»Ich liebe einfach diese Stadt«
Deutschland Wie sieht es in Chemnitz ein Jahr nach der rassistischen Massenmobilisierung aus? Erik Neubert und Marleen Reichel vom Bündnis Chemnitz Nazifrei berichten
Interview: Jan Ole Arps
Ende August 2018 wurde am Rande des Chemnitzer Stadtfestes ein Mann erstochen, zwei weitere wurden verletzt. Weil die mutmaßlichen Täter Asylsuchende waren, verwandelte sich Chemnitz daraufhin wochenlang in ein Aufmarschgebiet Tausender Neonazis und rechter Bürger*innen. In den Tagen nach dem Todesfall gab es Hetzjagden auf nicht weiße Menschen, auf den Straßen von Chemnitz vollzog sich der Schulterschluss zwischen AfD und militanter Naziszene. Dutzende rassistisch motivierte Angriffe auf Geflüchtete, Anschläge auf Restaurants, Nötigungen und Bedrohungen folgten, im Oktober 2018 wurden mehrere Männer verhaftet, die im Verdacht stehen, als rechtsterroristische Gruppe Revolution Chemnitz Mordanschläge geplant zu haben. Es gibt aber auch Gegenwehr. Mit Marleen Reichel (18) und Erik Neubert (23) vom Bündnis Chemnitz Nazifrei haben wir über die Situation ein Jahr später gesprochen, darüber, wie sie mit der Bedrohung durch rechte Gewalt umgehen, und was sie von den Landtagswahlen erwarten.
Seid ihr in Chemnitz aufgewachsen?
Marleen Reichel: Ich bin in Chemnitz geboren und aufgewachsen.
Erik Neubert: Ich komme aus dem Erzgebirge und bin seit sechs Jahren in Chemnitz aktiv. Seit gut einem Jahr wohne ich auch hier. Ich bezeichne mich gern als Wahl-Chemnitzer, weil es meine bewusste Wahl war herzuziehen.
Wieso Chemnitz?
Erik Neubert: Ich liebe einfach diese Stadt. Sie hat einen ganz interessanten Charme. Sie ist nicht dieses Fake-kaputt, sie ist wirklich kaputt. Das bietet unglaublich viele Freiräume. Und es gibt ein gewisses alternatives Milieu. Mein erster Tag in Chemnitz war krass: Politisches Graffiti, wo nicht steht »Ausländer raus« - krass!
Auf der anderen Seite gibt es eine starke rechte Szene. Wie wird man links oder antifaschistisch in einer Stadt wie Chemnitz?
Marleen Reichel: Ich bin in Hilbersdorf aufgewachsen, das ist Chemnitzer Randgebiet. Da kratzen Leute am hellichten Tag Refugees-Welcome-Sticker ab, und niemand sagt etwas. Das, was letzten August passiert ist, war für mich der Weckruf. Ich dachte, wenn du jetzt weiter nur zusiehst, kannst du das mit deinem Gewissen nicht mehr vereinbaren.
Erik Neubert: Schon in der Grundschule im Erzgebirge haben Freunde ausländerfeindliche Parolen mitgesprochen, und ich habe immer gedacht, warum? Was habt ihr gegen diese Menschen? Ein paar Jahre später sind Leute im Klassenzimmer auf mich zugekommen und haben gesagt, dass ich ein Verräter bin. Dann gingen die Phasen los, wo es handgreiflicher wurde. Mir war einfach klar, dass ich nicht zulassen darf, dass Faschisten in eine größere Machtposition kommen.
Warum liegt es für viele so nahe, zu Rechten zu werden?
Marleen Reichel: Sozialisation. Es gibt hier Gegenden wie das Heckert-Gebiet, wo Leute schon in ihrer Jugend mit Springerstiefeln rumlaufen. Stadtteile, wo niemand was macht, aber es gibt einen rechten Jugendclub. Die fangen das ab.
Erik Neubert: Es fängt schon bei der Sprache an. Wenn der Dynamo-Dresden-Fanblock mit 10.000 Leuten schreit: »(Name des gegnerischen Vereins einfügen) - Jude, Jude, Jude!«, und wenn jemand als Kind im Block steht, und niemand sagt etwas dagegen, dann ist für diese Person als Kind schon klar, dass »Jude« ein Schimpfwort ist. Ein weitere Punkt: Es fehlt einfach die Überfremdung. Wenn du mit 20 das erste Mal Kontakt hast mit einer nicht weißen Person und du davor nur Sachen gesagt bekommst wie »Die vergewaltigen alle«, dann glaubst du das halt. Dritter Punkt: Sachsen ist fast 30 Jahre unter CDU-Regierung. Es gibt viele kleine Ortschaften, wo die Schule schließt, der letzte Supermarkt hat dichtgemacht, und einmal am Tag fährt der Bus. Die Leute haben eine berechtigte Wut, und weil niemand hingeht und sagt: »Alter, das Wirtschaftssystem sind die, die dich verarschen«, aber jemand geht hin und sagt: »Alter, die Ausländer wollen dir auch noch den Rest wegnehmen«, entsteht eine projizierte Wut, die sich immer mehr entfalten kann, weil sie kein Gegenwort bekommt. Und die, die Gegenworte geben, ziehen weg. Ich zum Beispiel: ins weltoffene Chemnitz.
