Die alte neue Gefahr
Rechte Kai Stoltmann über Kontinuitäten von Neonazinetzwerken und rechtem Terror
Interview: Maike Zimmermann
Nach dem Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke und dem Bekanntwerden des rechten Netzwerks Nordkreuz sprechen einige von einer neuen Qualität rechten Terrors in Deutschland. Aber stimmt das überhaupt? Kai Stoltmann ist Mitglied im Vorstand des Verbands der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt e.V. (VBRG) und Berater bei zebra e.V. in Schleswig-Holstein.
Wieso wird gerade jetzt so viel über sogenannte Feindeslisten gesprochen?
Kai Stoltmann: Zunächst einmal: Feindeslisten aus der extremen Rechten - organisierte Neonazis ebenso wie organisierte Rassisten - sind kein neues Phänomen. Schon in den 1990er Jahren war die sogenannte Anti-Antifa-Arbeit ein Schwerpunkt, mit der militante Neonazis ihre Gewalt und ihre Drohungen gegenüber sogenannten politischen Gegnern koordiniert und gesteuert haben. Ein markantes Beispiel aus den frühen 1990er Jahren ist das Neonaziblatt Einblick. Dort wurden rund 250 Namen und Adressen unter anderem von aktiven Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern durch die Gesinnungsgemeinschaft der Neuen Front, der GdNF, veröffentlicht. Durch Social Media und das Hosting auf Servern im Ausland haben die sogenannten Feindes- oder Todeslisten heute natürlich einen viel größeren Verbreitungsgrad. Dadurch steigt die Gefährdung für die Betroffenen ganz erheblich.
Was genau ist denn die sogenannte 25.000er-Liste?
Es ist die bislang umfassendste bekannte Liste. Sie stammt aus dem Hack des Duisburger Punk-Versandhandels IMPACT im Jahr 2015 und enthält die persönlichen Daten von etwa 25.000 Personen - Emailadressen, Telefonnummern, Anschriften. Das Ermittlungsverfahren gegen die mutmaßlichen Verantwortlichen für den Hack aus dem Umfeld der Jungen Nationalisten, der Jugendorganisation der NPD, aus Brandenburg wurde 2016 eingestellt. Erneut verbreitet wurde die Liste im Juli 2017 von dem baden-württembergischen AfD-Landtagsabgeordneten Heiner Merz als »Antifa-Mitglieder-Liste«. Außerdem wurde sie bei den Nordkreuz-Durchsuchungen sowie bei Mitgliedern der Gruppe Revolution Chemnitz gefunden.
Das heißt, Neonazis sammeln seit mindestens 30 Jahren kontinuierlich Daten?
Ja, genau. Auch das Netzwerk des Nationalsozialistischen Untergrunds, des NSU, hatte eine Datensammlung von rund 10.000 Personen und Objekten angelegt. Sie wurden auf einem der Rechner des NSU-Kerntrios in dem Haus in der Zwickauer Frühlingsstraße gefunden wurden. Darunter befanden sich sowohl migrantische als auch jüdische Institutionen, Moscheegemeinden, Synagogen, aber auch Politikerinnen und Politiker sowie kleine Initiativen und Vereine, die zum Teil für Anschläge ausgespäht wurden. Diese Informationen wurden nach der Selbstenttarnung des NSU in der Brandruine in Zwickau gefunden. Im Zusammenhang mit den Ermittlungen gegen Nordkreuz wurden ebenfalls mehrere Listen entdeckt, auf denen Journalisten, Politiker und politische Gegner verzeichnet waren: sowohl die oben schon genannte Liste aus dem IMPACT-Mailorder-Hack als auch Listen von Kommunalpolitikerinnen und -politikern aus Mecklenburg-Vorpommern, die als politische Gegner gebrandmarkt und ganz gezielt ausspioniert wurden. Darüber hinaus liegen der Polizei wohl noch weitere Listen vor, deren Umfang in der Öffentlichkeit jedoch nicht bekannt ist.
Solchen Listen werden von militanten Neonazinetzwerken genutzt, verbreitet oder auch ausgearbeitet. Welche sind die wichtigsten bekannten Netzwerke?
Allein in den letzten Jahren wurden in Deutschland mehrere große Verfahren gegen rechte Terrorgruppen geführt. Neben den Ermittlungsverfahren gegen das Netzwerk des NSU waren beziehungsweise sind das insbesondere der Prozess und die Ermittlungsverfahren gegen die Gruppe Freital, Oldschool Society und Revolution Chemnitz. Davon unabhängig wissen wir jedoch, dass es weitere militante Neonazinetzwerke gibt, die in Deutschland aktiv sind. Zu nennen ist an dieser Stelle insbesondere Combat 18, der bewaffnete Arm des Neonazinetzwerkes Blood and Honour. Erst vor wenigen Monaten wurde in den Medien berichtet, dass ein mutmaßliches Mitglied von Combat 18 für Drohungen gegen Journalisten verantwortlich sein soll, die über die rechte Szene aufgeklärt haben. Die Querverbindungen vom Netzwerk Combat 18 zum NSU und dem Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke zeigen deutlich, dass von diesen Gruppen bis heute ein enormes Gefährdungspotenzial ausgeht. Dementsprechend ist auch die Forderung »Kein Schlussstrich«, die zahlreiche linke Initiativen mit dem NSU-Urteil verbunden haben, weiterhin aktuell.
