Die Bedrohung ist permanent
Deutschland Auch wer überzeugt davon ist, sich an die Regeln des Jobcenters zu halten, kann sanktioniet werden. Ein Erlebnisbericht
Von Sam Oht
Eine Vorbemerkung: Wenn das Jobcenter von »Einladung« spricht, ist damit in der Regel eine Sanktionsdrohung verbunden. Wenn du nicht zur vorgegebenen Zeit am vorgegebenen Ort auftauchst, hat das finanzielle Konsequenzen. Wenn das Jobcenter von »Kunden« spricht, meint es damit nicht freie und gleiche Warensubjekte, die ihren Sachbearbeiter*innen im Reich von Freiheit, Gleichheit und Eigennutz gegenübertreten; die sich entscheiden können, ob, was und wo sie kaufen - und schon gar nicht ist der »Kunde« als »König« gemeint. Im Gegenteil ist der »Kunde« beim Jobcenter Bittsteller*in, der/die sich unterwerfen und jede Menge absurde und demütigende Regeln erfüllen muss, um nicht zu hungern. Wenn das Jobcenter zu einem »Speed-Dating« einlädt, sollte das ebenfalls zu sprach-und ideologiekritischen Überlegungen anregen.
Speed-Dating der anderen Art
Zu einem solchen »Speed-Dating mit einem Arbeitgeber« wurde ich als »Kunde« des Jobcenters vor rund fünf Jahren »eingeladen«. Der Arbeitgeber war ein Zeitarbeitsunternehmen, das sich, so die spätere Formulierung der Jobcenter-Angestellten bei meiner Gerichtsverhandlung, »auch im Bereich Kita- und Grundschulbetreuung auf dem Markt etablieren wollte«.
Da die Zeitarbeit- und Niedriglohnbranche bekanntlich einen besonders engen Draht zum Jobcenter hat, wurde auch dieses Unternehmen bei der Personalrekrutierung massiv unterstützt: »Einladungen« zum »Speed-Dating« gingen an alle im weitesten Sinne ins Profil passenden »Kunden« - vermutlich also an alle, die schon mal »mit Menschen« gearbeitet haben oder eine formale Qualifikation für so etwas haben. Die Gespräche mit dem Arbeitgeber vor Ort wurde im Stakkatotakt abgefertigt: Sie dauerten nur wenige Minuten, die Pausen zwischen den Gesprächen waren noch kürzer.
Mein Vorstellungsgespräch lief in etwa so ab: Nachdem ich die Fragen, ob ich berufliche Erfahrungen mit kleinen Kindern hätte oder ob ich in meiner Ausbildung damit zu tun gehabt hätte, wahrheitsgemäß verneint hatte, ging es um die Frage, ob ich mir die besagte Tätigkeit vorstellen könne. Ich schilderte recht konkret, wie ich meine Fähigkeiten und Schwierigkeiten im Umgang mit größeren Gruppen von kleinen Kindern einschätzen würde. Die Rückmeldung, die ich darauf bekam, war, dass ich für die Stelle wohl eher nicht geeignet sei.
Trotzdem wurde nochmal nachgefragt, ob ich die Tätigkeit vorübergehend ausüben wolle - sozusagen zur Überbrückung, bis ich etwas Passenderes gefunden habe. Im Bewusstsein, dass es in dieser Situation nicht auf das ankommt, was ich will, und weil mir der Inhalt der zur Diskussion stehenden Tätigkeit nur sehr oberflächlich geschildert wurde, gab ich die Frage zurück: Der Arbeitgeber habe einen besseren Einblick in das Anforderungsprofil und nachdem ich meine Fähigkeiten und Schwierigkeiten geschildert habe, könne er besser einschätzen, ob ich geeignet wäre. Darauf bekam ich eine negative Antwort und wurde verabschiedet.