Wie lebt ihr, was arbeitet ihr, wenn ihr gerade nicht politisch beschäftigt seid?
Marleen Reichel: Ich habe im Sommer Abitur gemacht und fange in ein paar Wochen mein Freiwilliges Soziales Jahr an.
Erik Neubert: Ich mache gerade meinen Bundesfreiwilligendienst zu Ende.
Wie ist es sonst bei euch im Bündnis: Wie alt sind die Leute, was machen sie?
Marleen Reichel: Es gibt eine große Gruppe junger Leute, 16, 17, 18 Jahre alt, die letztes Jahr nach dem August dazu gekommen sind, und es gibt Leute im Alter von Erik, die sich so durchs Leben schlagen. Die meisten sind unter 30.
Erik Neubert: Wir haben Schüler, Gerüchten zufolge auch zwei Studenten. Handwerker, Tischler, Sozialarbeiter.
Wie habt ihr letztes Jahr die Tage Ende August erlebt?
Marleen Reichel: Das war sehr krass. Das sind die Straßen, die man täglich durchläuft, und dann sieht man, wie dort Tausende Rechtsextreme durchziehen, Hitlergruß zeigen und »Ausländer raus« brüllen. Und das passiert nicht nur einmal, sondern wöchentlich, über Monate. Sowas vergisst man nicht.
Erik Neubert: Ich war in der Nacht, wo der Mord passiert ist, gegen 6 Uhr morgens zu Hause, weil ich Nachtdienst in einem Club hatte, hab Internet angemacht und irgendwas gelesen mit Todesfall auf dem Chemnitzer Stadtfest. Nun muss man wissen, auf dem Stadtfest gibt es seit vielen Jahren immer Ausschreitungen zwischen besoffenen Deutschen, und deshalb hab ich nur gedacht: Ja, passiert. Und bin schlafen gegangen. Ab dem Moment, wo ich wieder aufgewacht bin, hat ein Höllentrip angefangen. Die erste rechte Demo war komplett psychopathisch, die Polizei hat sich zurückgezogen. Die einzige Gruppe, die verhindert hat, dass die Gegendemo angegriffen wurde, war der Black Block. Die böse Antifa hat einfach mal die Sicherheit der Stadt übernommen. Ich erinnere mich auch an die Herz-statt-Hetze-Demo, wo wir bis spät in die Nacht die sichere Abreise der Leipziger versucht haben zu organisieren. Bei der Demo davor war die Abreise von einer großen Gruppe Faschos angegriffen worden, die Polizei ist extra zur Seite gegangen. Bei der Herz-statt-Hetze-Demo waren wir zehn Chemnitzer im Hauptbahnhof, die die Leipziger Abreise begleitet haben, und dann haben wir versucht, uns selbst noch eine sichere Abreise zu organisieren. Wir wussten, dass vor dem Bahnhof viele Rechte sind. Dann kam die Polizei zu unserer Gruppe und meinte, »entweder, sie gehen sofort raus, oder wir werden sie festsetzen, weil sie eine nicht angemeldete Versammlung haben«. Wir haben gesagt: »Vor dem Bahnhof stehen Nazis, die wollen uns verprügeln.« Und da hieß es: »Entweder, sie werden jetzt hier festgesetzt, oder sie gehen jetzt raus.« Also sind wir rausgegangen, haben uns bewaffnet und in eine dunkle Ecke gestellt und gewartet, dass irgendwie Autos vorbeikommen und uns abholen.
Passiert sowas häufiger?
Erik Neubert: Eine eindrückliche Erfahrung war mit einem niedersächsischen Polizisten, der gesagt hat: »Die sächsische Polizei, das sind nicht unsere Kollegen«. Und es gab ein Treffen der Clubbetreiber der Stadt, wo ein Club der bürgerlichen Mitte meinte, »wenn was passiert, werden wir nicht die Polizei rufen«. Wir hatten schonmal einen Vorfall, wir haben die Polizei gerufen, und ganz ehrlich: Wir haben den Faschos eher Verstärkung gerufen als uns Hilfe. Deshalb ist hier die Organisierung von Hilfsstrukturen enorm wichtig. Da gab es letztes Jahr Ende August, Anfang September Treffen, wo man teilweise fünf, sechs Stunden zusammen saß und Sicherheitspläne geschmiedet hat für gefühlt die ganze Stadt. Was macht man, wenn es komplett kippt. Aber auch, wie bringt man sich im Notfall in Sicherheit. Wir saßen alle auf gepackten Taschen.
