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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 651 / 20.8.2019

Gastfreundschaft fürs Kapital

Korruption Wie analysieren Linke den Aufstieg der transnationalen Antikorruptionsbewegung?

Von Hannah Schultes

Die Stadt Wien - Hauptstadt des jüngsten Korruptionsskandals, der die deutschsprachige Medienlandschaft in Aufregung versetzte - ist Mitglied von Transparency International, Austrian Chapter. Auf ihrer Website heißt es: »Korruption findet statt, doch man spricht nicht gern darüber. In unterschiedlichen Ausprägungen ist kein Staat, keine Verwaltung, kein Unternehmen vor ihr gefeit. Das Thema darf daher nicht verdrängt werden.« Überall lauert die Korruption. Ziel der städtischen Korruptionsprävention: »eine Kultur der Unbestechlichkeit und Transparenz«.

Die NGO Transparency International wurde 1993 gegründet. Der Korruptionswahrnehmungsindex, den Transparency International jährlich veröffentlicht, misst »die Wahrnehmung zum Ausmaß von Korruption im öffentlichen Sektor aus der Perspektive von Geschäftsleuten sowie Länderexpertinnen und -experten«. 1993 gab es zudem Anti-Korruptions-Kampagnen von Seiten der Weltbank, des Internationalen Währungsfonds und der OECD, von USAID und dem Open Society Institute.

Transparency International finanziert sich auch durch private Gelder von Unternehmen wie Boeing, IBM, General Motors, Exxon, General Electric oder Texaco. Somit sind es gerade die Wortführer der institutionalisierten Antikorruptionsbewegung, die von den Geldern mächtiger Kapitalgruppen abhängig sind. Versteht man Korruption in seiner herkömmlichen Bedeutung als Zerstörung des Gemeinwohls durch private Interessen, so stelle sich die Frage, warum Unternehmen ein Interesse entwickeln sollten, ihren eigenen Einfluss in der Politik zu bekämpfen, so der US-amerikanische Marxist Peter Bratsis. (1) Denn während sich multinationale Unternehmen zwar den Kampf gegen die Korruption auf die Fahnen schreiben, führt das Ausmaß der Korruption durch und in Unternehmen gleichzeitig immer wieder zu kleineren und größeren Skandalen. (siehe Kästen) Daran ändern auch »Compliance Management Systeme« - unternehmensspezifische Maßnahmenbündel und Regelwerke, die Korruption und »Wettbewerbsverstöße« verhindern sollen - und die Zertifizierung dieser Systeme nichts.

Mit den 1990er Jahren wurde Korruption zunehmend von einem innenpolitischen zu einem internationalen Thema. 40 Länder unterzeichneten 1997 beispielsweise die »OECD Anti-Bribery Convention«, die das Zahlen von Bestechungsgeldern für Auftragserhalt in anderen Ländern unter Strafe stellt. Bratsis verweist unter Bezug auf Nicos Poulantzas Postulat von der notwendigen »relativen Autonomie des Staates« darauf, dass diese aus Sicht des transnationalen Kapitals zentral ist, damit Staaten unabhängiger vom Einfluss lokaler Eliten und anderer Klientel werden. Beim VWL-Professor und Begründer des Korruptionswahrnehmungsindex Johann Graf Lambsdorff lässt sich nachlesen, welche Nachteile Korruption für ausländische Investoren hat: »Ausländische Investoren werden gegenüber Inländern übervorteilt, weil sie die für Korruption landesüblichen Usancen nicht beherrschen. Korruption bei der Steuererhebung, der Lizenzvergabe oder der Kontrolle von Umweltauflagen bringen schwer zu kalkulierende Risiken und Kosten hervor.« (2) Investitionen auf Basis von informellen Arrangements, Bestechung und Klientelismus sind demzufolge unsicher und unberechenbar. In Lambsdorffs Befragungen schnitten regelmäßig Venezuela, Nicaragua, Ecuador und Bolivien auffallend schlecht ab.

Die dominante Rahmung von Korruption als exklusivem Problem post-sozialistischer Länder, »failed states« und »Kleptokratien« ist für Peter Bratsis die »jüngste Wiederholung des kolonialen Blicks«: Unterschiede in Reichtum und »Entwicklung« werden auf »niedrigeren Zivilisationsgrad«, fehlende ethische Standards oder unzureichende politische und juristische Rahmenbedingungen zurückgeführt. Bratsis zufolge lässt sich der von internationalen Organisationen und Firmen immer wieder behauptete Zusammenhang zwischen bürokratischer Korruption und geringem Wachstum jedoch kaum erkennen.

