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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 652 / 16.9.2019

Schweigt von Flugscham und Veggieday!

Diskussion In der Klimadebatte werden gesellschaftliche Probleme privatisiert. Doch auch die Forderung nach dem Systemwechsel kann zu kurz greifen

Von Guido Speckmann

Es mutet seltsam an: Die mediale Aufmerksamkeit für die Treibhausgasemissionen des Luftverkehrs steht im Gegensatz zu seinem prozentualen Anteil an den Gesamtemissionen. Beim Autoverkehr oder Fleischkonsum ist es ähnlich. Für den Löwenanteil der Emissionen ist vielmehr die Industrie verantwortlich, genau genommen die Energiewirtschaft, das fossile Kapital. Warum wird deren Anteil kaum thematisiert? Eine Antwort könnte sein: Weil der Fokus auf Fliegen, Fleisch und Verkehr suggeriert, dass jede/r Einzelne einen Beitrag im Kampf gegen den Klimawandel leisten kann. Wenn das Individuum im Vordergrund steht, bleiben die schlimmsten Klimakiller im Hintergrund. In der gegenwärtigen Klimadebatte liest man daher nichts von Unternehmen wie Huaneng Power International, American Electric Power oder Eskom, um nur ein paar der Energiekonzerne mit den meisten Emissionen zu nennen. Selten auch ist vom US-Militär die Rede, dem wohl größten Verbraucher fossiler Energie. Es kommt einem die Aktualisierung des Diktums Max Horkheimers in den Sinn: Wer aber vom fossilen Kapital nicht reden will, sollte auch von Veggieday und Flugscham schweigen.

Dass in der Klimadebatte die Privatisierung gesellschaftlicher Probleme dominiert, ist nicht verwunderlich. Das in der Mainstreamökonomie dominierende Theorem der »Konsumentensouveränität« ist hierfür mitverantwortlich. Dieses besagt, dass Verbraucher*innen oder Konsument*innen durch ihre Kauf- und Konsumentscheidungen Art und Umfang der Produktion steuern. Der oder die Konsument*in bestimme also, wie viel von welchen Gütern hergestellt wird. Die Verbraucher seien ökonomisch die eigentlichen Verursacher der Umweltzerstörung, schrieb schon Anfang der 1980er Jahre die Frankfurter Allgemeine Zeitung.

Für Marxist*innen freilich ist die These der »Konsumentensourveränität« lediglich Schein, der aus der Zirkulationssphäre herrührt. Dagegen betonen sie das Primat der Produktion. Der Zweck der Warenproduktion ist nicht die Versorgung der Menschen mit nützlichen und angenehmen Dingen, sondern die Akkumulation von Kapital. Der Ökomarxist John Bellamy Foster spricht daher vom »Rätsel des Konsums«. Gemeint ist damit, dass zwar das Umweltproblem in erster Linie aus der Produktion erwächst, es jedoch in der Umwandlung von Natur durch menschliche Arbeit in wachsendem Maße vollständig dem Konsum zugeschrieben wird. Der Konsum erscheint als Ursache der Umweltzerstörung.

Linke Variante der Konsumkritik

Gewissermaßen als linke Variante der »Konsumentensouveränität« wird das Konzept der »imperialen Lebensweise« von Ulrich Brand und Markus Wissen rezipiert. Dieses beschreibt im Kern die Möglichkeit breiter Bevölkerungsschichten nicht nur des Globalen Nordens, überproportional auf Natur und Arbeitskraft weltweit zuzugreifen. Kritiker*innen wenden ein, dass das Konzept zu sehr auf Warenzirkulation und Konsum fixiert sei. (1) Da ist ohne Zweifel etwas dran, doch ist zuzugestehen, dass die Autoren zumindest dem erklärten Anspruch nach versuchen, die Lebensweise mit der Produktionsweise zusammen zu analysieren. Dass es ihnen nicht gelingt - gerade, wenn es konkret wird -, mag auch daran liegen, dass sie zwar die Absicht haben, »die hegemoniale Verankerung imperialistischer Politik in den Alltagspraxen und -wahrnehmungen vor allem der Mittel- und Oberklassen in den Gesellschaften des globalen Nordens zu verdeutlichen«. Doch wird der positive Bezug zum Imperialismusbegriff weder begründet noch näher ausgeführt. Ein derartiges Unterfangen hätte vermutlich die zu starke Konzentration auf den Konsum relativiert. Eine Konzentration im Übrigen, die in den Publikationen des I.L.A.-Kollektivs noch stärker zu finden ist. In ihnen ist die herrschafts- und kapitalismuskritische Sicht weniger ausgeprägt als bei Brand und Wissen. Die Wirtschaftsweise basiert dort zwar auf Profit und Wachstum, wird aber nur selten beim Namen Kapitalismus genannt. (2)

