Zu wenig Geld und keine kühlen Getränke
Geschichte Die Septemberstreiks von 1969 sind wenig bekannt. Dabei hatten sie enormen Einfluss auf die Tarifpolitik und auf die 68er-Bewegung
Von Jan Ole Arps
Knapp vier Wochen vor der Bundestagswahl 1969 begann in Dortmund die bis dahin größte Welle wilder Streiks in der Geschichte der Bundesrepublik. Unbeabsichtigt beeinflussten die »Septemberstreiks« auch die Sinnsuche der 1968er-Bewegung. Zahlreiche Teilnehmende der antiautoritären Proteste heuerten in den Folgejahren in Industrieunternehmen an, um dort Arbeiter*innen zum Kampf gegen den Kapitalismus zu motivieren.
Am 2. September 1969 ging ein Demonstrationszug durch die Westfalenhütte, einen von drei Werksteilen der Dortmunder Hoesch AG. Mehrere tausend Stahlarbeiter*innen protestierten - ohne Rücksprache mit der IG Metall - gegen Überstunden und hohe Arbeitsbelastung und forderten eine außertarifliche Lohnerhöhung von 20 Pfennig pro Stunde. Bei Hoesch hatte sich der Unmut darüber, dass der Boom in der Stahlindustrie mehr Arbeit, nicht aber mehr Geld brachte, mit Problemen im Unternehmen (die Lohnunterschiede zwischen den Werksteilen oder die Weigerung der Werksleitung, im ungewöhnlich heißen Sommer 1969 kühle Getränke bereitzustellen) verbunden. Als die Geschäftsleitung statt 20 nur 15 Pfennig Lohnerhöhung pro Stunde anbot, legten die Kolleg*innen der Westfalenhütte spontan die Arbeit nieder - und erhöhten ihre Forderung auf 30 Pfennig mehr pro Stunde. Mit einem gekaperten Wagen der Werksfeuerwehr, der zum Lautsprecherwagen umfunktioniert wurde, zogen sie vors Hauptgebäude.
Den ganzen Tag über diskutierten Streikende am offenen Mikrofon, wie es weitergehen sollte. Den unbeliebten Konzernchef Friedrich Harders knüpften sie symbolisch auf; die Verkaufsständer der Bild-Zeitung, die schlecht über den Streik berichtet hatte, schlugen sie kaputt. Am nächsten Tag demonstrierten fast zehntausend Stahlarbeiter*innen im Blaumann durch die Dortmunder Innenstadt. Schon am Nachmittag wurde ihre Forderung nach 30 Pfennig mehr Lohn erfüllt. Unter Gesängen wie »So ein Tag, so wunderschön wie heute« nahmen sie die Arbeit wieder auf.
So ein Tag, so wunderschön wie heute ...
Der Erfolg der Hoesch-Arbeiter*innen löste einen kleinen Flächenbrand aus. Innerhalb von knapp drei Wochen legten mindestens 140.000 Beschäftigte in 70 Betrieben ohne Zutun der Gewerkschaft die Arbeit nieder und forderten zumeist lineare (das heißt nicht prozentuale) Lohnerhöhungen zwischen 30 und 70 Pfennig pro Stunde. Eine solche offene, spontane Streikwelle hatte es in der Bundesrepublik noch nicht gegeben. Der Zeitpunkt war günstig: Kurz vor der Bundestagswahl forderten die Wahlkämpfer*innen aller Parteien von den Unternehmen, den Streikenden entgegenzukommen. In den meisten Fällen konnten die Lohnerhöhungen binnen kurzer Zeit durchgesetzt werden.
Im Unterschied zu den Protagonisten des Streiks sahen die Unternehmer Parallelen zu den Ereignissen in den Nachbarländern. In Frankreich hatte im Mai 1968 ein Generalstreik das Land mehrere Wochen lang im Ausnahmezustand gehalten; in Italien gipfelte eine Kette heftiger Fabrikkämpfe in dem Heißen Herbst 1969. Und nun wurde auch in Deutschland wild gestreikt. Die FAZ appellierte an die Gewerkschaften, die Wünsche ihrer Mitglieder zu ergründen, denn: »Nur wenn sich die Arbeitnehmer mit ihnen identifizieren, behalten sie das Heft in kritischer Situation in der Hand.« (FAZ, 16.9.1969) Die Sorge im Unternehmerlager war so groß, dass sich selbst Betriebe, in denen nicht gestreikt wurde, zu außerplanmäßigen Lohnerhöhungen hinreißen ließen. Die Gewerkschaften nutzten die Gelegenheit, um vorgezogene Tarifverträge zu verhandeln. Etwa acht Millionen Beschäftigte kamen so in den Genuss unerwarteter Zusatzzahlungen.