Dennoch bleibt es eine gefühlte Wahrheit vieler westlicher Beobachter*innen, dass »die Länder des globalen Südens eben doch korrupter sind«. Stephan Kaufmann erklärte diese Ansicht im neuen deutschland (20.7.2019) unlängst damit, dass reiche Staaten im globalen Norden dem Kapital eine breite produktive Basis bieten können: Die Quelle des Reichtums sei das Wirtschaftswachstum, während es im Süden häufig um den Abbau von Rohstoffen, Tourismus oder den Anbau von Cash Crops gehe. Diese Ausbeutung der Natur vollzieht sich unter anderen Bedingungen: »Es existiert keine kohärente Nationalökonomie, die Wohlstand und Einkommen für die breite Masse der Einwohner schafft und die der Staat nur noch verwalten muss. Sondern lediglich Inseln kapitalistischen Reichtums.« Aufgabe des Staates, so Kaufmann weiter, sei nicht wie im Norden die Betreuung eines florierenden Geschäftslebens, das getrennt von ihm stattfindet und aus dem er sich finanziert. Sondern die Verwaltung seiner wenigen Devisenquellen, was oft bedeute: die Sicherung von Förderung und Abtransport der Rohstoffe, die als Input für die Produktion im Norden dienen.

Korruption als Undurchsichtigkeit

Bratsis geht davon aus, dass sich das weltweite Verständnis von Korruption verändert hat. So beziehen sich die eingangs genannten NGOs fast ausschließlich auf bürokratische Korruption, woraus folgte, dass die zugehörige transnationale Bewegung Korruption zunehmend mit Intransparenz und undurchsichtigen Strukturen gleichsetzte. Beim Thema Korruption ließe sich somit der Staat als ideeller Gesamtkapitalist, der die wirtschaftliche Konkurrenz durch Gewaltmonopol und Rechtsstaatlichkeit ordnet, bemühen. Und tatsächlich geht es in vielen Korruptionsfällen gerade um die Nicht-Ordnung der Verhältnisse. So bezieht beispielsweise der »Opacity Index« der Unternehmensberatung Kurtzman Group Unklarheiten auf gesetzlicher Ebene und ungleiche Implementation mit ein. Anders als bei bürokratischer Korruption geht es dann nicht um die Abweichung von formulierten Regularien und Gesetzen aufgrund von Beziehungen oder politischen Verbindungen, sondern um die Frage, welche Regularien und Gesetze überhaupt verabschiedet werden.

Ein gutes Beispiel hierfür ist der Steuerraub durch sogenannte Cum-Cum- und Cum-Ex-Geschäfte. Wie eine Recherche mehrerer europäischer Medien belegt, nutzten Reiche und zahlreiche bekannte Unternehmer seit den 1990er Jahren ein Schlupfloch im Steuerrecht, um europäische Staaten, vor allem Deutschland, um mindestens 55 Milliarden Euro zu betrügen. Dabei war ihnen ein dichtes Netz aus Banken, Anwaltskanzleien, Aktienfonds und Beraterfirmen behilflich. Genügend Spielraum für legale Formen von Korruption gibt es also trotz der vorhandenen diskursmächtigen Antikorruptionsindustrie. Ob sie begrenzt werden, scheint davon abzuhängen, wer von diesen Spielräumen letztlich profitiert.

Die Abweichung vom Prinzip der Neutralität des Staates und die Verletzung des Rechts erscheint jedenfalls in der Regel skandalöser als der systematische Einfluss von Kapitalinteressen auf die gesetzliche Ebene, der oft massenhafte Umverteilungen zuungunsten der unteren Klassen nach sich zieht. Wer sein Augenmerk auf Korruption legt, sucht meistens nach verbotenen Aktivitäten. Wenn Korruption jedoch nur als illegale Handlung in Form von Versprechungen oder Banküberweisungen denkbar ist, kann es sich beispielsweise kaum um Korruption handeln, wenn Angela Merkel wie im August 2018 mit einer »hochkarätigen Wirtschaftsdelegation« nach Ghana, Nigeria und Senegal reist. Das mittlerweile vorherrschende Korruptionsverständnis drängt den alltäglichen »legitimen Lobbyismus« noch stärker in den Hintergrund.