Jene, die darauf insistieren, dass es der Kapitalismus, die Ölmultis und die Schwerindustrie sind, die die Welt ökologisch ruinieren, haben auf den ersten Blick recht. Ganz überwiegend vollzogen sich die ökologisch schwerwiegenden Eingriffe in den Stoffwechsel mit der Natur in der Tat fast ausschließlich in kapitalistischen Produktionsweisen. Aber auch jenseits des Kapitalismus können die stofflichen und energetischen Grundlagen der Produktion über Gebühr beansprucht werden, vor allem durch das Verbrennen fossiler Brennstoffe. Das ließ sich im sogenannten Realsozialismus beobachten, der insbesondere in der Sowjetunion unter Stalin ohne Rücksicht auf Verluste bei Mensch und Natur eine nachholende Modernisierung voranpeitschte, dabei aber mittelfristig den Lebensstandard der breiten Bevölkerung enorm hob - diese Dialektik ist mit zu berücksichtigen und gegenwärtig auch in China zu beobachten. Den globalen Senken, Atmosphäre, Meere oder Regenwälder, ist es egal, ob das Kohlendioxid aus kapitalistischen oder sozialistischen Schornsteinen geblasen wird oder ob Methan in Agrarfabriken in Privat- oder Gemeineigentum freigesetzt wird. Was damit gesagt werden soll: Nicht nur die Frage der Produktionsweise, ob kapitalistisch oder postkapitalistisch, ist entscheidend, sondern deren Zusammenhang mit den Naturbedingungen von Produktion, Konsumtion und Reproduktion. Die Frage der Produktions- und Lebensweise muss die planetaren Grenzen berücksichtigen.

Das Kapitalozän erfordert neues Handeln

Und hier kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Großteil der Linken dieses immer noch nicht genügend beachtet. Noch immer betrachten die meisten Linken den nötigen Systemwechsel nur gesellschaftlich, nicht im Verhältnis zur Natur. Doch die drohende Klimakatastrophe, die Diskussion um das Anthropozän (besser: Kapitalozän) strukturieren alles neu, setzen neue Maßstäbe für das politische Handeln. Marxist*innen und Sozialist*innen gingen und gehen davon aus, dass die Entwicklung der Produktivkräfte allen Menschen ein Leben im Überfluss ermöglichen werde und teilten den Technikoptimismus des liberalen Lagers. »Angesichts der ökologischen Herausforderungen ist der Zug zum Sozialismus aber nicht aus dem verwirklichten Recht auf Naturaneignung zu begründen, sondern aus der nötigen Pflicht zur Naturerhaltung«, schreibt Hans Thie und fährt fort: »Das klingt für manchen Marx-Jünger alter Schule wie eine Zumutung. Das hat den finster-bornierten Beigeschmack von netter Gemeinschaft beim kollektiven Anbau von Bio-Radieschen.« (3)