Seid ihr bekannt bei den Nazis?
Marleen Reichel: Unsere Demos werden regelmäßig abfotografiert oder gefilmt. Wenn man da auftritt, steht man auf irgendeiner Liste. Gerade von Erik ist das bekannt, es tauchen regelmäßig Fotos mit seinem Namen und Adresse in rechten Foren und Gruppen auf. Auch von anderen politischen Gesichtern in der Stadt, die Gabi Engelhardt zum Beispiel, die Aufstehen gegen Rassismus organisiert.
Erik Neubert: Ich kann die politische Arbeit nur machen, weil ich weiß, worauf ich mich einlasse. Ich habe Erfahrungen gemacht, wie es ist, richtig schlimm auf die Fresse zu bekommen. So richtig lustig ist es nicht.
Wie unterstützt ihr euch bei dieser psychischen Belastung gegenseitig?
Erik Neubert: Wir sagen uns regelmäßig, wie toll wir sind. Du bist übrigens richtig toll, Marleen!
Marleen Reichel: Danke Erik, ich finde dich auch toll.
Erik Neubert: Danke. Ansonsten hilft, Witze darüber machen, dass einfach alles scheiße ist. Sonst spür' ich ja nur noch psychischen Druck.
Wie hat sich die Situation in der Stadt seit letztem Jahr verändert?
Marleen Reichel: Eine klare Verbesserung ist, dass es nicht mehr jeden Freitag rechte Demos mit Tausenden Teilnehmern gibt. Pro Chemnitz ist zur Zeit verdächtig ruhig. Andere Projekte von Rechten wie die Gelbwesten sind eher klein, da kommen höchstens 50 Leute. Aber das sind alles Sachen, die man hier nicht unterschätzen darf.
Erik Neubert: Ich finde es sehr interessant, dass die Studenten, die früher immer den linken Kern gebildet haben, komplett weggefallen sind. Die haben eine große Lücke hinterlassen, die gerade von ganz vielen Schülern aufgefüllt wird.
Woher kommt das größere Interesse der Schüler?
Marleen Reichel: Ich komme ja aus dieser Gruppe, für viele waren die Augustereignisse der Punkt, wo sie sich eingebracht haben. Das war für viele ein einschneidendes Erlebnis.
Erik Neubert: Ich merke es auch bei meiner Arbeit im Club. Plötzlich gibt es enorm viel mehr Jugendliche, die sich auf Partys schleichen wollen. Die haben alle Lust, was zu erleben, ob das jetzt Party ist oder politisches Engagement. Ich find's so schön!
Letztes Jahr am 1. September bei der großen rechten Demo und Gegendemo waren auch Gruppen junger Geflüchteter auf der Straße. Habt ihr Kontakt zu jungen Geflüchteten in Chemnitz?
Erik Neubert: Beim Ausgehen ja, im Bündnis nein.
Marleen Reichel: Chemnitz ist eine Stadt ohne viele Strukturen. Es gibt Begegnungspunkte wie den Agiua e.V., aber das ist noch im Aufbau. Es fehlen Orte, wo man als Geflüchteter hingehen könnte und nicht der einzige Nicht-Weiße in einem Haufen Deutscher ist.
Das Kosmos Chemnitz hat Anfang Juli ein Konzert mit 50.000 Leuten veranstaltet unter dem Motto »Wir bleiben mehr«. Wie wirken sich solche Ereignisse für euch aus?
Erik Neubert: Für mich hat es sich voll und ganz gelohnt, ich konnte Herbert Grönemeyer live sehen, das ist jetzt von der Liste gestrichen. Und heute kommt Roland Kaiser, mega Bock! Heute ist Kaisermania! Wenn wir damit nicht Kulturhauptstadt werden, habe ich Europa nicht mehr verstanden.
Marleen Reichel: Für uns ist das natürlich schön, wenn man auf der Straße gemeinsam steht mit 50.000 Leuten. Auch wenn man die nicht regelmäßig auf Demonstrationen sieht. Aber man kriegt doch ein Gefühl dafür, wie viele Leute prinzipiell positiv geneigt sind und nicht auf der anderen Seite stehen. Es ist auch schön, an Infoständen zu sitzen, und dann kommen ältere Leute, die man in seinem eigenen Raster als bürgerliche AfD-Leute einordnet, und sagen, es ist toll, dass ihr hier seid und das organisiert. Das ist schon eine wichtige Wertschätzung.