Es hilft, dass Korruption als Frage der Moral gilt. Für die Stadt Wien führt Korruption nicht nur »zu Wettbewerbsverzerrung und Verteuerung« und »schadet dem Standort«, sondern untergräbt auch »Fundamente und Wertmaßstäbe der Gesellschaft«. Gerade weil Korruption als Frage der Moral gilt, spielt das Ausmaß des Schadens, der dem Gemeinwohl durch Korruption entsteht, keine Rolle für seine Verurteilung.

Kann die Linke in diesem Diskurs gewinnen?

In den USA ließ sich beobachten, wie wenig sich der Korruptionsvorwurf zum Vorteil der Linken nutzen lässt: US-Präsident Donald Trump steht offen zu seinem Nepotismus, und die Korruptionsvorwürfe gegen ihn erregen nur die Gemüter der üblichen Verdächtigen. Die gängige Vorstellung von Korruption ist durchdrungen von Klassenverhältnissen, die sich in der medialen und politischen Verarbeitung von besonders skandalträchtigen Ereignissen erneut reproduzieren. Zu beobachten war dies nach der Veröffentlichung des Videos, das als der Beginn von »Ibizagate«, der »Strache-« beziehungsweise »Ibiza-Affäre« gilt. Bereits mit der Wortwahl wurde klar, dass es sich hier um eine besonders schmierige Geschichte und um ein besonderes Ausmaß handelte. Auch dieser Fall von politischer Korruption wurde in der Öffentlichkeit zum Ausnahmefall einer ansonsten stets sauberen Trennung zwischen Unternehmerinteressen und Gemeinwohlsphäre stilisiert.

Unter Bezug auf die Soziologin Barbara Rothmüller stellte Velten Schäfer im neuen deutschland (25.5.2019) zu Heinz-Christian Straches und Johann Gudenus Verhalten in den Raum: »Hätten sie nicht plump einen Deal vorgeschlagen, sondern dessen Inhalt in Phrasen à la Offenheit für Investitionen im Medien- und Infrastruktursektor und strategische Partnerschaft zwischen Politik und Wirtschaft verpackt, wäre die Aufregung geringer.« Die große Erregung hat der FPÖ bei der Europawahl im Mai jedenfalls nicht geschadet; der »Ibiza-Effekt« blieb sowohl für FPÖ als auch ÖVP aus. »Mein politisches Leben ist mit Sicherheit nicht am Ende«, versprach Ex-Vizekanzler Strache prompt angesichts seines errungenen Mandats, auf das er jedoch »verzichtete«.

Das nonchalante Gebaren von rechten Politiker*innen angesichts vorliegender Korruptionsbeweise deutet darauf hin, dass der Vorwurf von Korruption Rechte nicht so schwer trifft wie Linke. Während die Linke sich Ehrlichkeit, Unbestechlichkeit, Integrität und eine Distanz zur Macht auf die Fahnen schreibt, formuliert die Rechte diesen Anspruch kaum als ihre Werte. Im Gegenteil propagiert sie die Nähe von Politik und Wirtschaft - Verflechtungen, die Linke in der Regel auflösen wollen. Wenn Rechte als korrupt überführt werden, scheint dies dementsprechend auch weniger überraschend und skandalös. Wenn »kein Staat, keine Verwaltung, kein Unternehmen vor ihr gefeit« ist, wie die Stadt Wien selbst behauptet, wie schwer wiegt dann in der herrschenden Vorstellung Korruption als Vorwurf an einzelne (rechte) Politiker*innen und Kapitalisten noch? Im schlimmsten Fall kann es der Rechten sogar nützen, wenn sie sich unter Verweis auf die öffentlichen Anklagen als verfolgte Minderheit inszenieren können. Angesichts der jüngsten Razzia in Straches Wohnräumen äußerte sich dieser, das sei »lediglich ein weiterer politischer Angriff auf meine Person« - nicht wenige Österreicher*innen werden es ähnlich sehen.

Anmerkung:

1) Peter Bratsis: Political Corruption in the Age of Transnational Capitalism. From the Relative Autonomy of the State to the White Man's Burden. In: Historical Materialism 22(1). 2014. S. 105-128.

2) Johann Graf Lambsdorff: Korruption - Ausmaß und ökonomische Folgen. In: Wirtschaftsdienst 82(9). 2002.

