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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 652 / 16.9.2019

Ungesühnte Schuld

Geschichte Die Shoah in Griechenland und die deutsche Ablehnung von Entschädigungsforderungen

Von Corry Guttstadt

»Während der NS-Besatzung hat Griechenland vielleicht mehr als jedes andere Land gelitten«, heißt es in einem Bericht des American Jewish Joint Distribution Committee von 1945. Das Ausmaß an Leid und Zerstörung, das die Deutschen zwischen April 1941 und Oktober 1944 über das Land brachten, lässt sich kaum in Worte fassen: Von einer Gesamtbevölkerung von knapp siebeneinhalb Millionen Menschen vor der Besatzung verloren etwa 500.000 ihr Leben: verhungert, weil die Deutschen Nahrungsmittel beschlagnahmten, als vermeintliche Widerständler*innen von Soldaten der Wehrmacht erschossen oder in Konzentrationslager verschleppt und ermordet. Der Name des Dorfes Distomo steht exemplarisch für Massaker und Terror der Deutschen gegenüber der Zivilbevölkerung: Etwa 1.500 Dörfer wurden niedergebrannt oder zerstört.

Die jüdische Bevölkerung des Landes wurde fast vollständig ausgelöscht: Etwa 85 Prozent der 80.000 Jüdinnen und Juden Griechenlands wurden deportiert und ermordet. Dies betraf in besonderer Weise die Gemeinde von Thessaloniki, der bis 1941 weltweit größten sephardischen Gemeinde. In den Jahrhunderten unter osmanischer Herrschaft hatte sich die Stadt zum »Jerusalem des Balkans« entwickelt: Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Bevölkerung mehrheitlich jüdisch, es gab allein 100 Betstuben, 32 Synagogen, der Samstag (Sabbat) war allgemeiner Ruhetag, jüdische Geschäfte, Schulen und Zeitungen prägten das Leben der Stadt. Obwohl sie seit 1912 zu Griechenland gehörte und unter dem Druck der Gräzisierungspolitik Zehntausende Jüdinnen und Juden emigriert waren, stellten die etwa 55.000 Jüdinnen und Juden Salonikis zu Beginn der Besatzung 1941 noch immer ein Viertel der Bevölkerung der Stadt. 96 Prozent von ihnen wurden Opfer der Shoah.

Wie überall in den deutsch besetzten Ländern Europas ging die Ermordung der Jüdinnen und Juden einher mit dem systematischen Raub ihres Eigentums. So konfiszierten die Deutschen etwa 6,6 Tonnen Gold aus jüdischem Besitz. Im Juli 1942 zahlte die jüdische Gemeinde Salonikis 2,5 Milliarden Drachmen (nach damaligem Wert eine halbe Million Reichsmark) an »Lösegeld« für die Freilassung von etwa 7.000 jüdischen Männern, die unter mörderischen Bedingungen Zwangsarbeit verrichten mussten. Wenige Monate später wurden fast alle von ihnen trotzdem in die Todeslager deportiert. Dabei zwangen die Deutschen ihre jüdischen Opfer auch noch, die Fahrtkosten der Deportationszüge zu bezahlen.

Wenig erforscht und berechnet ist der Raub privater Wertsachen, der den Jüdinnen und Juden bei der Deportation abgenommen oder aus ihren Wohnungen geraubt wurde. Überhaupt nicht zu beziffern ist der materielle und kulturelle Wert der Bücher, Manuskripte und Kultusgegenstände der jüdischen Gemeinden Griechenlands, die der »Einsatzstab Rosenberg« mit Hilfe von Wehrmacht und SS aus Synagogen und jüdischen Privatwohnungen abschleppte, darunter jahrhundertealte Schriften von unschätzbarem Wert.

Deutschland verhindert die Bestrafung der Täter

Die Politik aller deutschen Bundesregierungen bis heute widerlegt das Gerede von der »immerwährenden Verantwortung« Deutschlands gegenüber den jüdischen Opfern und der angeblich so gelungenen Aufarbeitung der Geschichte. In den 1950er und 1960er Jahren ging es den Bundesregierungen in erster Linie darum, die Bestrafung deutscher Kriegsverbrecher zu verhindern. Unter Ausnutzung der wirtschaftlichen Schwierigkeiten Griechenlands wurden der für die Deportationen und die Erpressung der griechischen Jüdinnen und Juden verantwortliche Kriegsverwaltungsrat Max Merten und zahlreiche andere seitens der Bundesrepublik buchstäblich freigepresst. Die deutsche Seite sorgte dafür, dass die griechische Justiz ihre Ermittlungen gegen Hunderte deutscher Kriegsverbrecher einstellte. Parallel wurde alles unternommen, um die berechtigten Forderungen der jüdischen (und nicht-jüdischen) Griech*innen zu verschleppen oder generell abzulehnen. Von dem geraubten Opfergold wurde nicht einmal ein Bruchteil erstattet. Bis heute verweigert Deutschland die Rückzahlung des von der Gemeinde von Saloniki erpressten »Lösegeldes« sowie die Erstattung der den jüdischen Opfern abgepressten Fahrtkosten.

Anlässlich des 75. Jahrestages der Befreiung Griechenlands im Oktober 1944 hat ein Bündnis zahlreicher Gruppen und Organisationen (1) die griechische Historikerin Rena Molho nach Hamburg eingeladen. Als jüdisches Kind im Thessaloniki der Nachkriegszeit wuchs sie auf, »umgeben von Büchern mit schauerlichen Fotografien und Gestalten gequälter Menschen aus den Vernichtungslagern (...), dass ich bis zu meinem zehnten Lebensjahr nur mit Licht einschlafen konnte, weil ich oft Alpträume hatte.«

In ihrer Arbeit als Historikerin widmete sie sich zunächst der Rekonstruktion der »Einzigartigkeit Thessalonikis als besondere jüdische Metropole«, die durch die Shoah und anschließend zusätzlich durch die Homogenisierungspolitik der griechischen Regierung(en) zunichte gemacht worden war. 2016 erschien im Dietz Verlag ihr Buch »Der Holocaust der griechischen Juden«, in dem sie neben der Shoah in Griechenland auch den Umgang der griechischen Mehrheitsgesellschaft mit dem Schicksal »ihrer« Juden thematisiert, in deutscher Übersetzung.

Corry Guttstadt ist Turkologin und Historikerin. Sie lebt in Hamburg.

Anmerkung:

1) Internationale Kommunikationswerkstatt, Arbeitskreis Distomo, KZ-Gedenkstätte Neuengamme, Institut für die Geschichte der deutschen Juden, Hamburger Griechen, Rosa Luxemburg Stiftung Hamburg, Auschwitz-Komitee in der BRD

Rena Molho

spricht zum Thema »Die Shoah in Griechenland und Deutschlands Haltung zu griechischen Entschädigungsforderungen«. Eine Veranstaltung am Donnerstag, dem 26. September 2019, um 19 Uhr im Tschaikowsky-Saal, Tschaikowskyplatz 2, 20355 Hamburg.