Letztes Jahr haben wir mit Leuten aus Chemnitz darüber gesprochen, wie Solidarität zwischen Stadt und Land aussehen kann. Was für eine Solidarität würdet ihr euch wünschen?
Marleen Reichel: Es ist definitiv wichtig, dass nicht alle wegziehen, sondern junge, engagierte Leute hier bleiben oder sogar herkommen. Es braucht auch eine stärkere Vernetzung auf sächsischer Ebene, auch mit dem Hinterland. Daran arbeiten wir zur Zeit.
Erik Neubert: Die Vernetzung mit dem Hinterland wird besser. Props gehen raus an Spektrum 360 Grad! In Chemnitz ist es schon hart, aber wenn eine Gruppe im Erzgebirge jede Woche verprügelt wird und trotzdem immer weiter macht, ist es einfach mega krass. Also: Spektrum 360 Grad, nur Herzen für euch! Eine Sache, worüber wir uns sonst sehr freuen, sind Solibilder. Das ist zwar nur fürs Feeling, aber es ist wunderschön. Am allerwichtigsten brauchen wir aus größeren Städten Geld! Zum Spendenkonto finden Sie alle wichtigen Daten auf unserer Website.
Die rechte Szene in Chemnitz und Umland ist schon lange groß und breit gefächert: AfD, Pro Chemnitz, Hoolszene, das militante Spektrum bis hin zu Revolution Chemnitz. Woran liegt das?
Marleen Reichel: In Ostdeutschland ist das Problem mit Rechtsextremismus immer ignoriert worden, schon in DDR-Zeiten. Das gab es halt nicht hinterm antifaschistischen Schutzwall. Da konnten sich Strukturen bilden, deshalb konnte sich hier auch der NSU verstecken. Weil es all diese Strukturen gibt, konnten die Rechten letzten Sommer so gut mobilisieren.
Erik Neubert: Mir fallen spontan einige Städte ein, die ähnlich starke rechte Strukturen haben. Beim Eintracht Braunschweig sieht man innerhalb der Fankreise Entwicklungen, die es beim CFC vor einigen Jahren gab. In Dortmund gibt es eine »national befreite Zone«, also einen Stadtteil, der komplett von Nazis besetzt ist. Aber ein bedeutender Unterschied ist, dass die bürgerliche Mitte in Chemnitz, in Ostdeutschland überhaupt, so nach rechts gerückt ist.
Warum denkst du, ist das passiert?
Erik Neubert: In Musikvideos und Liedern aus Chemnitz gibt es immer ein ähnliches Bild, ob die Videos nun verfallene Häuser zeigen oder es im Refrain direkt heißt »Ich komm aus Karl-Marx-Stadt, ich bin ein Verlierer, Baby«. Wenn man sich mit dieser Stadt beschäftigt, hat man erschreckend wenig Erfolgsgeschichten, die nach den 1920er Jahren spielen. Die meisten Leute versuchen ja, irgendwas zu finden, was sie groß und stark macht. Wenn es so wenige Erfolgsgeschichten gibt, dann bleibt für viele wohl nur die Nation.
Marleen Reichel: So ein Verlierer-Mindset ist ideal für Parteien wie die AfD, die sagen: »Wir verstehen euch als Ossis, ihr seid die echten Deutschen.« Das ist hier stark verwurzelt.
Erik Neubert: Auf der anderen Seite hast du einen Jan Böhmermann, den ich ja schätze, der Ostdeutschlandwitze macht, und dann sitzt du halt hier mit diesem Mindset und hörst natürlich nicht dem Comedian aus dem Westen gern zu, der sich lustig über dich macht, sondern der Partei, die sagt, dass das, was du machst, richtig ist. Genau deshalb ist die AfD hier eine etablierte Partei.
Bei den Kommunalwahlen im Mai sind die AfD und Pro Chemnitz mit 18 und acht Prozent in den Stadtrat gewählt worden, jetzt stehen die Landtagswahlen vor der Tür. Was sind eure Prognosen?
Marleen Reichel: Man muss sich keine Illusionen machen, wir steuern auf AfD als stärkste Kraft zu in Sachsen. Dann ist die Frage, wie sich die CDU verhält. Das härteste werden einfach die ersten zwei Wochen nach der Wahl ...
Erik Neubert: ... wenn sich die richtig harten Neonazis von der öffentlichen Meinung bestätigt fühlen. Da wird es in Chemnitz auch wieder was geben. Die Tage muss man überstehen, und danach macht man einfach weiter. Nützt ja nichts.
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