Gekämpft, verloren, vergessen
Wende Dem Aufbruch 1989 folgten soziale Kämpfe in den 1990er Jahren, deren Niederlagen die Bundesrepublik nachhaltig prägten, nicht nur den Osten
Von Sebastian Friedrich und Nelli Tügel
War 1989 eine Revolution? Darüber streiten - vor allem aus dem Westen stammende - Linke bis heute, wenn sie überhaupt noch ein Interesse an jenen Ereignissen haben, die in der Regel unter der Chiffre »Wende« zusammengefasst werden. Wobei es bei dieser »Wende« eine klare Hierarchisierung der Ereignisse gibt: Jede*r in Deutschland weiß vom Fall der Mauer im November 1989 und der sogenannten (Wieder)Vereinigung im Oktober 1990. Schon dass es im Grunde keine Vereinigung war, weil die DDR einfach aufhörte zu existieren, nicht aber die Bundesrepublik, die sich erweiterte, ist kein Allgemeinwissen mehr. Von dem basisdemokratischen, betrieblichen oder auch frauenpolitischen Aufbruch, der 1989 ebenfalls ins Rollen gekommen war und viele Menschen geradezu elektrisierte, der Hoffnungen machte, die später zerstört wurden; von den zunächst verbreiteten und dann schnell marginalisierten Forderungen nach einem demokratischen Sozialismus haben selbst viele eingefleischte Linke, wenn überhaupt, nur »mal gehört«.
Ab dem Sommer 1989 geriet in der DDR etwas ins Rutschen, das sich nicht nur bei den Leipziger Demonstrationen oder am 4. November auf dem Berliner Alexanderplatz äußerte, sondern in allen möglichen Bereichen der Gesellschaft: Mehrere explizit reformsozialistische Gruppen entstanden in kurzer Zeit, bekannt ist heute vor allem noch die Vereinigte Linke; der Unabhängige Frauenverband wurde aus der Taufe gehoben und ebenso die Initiative für Freie Gewerkschaften. Und: Nicht nur auf der Straße, auch in vielen Betrieben, die in der industriebasierten DDR mit die wichtigsten Orte für Wandel und politisches Handeln waren, begannen Menschen, sich zu bewegen.
Visionen eines demokratischen Sozialismus
Dieser Aufbruch war real, hatte aber, das wissen wir heute (damals war es alles andere als ausgemacht), kaum eine Chance, den sich im Herbst 1989 überschlagenden Ereignissen seinen Stempel aufzudrücken: Aus dem Aufbruch wurde ab 1990 eine Kette von Abwehrkämpfen. Der erste größere Protest gegen Massenentlassungen war schon im Juni 1990 die Besetzung der Fernverkehrsstraße zwischen Potsdam und Berlin durch Industriebeschäftigte der Teltower Großbetriebe; es folgten Tausende solcher und anderer Aktionen in den Jahren zu Beginn der 1990er. Schnell ging es dabei nicht mehr um Mitbestimmung oder um Visionen eines demokratischen Sozialismus, sondern darum, den Arbeitsplatz, soziale oder auch reproduktive Rechte zu retten.
Renate Hürtgen schrieb 2017 im neuen deutschland, die »pure Verzweiflung« sei damals ausgebrochen und habe die »im Klassenkampf nicht gerade erfahrenen braven Ostdeutschen« zu Akteuren einer ganzen Reihe von »Blockaden von Autobahnen und vor Ministerien, Protestdemonstrationen und spontanen Warnstreiks, Besetzungen von Gruben und Betrieben, Hungerstreiks« gemacht. Heute ist vieles davon völlig vergessen. Weil in Politikerreden von der »Einheit« und der gewonnen Freiheit dafür natürlich kein Platz ist. Aber auch, weil die Kämpfe verloren wurden und Linke daher ebenfalls lieber die Finger davon lassen.
Dabei wäre ein aktives Erinnern dringend nötig, denn was in den Jahren nach der Wende im heutigen Ostdeutschland geschah, besaß tatsächlich - im negativen Sinne - revolutionäre Radikalität: Auf dem Gebiet der früheren DDR wurde ein Strukturwandel im Schnelldurchlauf vollzogen, dessen Ausmaß mit jener Deindustrialisierung vergleichbar ist, die es im Vereinigten Königreich gab und die dort folgenreiche soziale Verheerungen hinterlassen hat - mit dem Unterschied allerdings, dass dort in einem Zeitraum von zwei Jahrzehnten passierte, was im heutigen Ostdeutschland innerhalb von vier Jahren geschah. Die Rede von der Schocktherapie ist also ganz und gar nicht übertrieben, auch wenn noch immer Meinungsmacher*innen der Republik eine gnädige, neuerdings eine »differenzierte« Betrachtung der Arbeit der Treuhandanstalt fordern, jener Privatisierungsagentur, die diese Schocktherapie kuratierte.