Das klingt nach Verzicht und nach Wachstumskritik. Und damit wären wir bei der Degrowth-Bewegung. Sie kritisiert scharf den Produktivismus sowohl des liberalen als auch des marxistischen Lagers. Die stetige Steigerung des Bruttoinlandsprodukts (BIP), die vollständige Entfaltung der Produktivkräfte sind ihr ein Graus, weil dadurch Naturverbrauch und Emissionen immer stärker zunehmen. Eine absolute Entkopplung des Wirtschaftswachstums vom Ressourcenverbrauch hat es tatsächlich noch nicht gegeben. Insofern lauten die zentralen Forderungen der wachstumskritischen Bewegung für die fortentwickelten Industrieländer: weniger und lokal produzieren, um Energieeinsatz und Emissionen bei Produktion und Transport zu minimieren. Wenn weniger produziert wird, kann folglich auch weniger konsumiert werden. Das ist, wenn man so will, eine Verzichtsdebatte, wenngleich in erster Line für den Globalen Norden und eine, die primär den sogenannten Statuskonsum und Luxuskonsum betrifft. Die Staaten des Globalen Südens indes - mit Ausnahme von Schwellenländern wie China und Indien - müssen weiter wachsen und mehr produzieren. Hier geht Wirtschaftswachstum noch mit einer Steigerung des Wohlstandsniveaus einher. Aber global gesehen führt angesichts des Überschreitens ökologischer Grenzen kein Weg daran vorbei, den Stoffwechsel mit der Natur, jegliche Grundlage menschlicher Existenz, zu reduzieren. Allerdings - auch darauf weist die Degrowth-Bewegung hin - muss das nicht mit einem Verlust an Lebensqualität und Wohlstand einhergehen. Lebensqualität und Wohlstand ist ja auch anders denkbar als über Konsum. Weniger Produktion und weniger Lohnarbeit bedeutet mehr Zeit für Freunde, Hobbys oder Kunst. Zeitwohlstand ist ein Stichwort, unter dem diese Vorstellungen diskutiert werden.

Degrowth: keine Kritik des Kapitals

Was bei der Wachstumskrititk in fast jeder Schattierung jedoch zu kurz kommt, ist die Dynamik der Kapitalakkumulation. Die Degrowth-Debatte ist zumeist Konsumkritik, womit sie starke Überschneidungen zum Konzept der imperialen Lebensweise und zum im grün-liberalen Lager überwiegende Vorstellungen aufweist. Wachstumskritik ohne eine Kritik der Akkumulation von Kapital ist somit genauso unzureichend wie eine Kapitalismuskritik, die einseitig auf den Verwertungszwang abhebt, ohne die stoffliche Seite von Produktion und Konsum zu berücksichtigen. »Wachstumskritik ist mehr als Konsum- oder Lebensweisenkritik, die sich einzelne zu Herzen nehmen können oder auch nicht«, sagte Elmar Altvater in einem seiner letzten Interviews. »Sie ist Gesellschaftskritik oder wirkungslos.«

Was daraus folgt: zunächst der Abschied von einem monetären Verständnis von Ökonomie und die Stärkung einer biophysikalischen Herangehensweise an Wirtschaft mit stofflichen, energetischen und sozialen Parametern. (4) Der Erfinder der Bioökonomie, Nicholas Georgescu-Roegen, lässt grüßen, aber sein Werk wird kaum diskutiert. Darüber hinaus ist über eine Obergrenze für den von einem Individuum beanspruchten materiellen Wohlstand nachzudenken. Würde das umgesetzt, wäre es ebenso ein radikal antikapitalistisches und egalitäres Projekt. Der Ökonom Thomas Piketty hat eindrucksvoll gezeigt, dass die einkommensstarksten zehn Prozent der Weltbevolkerung fur 45 Prozent der Emissionen verantwortlich sind, wohingegen die unteren 50 Prozent global lediglich 13 Prozent emittieren. Würde man jeder Person eine Obergrenze beim ökologischen Fußabdruck zubilligen, wäre das ohne eine andere, eine nichtkapitalistische Produktionsweise- und Lebensweise nicht denkbar. Eingriffe in die Eigentumsverhältnisse wären unumgänglich. In diesem Sinne haben die Bewegungen, die die Enteignung von Wohnungskonzernen fordern, und die neu entstandenen Klimabewegungen mehr gemeinsam, als man zunächst annehmen könnte. Ihre Erfolge hängen auch davon ab, inwieweit sie zueinander finden werden.

Anmerkungen:

1) Siehe Klaus Dörre: Imperiale Lebensweise: Uneingelöste Ansprüche und theoretische Schwierigkeiten, in: Sozialismus, Hefte 6 und 7-8/2018; Thomas Sablowski: Warum die imperiale Lebensweise die Klassenfrage ausblenden muss, in: LuXemburg, Heft 5/2018.

2) I.L.A. Kollektiv: Auf Kosten anderer? München 2017; Das Gute Leben für Alle, München 2019.

3) Hans Thie: Rotes Grün. Pioniere und Prinzipien einer ökologischen Gesellschaft. Hamburg 2013, Seite 57.

4) Max Koch: Degrowth: Für eine planetarische Grenzen respektierende solidarische Politik, online unter: www.zeitschrift-luxemburg.de, Januar 2018.