Einige Zeit später bekam ich eine Sanktionsanhörung, weil ich angeblich ein Stellenangebot abgelehnt hätte. Trotz meines Widerspruchs wurde die Sanktion wenige Monate später vollstreckt. Zu dem Verfahren, bei dem geklärt wurde, ob diese Sanktion rechtmäßig war (selbstverständlich hatte ich gegen diese geklagt), kam es fünf Jahre später (!) am Sozialgericht Berlin. Im Folgenden will ich darlegen, warum meine Klage abgewiesen wurde.
»Sie hätten jeden eingestellt«
An den Vorstellungsgesprächen teilgenommen hatten eine Vertreterin der Zeitarbeitsfirma, eine Angestellte des Jobcenters und ich. Zur Gerichtsverhandlung vorgeladen waren wir alle drei. Nicht erschienen ist die Vertreterin der Zeitarbeitsfirma. Die Aussage der Jobcenterangestellten lautete etwa folgendermaßen: An die konkreten Gespräche könne sie sich nicht erinnern, an mich noch weniger. Was sie aber in Erinnerung haben wollte war, dass die Zeitarbeitsfirma dringend auf der Suche nach Leuten war und deshalb »jeden« angestellt hätte, der formal qualifiziert gewesen sei und »Ja« gesagt hätte. Die Kriterien, wer als formal qualifiziert gilt, wurden aufgrund des Mangels an Erzieher*innen in den Jahren zuvor meines Wissens massiv ausgeweitet. Die Aussage der Jobcenterangestellten implizierte - auch wenn das nicht explizit ausgesprochen wurde -, dass persönliche Eigenschaften und soziale Kompetenzen irrelevant sind, um mit kleinen Kindern zu arbeiten. Das Gericht hat diese Aussage vorbehaltlos akzeptiert.
Die Zeugin des Jobcenters hat außerdem geschildert, dass die Gespräche wenig erfolgreich waren: Es gab so gut wie keine Einstellungen. Ob die anderen Kandidat*innen ebenfalls Sanktionen bekommen haben, ist mir nicht bekannt. Was Eltern darüber denken, dass ihre Kleinen »Quereinsteiger« vorgesetzt bekommen, die mit Kindern nichts anfangen können, weiß ich ebenfalls nicht.
In seiner Urteilsbegründung hat das Gericht durchaus zur Kenntnis genommen, dass meine Aussage in Widerspruch zu der des Jobcenters stand. Ich hatte geschildert, dass die Ablehnung nicht von mir, sondern vom Arbeitgeber kam. Die Zeugin des Jobcenters konnte sich, wie bereits erwähnt, weder an mich noch an irgendeinen konkreten Gesprächsverlauf erinnern. Sie hat lediglich allgemeine Behauptungen (»die hätten jeden genommen«) aufgestellt. Das schien dem Gericht glaubwürdiger als meine Aussage - vermutlich, weil Amtspersonen vor Gericht per se glaubwürdiger sind als Privatpersonen. Als Amtspersonen sind sie ja nicht persönlich involviert, sondern haben sozusagen eine objektive Perspektive. Der Konflikt, den ich mit meiner damaligen Sachbearbeiterin hatte (die mit der Jobcenter-Zeugin vermutlich persönlich bekannt ist), ist in der Verhandlung dementsprechend auch nicht zur Sprache gekommen.
»Der Aussage mangelt es an Detailreichtum«
In der Urteilsbegründung wird auch vermutet, dass der Widerspruch zwischen meinen Aussagen und denen des Jobcenters auf »Erinnerungslücken« meinerseits zurückzuführen sein könnte. Dass ich mir vor fünf Jahren Notizen zum Gesprächsverlauf gemacht hatte, was ich vor Gericht ebenfalls ausgesagt hatte, fand in die Urteilsbegründung keinen Eingang. Eine Aktennotiz des Jobcenters, die »zeitnah« angefertigt worden war, galt dagegen als besonders glaubwürdig.