Eine Geschichte der Sieger
Zuletzt tat dies in einem besonders kaltschnäuzigen und zynischen Elaborat der frühere Spiegel-Redakteur Norbert F. Pötzl, der findet, die gegenüber der Treuhand erhobenen Klagen seien Ausdruck eines »Opfernarrativs«, das auf falschen Tatsachen gründe, weil - möglicherweise, manche Forscher*innen sagen dies, andere anderes - ja »nur« 66 Prozent der Werktätigen der DDR ihren Arbeitsplatz nach der Wende verloren hätten. Und ja, okay, 80 Prozent aller größeren Betriebe wurden, wenn nicht stillgelegt, an westdeutsche Unternehmer verscherbelt. Dennoch müsse auch mal gesagt werden, dass die vielen Bäckereien, Büchereien und Restaurants an die Ostdeutschen gingen, und das, meint Pötzl, sei schließlich zu würdigen, wenn's um die Treuhand geht.
Die Seite also, die nie einen Zweifel daran hatte, dass die frühere DDR-Wirtschaft zerschlagen und privatisiert werden musste und die sich dafür Margaret Thatchers neoliberalen Schlachtruf »There is no Alternative« zu eigen machte, trägt selbstbewusst ihre Version der Geschichte vor, auch 30 Jahre später noch.
Die andere Seite, die früheren Werktätigen der DDR, die zwar reihenweise gegen die Treuhandabwicklungen gekämpft, aber so gut wie jeden Kampf verloren haben, ist heute in tausend Teile zersprengt. Viele haben den Osten verlassen, vor allem die Frauen. Andere sind geblieben und haben den Zerfall einer Industriegesellschaft miterlebt, in der einst Busse in drei Schichten Arbeiter*innen durch die Gegend fuhren und wo man heute froh sein kann, wenn es im Nachbarort noch einen Rufbus und im Umkreis von 50 Kilometern einen Bahnhof gibt. Die Deindustrialisierung hat massenhaft Menschen ausgespuckt, die soziale Deklassierung erfahren haben: Im Osten ist heute ein Drittel der Erwachsenen im Vergleich zu den Eltern, von denen die meisten in der DDR ja Facharbeiter*innen waren, abgestiegen. Etliche, die damals dabei waren, sind desillusioniert und haben die Enttäuschung, manchmal auch Wut oder Verbitterung, an ihre Kinder weitergegeben. Die Mehrzahl der Menschen im Osten ist nicht rechtsextrem, aber ja, sehr viele haben sich entweder schon früh den Rechten zugeneigt oder tun es nun, da die AfD sich zur Anwältin der Ostdeutschen aufschwingt. Sie kann dabei auf ostdeutsche Spezifika bauen, wie etwa die versäumte gesellschaftliche Auseinandersetzung um den wachsenden Neonazismus in den 1980er Jahren in der DDR oder darauf, dass es nie vergleichbare Kämpfe von Migrant*innen gab wie in den 1970er Jahren in der BRD. Es fällt den Rechten zudem leicht, sich als legitime Erben der Wende zu präsentieren.
Warum? Auch, weil das Jahr 1989 in seinen Folgen widersprüchlich war. Es brachte zwar freie Wahlen, Pressefreiheit und andere Rechte, aber auch Privateigentum, Marktwirtschaft, Klassengesellschaft. 1989 war eben nicht nur Aufbruch, nicht einfach das »68« des Ostens, das zwar nicht die von den Linken erhoffte Revolution brachte, aber dennoch dauerhaft progressive gesellschaftliche Auswirkungen hatte. Im Gegenteil: 1989 wendete sich eben ganz schnell für ganz viele Menschen zu einem erbitterten Verteidigungskampf um Würde und Zukunftsperspektiven - und fast nichts von dem Umkämpften konnte verteidigt werden. Das wirkt bis heute nach, keineswegs nur im Osten.