Die Streiks von 1969 fielen in eine Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs, dem allerdings ein weltweites Stottern der Wirtschaft vorausgegangen war. Die »kleine Krise« von 1966/67 war das Vorbeben zur Weltwirtschaftskrise Anfang der 1970er Jahre - was damals natürlich noch niemand wusste. Viele Unternehmen hatten mit Entlassungen reagiert, zum ersten Mal seit Kriegsende kehrte die Arbeitslosigkeit in die Bundesrepublik zurück. Im Februar 1967 erreichte sie mit 3,1 Prozent (673.000 Personen) einen Höchststand.
Die Unternehmen nutzten die Mini-Krise, um die Arbeit zu verdichten und betriebliche Sonderleistungen zu streichen. Diese machten Mitte der 1960er Jahre einen bedeutenden Anteil an den Löhnen vor allem in der Metallindustrie aus. In den Wirtschaftswunderjahren waren sie von vielen Belegschaften - von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt - durch lokale Kurzstreiks als Ergänzungen zu den offiziellen Tarifabschlüssen »nachverhandelt« worden. Trafen die Entlassungen noch vor allem die schlechter gestellten Arbeiterschichten - sogenannte Gastarbeiter*innen, Frauen, An- und Ungelernte -, gingen Prämienkürzungen und die Erhöhung des Arbeitstempos auch zu Lasten der deutschen Facharbeiter*innen.
Die Gewerkschaften reagierten darauf nicht mit Gegenwehr, sondern mit dem Beitritt zur Konzertierten Aktion von Wirtschaftsminister Karl Schiller (SPD). Um der Rezession zu begegnen, verständigten sich dort Vertreter*innen des Arbeitgeberlagers, der Regierung und der Gewerkschafter auf »maßvolle« Tarifabschlüsse. Noch Ende Mai 1968, während in Frankreich der Generalstreik tobte, schloss die IG Metall einen Tarifvertrag ab, der die von der Regierung für vertretbar erklärten Spielräume unterschritt. Nach Abzug der Inflation bedeutete er reale Einkommensverluste für die Beschäftigten. Die langen Laufzeiten der Verträge bewirkten, dass das auch so blieb, als die Gewinne bereits wieder in die Höhe kletterten.
In dieser Situation wirkte der Streik bei Hoesch wie ein Startsignal. Beschäftigte in vielen Betrieben erinnerten sich an die erfolgreichen Nachverhandlungen vergangener Jahre und folgten, erst im Ruhrgebiet, dann auch im Saarland, in Bremen und Kiel, dem Dortmunder Beispiel. Als die Streiks in der Stahl- und Metallindustrie und im Bergbau vorbei waren, kam es noch zu einigen Arbeitskämpfen in der Textilindustrie und im öffentlichen Dienst.
Festgeldforderungen und offenes Mikro
Die Festgeldforderungen vom September 1969, die in gleicher Höhe für alle galten, waren in der westdeutschen Tariflandschaft ein Novum. In den wilden Streiks der Vorjahre gab es sie dagegen schon lange, wie Peter Birke gezeigt hat. (1) Auch die Aktionsformen waren neu. Streikumzüge durchs Werk, selbstgemalte Schilder und spontan vereinbarte Forderungen bestimmten das Bild. Auch Betriebsbesetzungen und Blockaden der Werkstore gehörten zum Repertoire, manchmal sogar die Verpfändung teurer Arbeitsgeräte (wie des Hochofens in der Bremer Klöckner-Hütte) oder die Stürmung der Verwaltungsgebäude. Und die Arbeiter*innen übernahmen die Verhandlungen selbst. Wo es zu Widersprüchen zwischen Streikenden und ihren Vertreter*innen in Gewerkschaft und Betriebsrat kam, entstanden improvisierte Streikleitungen und -versammlungen. Das offene Mikrofon war charakteristisch für die Streiks im September 1969.