Besonders unverschämt erscheint mir in diesem Kontext die folgende Formulierung in der Urteilsbegründung: »Die Glaubhaftigkeit der Aussage (wird) dadurch herabgesetzt, dass es der Schilderung des Klägers über den Gesprächsverlauf an Konkretheit, Detailreichtum und Anschaulichkeit mangelt.« Wohl gemerkt: Es ging um ein Gespräch, welches fünf Jahre zurücklag! Dass man so lange warten muss, bis es zu einer Verhandlung kommt - während die Sanktion selbst sofort vollstreckt wird! -, ist schon krass. Dass aber diese lange Wartezeit dann noch als Argument gegen einen verwendet wird, hinterlässt eine Mischung aus Ohnmacht und Wut. Eine Gefühlslage, die jeder und jedem Hartzer*in vermutlich bekannt ist.
Meine Klage wurde abgewiesen, Berufung ist nicht möglich. Falls ich das richtig verstanden habe, wäre eine solche erst bei einem Streitwert über 600 Euro möglich. Dass die 360 Euro, um die es bei mir ging, für jene, die solche Mindestwerte beschließen, weniger als Peanuts sind, ist zu vermuten. Ähnliches gilt wohl für die Richter*innen, die mit solchen Fällen betraut sind. Für jemanden, der von Grundsicherung lebt, gilt dies aber nicht. Finanziell war das für mich aber vor allem vor fünf Jahren problematisch. Und 2014 hätte es mir auch nicht geholfen, wenn das Gericht 2019 zu meinen Gunsten entschieden hätte.
Befremdende Debatten
Wie einfach man eine Sanktion bekommen kann, hat mich überrascht: In besagtem Fall war ich überzeugt davon, mich an die mir vom Jobcenter aufgezwungenen Regeln gehalten zu haben. Dass mich trotzdem eine Sanktion getroffen hat, verstärkt mein Gefühl einer diffusen Ohnmacht.
Diese permanente Bedrohung trägt sicherlich dazu bei, dass mich die Debatte, ob solche Sanktionen sinnvoll, notwendig oder kontraproduktiv sind, befremdet. Aus der Perspektive von Staat und Kapital lässt sich darüber sicherlich kontrovers diskutieren. Die Verteidiger eines »fordernden« Sozialstaats können möglicherweise zu Recht darauf verweisen, dass die Agenda 2010 die internationale Konkurrenzfähigkeit der deutschen Wirtschaft gestärkt hat. Oder darauf, dass Hartz IV und die Ausweitung von Niedriglohn- und Leiharbeit die Arbeitslosenquote verringert hat. Und manchen schlecht bezahlten Scheißjob würde kein vernünftiger Mensch machen, wenn es nicht enorme Druckmittel gäbe, die ihn dazu zwängen.
Die Anhänger*innen des »fördernden« Sozialstaat können dagegen darauf verweisen, dass - solange der Kapitalismus eine vernünftigere Beschäftigung verhindert - die Menschen mangels Alternativen auch »freiwillig« Scheißjobs übernehmen würden. Darüber hinaus spricht sicherlich auch der hohe Verwaltungsaufwand gegen das aktuelle Sanktionsregime. Und vielleicht auch der Verlust von »Humankapital«, das aufgrund von zu viel äußerem Druck nicht befähigt wird, sein (Mehr-)Wert produzierendes Potenzial zu entfalten.
Aber als Hartz-IV-Bezieher ist mir nicht daran gelegen, das für die Funktionalität der bestehenden Gesellschaft zweckdienlichste Verhältnis von »fordern« und »fördern« zu finden. Wer Sanktionen gutheißt - egal ob dies aus vermeintlich wohlüberlegten volkswirtschaftlichen Überlegungen heraus passiert oder aus einem sadistische Strafbedürfnis heraus - argumentiert unter einer Prämisse, die ich nicht teilen kann. Sollte er oder sie darin aber soweit recht haben, dass die bestehende Wirtschaftsordnung auf solche Zwangsmittel angewiesen ist, dann folgt daraus keine Legitimation der Sanktionen, sondern die Delegitimation der Gesellschaftsordnung, die solches nötig hat.
Sam Oht berichtete und polemisierte in ak 640 über und gegen eine gegen ihn verhängte Jobcentermaßnahme.