Labor des Neoliberalismus
Denn was viele Linke, auch viele Gewerkschafter*innen im Westen und Süden der Bundesrepublik nie so recht verstanden haben: Das, was 1989 und dann im scharfen Kontrast dazu Anfang der 1990er Jahre in der (ehemaligen) DDR geschehen ist, bereitete nicht nur den Boden für das heutige Ostdeutschland; die 1990er Jahre, die Agenda-Politik der Nullerjahre, der neoliberale Turn, sind mit jenen Ereignissen eng verknüpft.
Manche sprechen vom Osten als Labor des Neoliberalismus, eine Version kapitalistischer Akkumulation und bürgerlicher Ideologie, die freilich nicht 1989/90 »erfunden« wurde, sondern schon einige Jahre zuvor in Westeuropa und den USA den Siegeszug angetreten hatte und in den 1980er Jahren auch in der Bundesrepublik sich ausbreitete. Es war also bereits in Gang gekommen, allerdings wurde die Wende zu einer Art Turbokick für den Neoliberalismus: Die Privatisierungspolitik, die Entgewerkschaftlichung ganzer Branchen, das Aufgeben der kompromissorientierten Sozialpartnerschaft, das knallharte Durchziehen - das machte in der ersten Hälfte der 1990er Jahre im Osten Schule. So überrascht es wenig, dass die Tarifbindung in Ostdeutschland deutlich niedriger ist als im Westen. Schlusslicht ist übrigens Sachsen, das Bundesland, wo »die Wirtschaft« so boomt, wie es in den Wirtschafsteilen der Tageszeitungen gerne heißt.
Die Gewerkschaften hatten an den Entwicklungen in Ostdeutschland, nebenbei gesagt, ihren Anteil. In den Kämpfen Anfang der 1990er ließen sie die betroffenen Kollegen nicht selten hängen, so wie die IG Bergbau und Energie die Bischofferoder Kali-Kumpel. Als die IG Metall zehn Jahre nach dem berühmten Kampf in Bischofferode 2003 auch in Ostdeutschland die 35-Stunden-Woche erkämpfen wollte, fielen IG-Metall-Betriebsrät*innen im Westen ihren eigenen Kolleg*innen in den Rücken und verteidigten das wirtschaftliche Interesse von Porsche, BMW und Co. - der Streik wurde nach mehreren Wochen erfolglos abgebrochen. Parallel dazu bereitete die rotgrüne Bundesregierung unter Gerhard Schröder die im März 2003 verkündete Agenda 2010 vor und damit das umfassendste Programm eines Klassenkampfes von oben in der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte. Die sich im Folgejahr spontan von Magdeburg und Leipzig aus formierende Massenbewegung gegen die Einführung von Hartz IV war erneut ein vornehmlich ostdeutscher Versuch der Gegenwehr, erneut ohne Unterstützung der Gewerkschaften. Und erneut erfolglos, was wiederum die gesamte Bundesrepublik nachhaltig prägte, weil die Agendapolitik für alle Lohnabhängigen eine gewaltige Niederlage war, sogar über die Grenzen des Landes hinaus in der EU.
Das Gebiet der ehemaligen DDR ist also nicht das zurückgebliebene schlechtere, qua Geschichte illiberalere Deutschland (wirtschaftlich ist es ohnehin ein Hort der Liberalisierung und Flexibilisierung), sondern vielmehr der Teil des Landes, in dem sich schon oft angekündigt hat, was früher oder später alle treffen wird.