Wiener Casino-Politik

Im Juni wurde bekannt, dass das Bauunternehmen Porr der ÖVP in den vergangenen drei Jahren etwa eine Million Euro gespendet hat. Der Tiroler Industrielle Klaus Ortner, Hauptaktionär bei Porr, sieht darin nichts Verwerfliches: Mit Sebastian Kurz, Parteiobmann der ÖVP seit Mai 2017 und Kanzler von Dezember 2017 bis Mai 2019, hätten »die Anliegen der Wirtschaft wieder Gehör gefunden«. Dass seine Tochter in den Aufsichtsrat der neuen Staatsholding ÖBAG berufen wurde, habe mit seinen Spenden nichts zu tun, beteuerte Ortner.

Inzwischen ermittelt die Staatsanwaltschaft auch wegen illegaler Parteienfinanzierung gegen die ÖVP. Am Rechnungshof vorbei sollen an die Agentur Mediaselect verdeckte Parteispenden von Konzernen und staatlichen Unternehmen in Höhe von mehreren Hunderttausend Euro an die ÖVP geflossen sein. Außerdem soll die ÖVP von Aufträgen profitiert haben, die von ÖVP-geführten Ministerien an die Agentur Mediaselect vergeben wurden. Mediaselect beglich dann Wahlkampfkosten der ÖVP. Hier handele es sich um genau jene Umgehungskonstruktionen, die Heinz-Christian Strache, ehemaliger FPÖ-Chef und Vizekanzler, im Ibiza-Video beschrieben hat, schreibt der Wiener Publizist und ak-Autor Lukas Oberndorfer. In Österreich existiere eine strukturelle Korruption unternehmensnaher Parteien, in der sich Konzerne eine Politik in ihrem Interesse kaufen können.

Mitte August wurde bekannt, dass die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft wegen eines vermuteten politischen Deals um die Besetzung des Finanzvorstands der Casinos Austria ermittelt. In diesem Zusammenhang gab es Hausdurchsuchungen bei Heinz-Christian Strache, Johann Gudenus, in den Büros der Casinos Austria sowie bei deren Finanzvorstand Peter Sidlo, Aufsichtsratschef Walter Rothensteiner und Aufsichtsrat Harald Neumann. Der Anzeige zufolge, die die Ermittlungen auslöste, sollen ÖVP und FPÖ vereinbart haben, den FPÖ-Mann Sidlo auf einem Ticket von Casino-Miteigentümer Novomatic in den Vorstand zu entsenden, schreibt der Standard. Im Gegenzug soll die FPÖ Entgegenkommen bei etwaigen Gesetzesänderungen beim »Kleinen Glücksspiel« nach der Wiener Gemeinderatswahl 2020 signalisiert haben.

Steuererleichterungen unter Rot-Grün

Im selben Zeitraum, in dem sich die Bundesregierung nicht sonderlich für den Steuerraub durch Reiche im Zuge der Cum-Cum- und Cum-Ex-Geschäfte interessierte, zeigte sie großes Engagement, die Steuersätze für Reiche und Unternehmen deutlich abzusenken: 1997 schaffte die damalige schwarzgelbe Bundesregierung die Vermögenssteuer ab. Unter Rot-Grün wurde 2001 die Körperschaftssteuer von 40 auf 25 Prozent gesenkt, unter Merkel schließlich auf 15 Prozent. Ähnlich die Einkommenssteuer: In den 1980er Jahren betrug der Höchststeuersatz auf Einkommen noch 56 Prozent. 1998 wurde er (unter Rot-Grün) auf 53 Prozent gesenkt und liegt inzwischen bei 42 Prozent. Allein die unter der Regierung von Gerhard Schröder (SPD) beschlossene Steuerreform hatte nach Inkrafttreten aller Stufen jährliche Mindereinnahmen des Staates von 40 Milliarden Euro zur Folge. Dazu kamen jährlich zehn Milliarden Euro durch die Unternehmenssteuerreform. Weil aufgrund der einsetzenden Rezession die Staatseinnahmen einbrachen, mussten neue Einnahmen generiert werden. Auch deshalb wurde 2007 die Mehrwertsteuer erhöht. Diese wird von der breiten Masse der Bevölkerung getragen und belastet vor allem diejenigen, die ihr verfügbares Einkommen nahezu vollständig für den Lebenserhalt ausgeben müssen. Diese Steuererhöhung spült jährlich zwischen 25 und 40 Milliarden Euro in die Staatskassen. Die Einnahmen des deutschen Staates beruhen derzeit zu etwa 90 Prozent auf Steuern. Und die werden - auch dank der Steuerreformen der letzten Jahrzehnte - zu zwei Dritteln von Lohnabhängigen getragen.