Viele haben den Eindruck, dass rechter Terror in letzter Zeit zunimmt - stimmt das? Haben wir es hier mit einer neuen Qualität zu tun?
Angesichts der anhaltenden Kontinuität rechter und rassistischer Gewalt halte ich es für falsch, an dieser Stelle von einer neuen Qualität zu sprechen. Der Hinweis auf eine neue Qualität beinhaltet eine Missachtung der Opfer des NSU und der zahllosen Betroffenen rassistischen Terrors. Gerade für Menschen, die von Rassismus betroffen sind, ist die Gefahr durch rechten Terrorismus und rassistische Gewalt spätestens seit Beginn der 1990er Jahre spürbar. Schon damals hatten wir es beispielsweise mit dem Brandanschlag von Mölln oder den Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen mit rassistischen Anschlägen zu tun. In der öffentlichen Wahrnehmung hat das Thema jedoch mit dem Mord an Walter Lübcke vermehrt Aufmerksamkeit erhalten, weil es sich dabei um einen weißen, deutschen Politiker gehandelt hat. Unsere Mitgliedsorganisationen fordern schon lange, bei der Debatte um rechte Gewalt die Perspektive der Betroffenen stärken zu berücksichtigen. Erst dann beginnt der Paradigmenwechsel im Umgang mit Neonaziterror und rassistischer Gewalt, der aktuell notwendiger denn je ist.
Dient der NSU militanten Neonazis als Vorbild? Hat der Ausgang des NSU-Prozesses in München Neonazis womöglich sogar ermuntert?
Schon seit den 1990er Jahren wird der Rechtsterrorismus vom Prinzip des sogenannten Führerlosen Widerstandes geprägt: konspirativ arbeitende Kleingruppen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sie nicht in größere Unterstützernetzwerke eingebunden sind. Das Vorgehen des NSU war in dieser Hinsicht bestimmt charakteristisch. Ich befürchte, dass es in der Zukunft weitere Nachahmer geben wird, die sich am NSU orientieren - der Frankfurter Anwältin Seda Basay-Yildiz wurden Morddrohungen zugeschickt, die vom »NSU 2.0« unterzeichnet waren. Dabei spielt natürlich sowohl die Tatsache eine Rolle, dass Seda Basay-Yildiz als Nebenklagevertreterin für die Familie des ersten NSU-Mordopfers, Enver Simsek, in der Öffentlichkeit sehr sichtbar war als auch ihre Arbeit als Strafverteidigerin. Der NSU-Prozess hatte für die Sympathisantinnen und Sympathisanten des Terrornetzwerkes, aber auch für die Betroffenen und Hinterbliebenen eine hohe Symbolwirkung. Die Unterstützer des NSU können sich nun sicher sein, dass selbst schwerste Straf- und Gewalttaten und deren Unterstützung nur mit relativ milden Strafen geahndet werden. Deutlich wird dies etwa beim Urteil gegen André Eminger: Es wurde von seinen Gesinnungsgenossen im Münchener Gerichtssaal demonstrativ beklatscht. Gleichzeitig hat sich mit dem NSU-Prozess für die Hinterbliebenen der Eindruck bestätigt, dass sie vom deutschen Staat weder Aufklärung noch Gerechtigkeit zu erwarten haben.
Die Behörden gehen in den verschiedenen Bundesländern sehr unterschiedlich mit der rechten Bedrohung durch Feindeslisten um - einige informieren Betroffene, andere nicht. Unter anderem im Fall von Nordkreuz gibt es sogar direkte Verbindungen zur Polizei. Welche Möglichkeiten gibt es, Betroffene zu unterstützen?
Aktuell herrscht eine große Unsicherheit bei Betroffenen und potenziell Betroffenen hinsichtlich der behördlichen Informationspraxis. Uns erreichen zahlreiche Anfragen von Menschen, die sich aus nachvollziehbaren Gründen nicht an die Beratungshotlines der Landeskriminalämter oder des Bundeskriminalamtes wenden wollen. Beispielsweise sind aus Mecklenburg-Vorpommern und Hessen Fälle bekannt geworden, bei denen Polizeibeamte Informationen aus behördeninternen Datenbanken für Feindeslisten oder Drohschreiben von Rechtsextremen verwendet haben. Betroffenen können wir zunächst nur raten, mit ihren Befürchtungen beziehungsweise konkreten Informationen nicht allein zu bleiben. Neben dem persönlichen Gespräch mit Freundinnen, Freunden oder der Familie können insbesondere unsere Mitgliedsorganisationen dabei helfen, individuell zu überlegen, wie mit der - auch potenziellen - Bedrohung umgegangen werden könnte. Die spezialisierten Opferberatungsstellen klären in direkten Gesprächen, welche Gefährdungslage vorliegen und welcher Umgang damit empfehlenswert sein könnte.
Daten-Hacks
Wer wissen will, ob er oder sie auf einer der Listen steht, die aus den großen Daten-Hacks generiert wurden, kann das teilweise selbst nachprüfen. Das Hasso-Plattner-Institut Digital Engineering der Universität Potsdam bietet dafür ein kostenfreies Tool. Der HPI Identity Leak Checker vergleicht die eigene Emailadresse mit den Inhalten großer Hacks und Datendiebstähle, darunter auch den durch die »National Sozialistische Hacker-Crew« begangenen Datendiebstahl beim IMPACT-Mailorderversand.
-> sec.hpi.de/ilc/