden Sozialismus der Fall war - ihre individuelle Freiheit mit der gesamtgesellschaftlichen Planung der Produktion in Einklang bringen können.
Eva Bockenheimer
forscht und lehrt seit vielen Jahren zum Denken von Karl Marx und der Frage nach seiner Aktualität. 2011 promovierte sie im Fach Philosophie mit einer Arbeit zum Werk Hegels. Im Anschluss an die Promotion begann sie ihre Tätigkeit als freiberufliche Dozentin in der gewerkschaftlichen Bildungs- und Beratungsarbeit. Seit 18 Jahren leitet sie den Philosophieverein Club Dialektik e.V. in Köln. (www.club-dialektik.de)