Siemens-Skandal 2006

Der wohl bekannteste deutsche Fall von Unternehmenskorruption ist der sogenannte »Siemens-Skandal«. Im November 2006 durchsuchten 200 Polizeibeamt*innen und Steuerfahnder*innen mehr als 30 Gebäude und Privatwohnungen an allen großen Siemens-Standorten. Was in den folgenden Monaten ans Licht kam, wird gemeinhin als größter Korruptionsskandal in der Geschichte der Bundesrepublik bezeichnet. Über Jahrzehnte existierte bei Siemens ein weit verzweigtes System für Schmiergeldzahlungen, inklusive schwarzer Kassen, Scheinfirmen und einer codierten parallelen Buchhaltung. Damit sicherte sich das Unternehmen Aufträge in Nigeria, Russland, Israel, Argentinien und zahlreichen anderen Ländern. Auch illegale Preisabsprachen mit anderen Unternehmen deckten die Ermittlungen auf. Im Zuge der Aufklärung des Korruptionsskandals wurde der Siemens-Vorstand ausgetauscht, 2,5 Milliarden Euro musste das Unternehmen für Aufarbeitung, Strafen und Steuernachzahlungen zahlen. Befürchtungen, der Konzern könnte an den Folgen der verharmlosend »Schmiergeldaffäre« genannten Machenschaften zugrunde gehen, bewahrheiteten sich nicht. Liest man die medialen Rückblicke, wird der Skandal als Zäsur beschrieben. Siemens hat sich seither umfangreiche Transparenz- und Antikorruptionsregeln verordnet, deshalb sei der Konzern heute ein Vorbild in Sachen »sauberer Geschäfte«. Die Beteiligten an dem Skandal kamen allerdings mit Bewährungs- und Geldstrafen in Höhe von einigen Zehn- bzw. Hunderttausend Euro davon. Ganz mochte man bei Siemens offenbar auch danach nicht von der Verlockung ablassen, sich Aufträge gegen kleine und größere Aufmerksamkeiten zu sichern. Im Herbst 2018 wurden Schmiergeldzahlungen bekannt, die Siemens in China geleistet haben soll. Und im Mai dieses Jahres berichtete Reuters, gegen Siemens und andere Konzerne werden wegen Bestechungen in Brasilien ermittelt. Zwei Jahrzehnte hätten sich die Unternehmen dort durch Bestechungen lukrative Aufträge im Gesundheitssystem gesichert. Ob diese Zahlungen vor oder nach der Zeitenwende bei Siemens geleistet wurden, ist noch unklar. Die Ermittlungen stünden erst am Anfang, sagte die brasilianische Bundesstaatsanwältin Marisa Ferrari.

Cum-Cum und Cum-Ex-Geschäfte

Das Bundesfinanzministerium wusste spätestens seit 2002, durch einen Hinweis des deutschen Bankenverbands, von diesen Geschäften, unternahm aber nichts und warnte auch andere betroffene Länder nicht. Der Bankenverband lieferte auch einen Vorschlag für ein neues Steuergesetz mit. 2005 reagierte Finanzminister Peer Steinbrück (SPD). Er erarbeitete eine Gesetzesänderung, die teils wörtlich dem Vorschlag des Bankenverbandes folgte, 2007 trat sie in Kraft. Eine Finanzbeamtin aus Nordrhein-Westfalen sagte damals: »Mit den komplizierten Regelungen soll offenbar lediglich die bisherige Bankenpraxis, die m. E. ohne zivilrechtliche Rechtsgrundlage ist, legalisiert werden.«

Ein ehemaliger Finanzinvestor, der in den Cum-Ex-Recherchen als Whistleblower auftrat, nannte das Gesetz eine Anleitung zum Steuerbetrug. Auch in den Folgejahren wird die Politik immer wieder gewarnt, dass der Betrug weiter läuft. Doch erst als im Jahr 2011 eine Steuerprüferin hartnäckig nachforscht, kommt das System ins Wanken. Unter dem Druck der Ermittlungen und Medienberichte werden die Gesetze schließlich geändert.