Diese Methoden erinnerten an Kampfformen der Arbeiter*innen in Frankreich und Italien, aber auch an Aktionen der Studentenbewegung. Dass spontan und öffentlich gestreikt wurde, war zudem ein Angriff auf die Autoritäten in Betrieb und Gewerkschaft. Zeitgenössischen Streikberichten ist die Freude darüber deutlich anzumerken. So erzählt ein Bremer Arbeiter über den Streik in der Klöckner-Hütte: »Da hat unser Chef angerufen und der wollte dann auch noch 'n paar Befehle rausgeben, das und das und so und so, und dann hat ihm ein Kollege Bescheid gesagt, dass er absolut gar nichts zu sagen hätte hier zur Zeit: das Sagen hätten wir jetzt, und er könnte höchstens drum bitten. Und dann hat er eben drum gebeten, doch zumindest die Kesselwagen nach 'm Kraftwerk durchzulassen, (...) und dann haben wir ihm das genehmigt.« (2) Und ein anderer beobachtet: »Man merkte, dass die Vorgesetzten einen Kopf kleiner waren.«
Die aufrührerische Haltung elektrisierte die Studierenden, die genau wie der Rest der Öffentlichkeit von den Streiks überrascht waren. An einigen Orten unternahmen SDS-Gruppen Versuche, sich mit den Arbeiter*innen zu solidarisieren. Oft trafen sie auf Ablehnung; hier und da sollen Streikende den angereisten Student*innen Schläge angedroht haben. Anderseits, berichten Teilnehmende der studentischen Reisegruppen, hätten viele Arbeiter*innen die Flugblätter gelobt und seien zu Diskussionen bereit gewesen. Nur wollten sie sich nicht instrumentalisieren lassen, schon gar nicht von denen, die vielleicht mal ihre Vorgesetzten werden würden.
Tausche Seminarstuhl gegen Werkbank
Im September 1969 war die antiautoritäre Bewegung der Vorjahre bereits am Zerbröckeln. Die Aktiven des SDS stritten seit Monaten über die Konsequenzen aus dem Zerfall der Bewegung. Eine einflussreiche Lesart machte das misslungene Bündnis mit der Arbeiterklasse für das Stocken der Proteste verantwortlich. Die Septemberstreiks schienen den Hoffnungen auf ein Bündnis mit dem Proletariat Recht zu geben. An vielen Orten diskutierten Nachfolgegruppen des SDS nun Möglichkeiten einer organisierten Betriebsarbeit.
In den Jahren darauf tauschten einige Tausend Teilnehmende der Studentenbewegung den Seminarstuhl gegen die Werkbank ein. Sie heuerten in westdeutschen Großunternehmen an, um die Arbeiter*innen von der Notwendigkeit einer Revolution zu überzeugen oder sie für ihre neuen Parteien zu gewinnen. Diese Geschichte von 1968 ist heute weitgehend vergessen. Dabei spielten die linken Fabrik-Aktivitäten in den Arbeitskämpfen der Folgejahre durchaus eine Rolle.
Auch in den Betrieben hielt die Unruhe an. Bis 1973 boomten wilde Streiks vor allem migrantischer Arbeiter*innen. Das Rumoren an der Basis trieb die Gewerkschaften zu einer offensiven Tarifpolitik. Nie wurden so große Reallohnerhöhungen durchgesetzt wie in den Jahren nach 1969. Erst nach der gewaltsamen Beendigung des berühmten wilden Fordstreiks in Köln 1973 wurde es wieder ruhiger in den Betrieben.
Die Bundestagswahl 1969, die auf die Septemberstreiks folgte, gewann übrigens die SPD.
Von Jan Ole Arps erschien das Buch »Frühschicht« über die Geschichte der linken »Fabrik-Intervention« im Verlag Assoziation A.
Anmerkungen:
1) Peter Birke, Wilde Streiks im Wirtschaftswunder, Frankfurt - New York, 2007.
2) Aus der Zeitschrift Politikon Nr. 34, Dezember 1970.