Die Treuhandanstalt
Im Februar des Jahres 1990 schlugen DDR-Bürgerrechtler*innen am Zentralen Runden Tisch die Bildung einer »Treuhandanstalt zur Wahrung der Anteilsrechte der DDR-Bürger am Volkseigentum der DDR« vor. Die Idee dabei war, die in der DDR lebenden Menschen am Eigentum und Vermögen des Landes zu beteiligen. Die Anstalt wurde kurz darauf, im März 1990, noch unter der Regierung Hans Modrow gegründet. Doch als sie ihre Arbeit wenige Monate später aufnahm, waren die Aufgaben und Zielstellungen unter der nach den Volkskammerwahlen im März 1990 an die Macht gekommenen De-Maizière-Regierung gänzlich umdefiniert worden: Das Treuhandgesetz vom 1. Juli 1990 hieß nun »Gesetz zur Privatisierung und Reorganisation des volkseigenen Vermögens«. Alle Volkseigenen Betriebe (VEB) der DDR gingen an die Treuhandanstalt über, die dem Bundesfinanzministerium unterstellt und damit beauftragt wurde, die Betriebe zu privatisieren, in denen zu diesem Zeitpunkt etwa 3,5 Millionen Menschen arbeiteten. Die 8.500 VEB, viele davon seit den 1970er Jahren zu Kombinaten zusammengeschlossen, wurden unter Regie der Treuhandanstalt zerschlagen und in 12.000 Betriebsteile zerlegt, 3.700 von ihnen stillgelegt, der Rest privatisiert: 80 Prozent in die Hände westdeutscher, 15 Prozent an ausländische Unternehmen. 1994 beendete die Treuhand ihre Arbeit: Von den 3,5 Millionen Menschen, die in den VEB gearbeitet hatten, waren 1994 nur noch 42 Prozent in den privatisierten Betrieben angestellt, viele auf anderen Stellen als zuvor: Etwa 75 Prozent aller Beschäftigten der DDR hatten in den ersten Jahren nach der Wende zwischenzeitlich oder dauerhaft ihren Arbeitsplatz verloren. In kürzester Zeit war hier ein »Strukturwandel« durchgezogen und die Industriegesellschaft DDR abgewickelt worden.
Der Arbeitskampf in Bischofferode
Zu Beginn der 1990er Jahre kam es zu einer Reihe von Protesten gegen die Abwicklung von Betrieben durch die Treuhand. Neben Demonstrationen gab es auch Betriebsbesetzungen. Zum Symbol dieser Kämpfe wurde der Arbeitskampf im thüringischen Bischofferode, wo 700 Kalibergleuten im Frühjahr 1993 mitgeteilt wurde, die Grube »Thomas Müntzer« werde zum Jahresende geschlossen. Die der Treuhand unterstellte Mitteldeutsche Kali AG, die nach der Wende aus dem Kombinat Kali hervorgegangen war, zu der alle Kali- und Steinsalzwerke der DDR gehört hatten, sollte mit der westdeutschen Kali und Salz GmbH, einer Tochter des BASF-Konzerns, fusionieren. Die Treuhand behauptete, nicht alle Gruben könnten im Zuge dieser Kalifusion weiter in Betrieb bleiben, sowohl in West- als auch in Ostdeutschland sollten Arbeitsplätze abgebaut werden. Die Belegschaft des Kaliwerkes in Bischofferode entschied, die Schließung ihres Betriebes nicht kampflos hinzunehmen, und besetzte im April bei laufender Produktion die Anlagen - ohne Unterstützung der IG Bergbau und Energie, die die Schließungspläne unterstützte, weil sie meinte, so die Interessen der Bergleute im Westen zu wahren. Als alle in den Folgewochen unternommenen Überzeugungsversuche der Kumpel scheiterten, traten zwölf von ihnen am 1. Juli 1993 in einen Hungerstreik, später schlossen sich weitere an. Diese Eskalation der Auseinandersetzung erzeugte ein internationales Medienecho sowie eine Welle der Solidarität für die Kalikumpel - nicht nur von DDR-Intellektuellen und Politiker*innen der PDS, sondern auch aus dem Westen: Stahlkocher etwa, die 1987/88 in Duisburg-Rheinhausen einen monatelangen Arbeitskampf geführt hatten, kamen nach Bischofferode und übergaben an die Hungerstreikenden das aus ihrem Arbeitskampf übriggebliebene Spendengeld in Höhe von mehreren Tausend D-Mark. Treuhand und Bundesregierung aber blieben dabei, dass die Grube geschlossen werden müsse, Ende des Jahres 1993 mussten die Kumpel aufgeben, der Betriebsrat stimmte einem Sozialplan zu, der mit Unterstützung des aus dem Westen stammenden Gewerkschaftssekretärs der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (die IG Bergbau und Energie fühlte sich nicht verantwortlich) und heutigen thüringischen Ministerpräsidenten Bodo Ramelow ausgehandelt worden war. Zum 1. Januar 1994 wurde Bischofferode geschlossen, der Rückbau der Anlagen dauerte noch mehrere Jahre. Viele der 700 Beschäftigen arbeiteten so weiter in Bischofferode, danach fielen einige ins Bergfreie. Bis heute betreibt eine Gruppe damaliger Kämpfer ein Museum am alten Schacht in Bischofferode. Sie fordern die Aufarbeitung der Arbeit der Treuhandanstalt in den Nachwendejahren.