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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 652 / 16.9.2019

Zeitenwende in Nuuk

International Trumps Grönland-Kaufofferte war ein Affront. Das dänisch-grönländische Verhältnis dürfte sie dennoch nachhaltig verändert haben - nicht zum Nachteil der Grönländer*innen

Von Ebbe Volquardsen

Vor knapp 300 Jahren überquerte der Pfarrer Hans Egede den Nordatlantik und ließ sich nahe der heutigen grönländischen Hauptstadt Nuuk nieder. Mit seiner Missionierung der Inuit leitete er die dänische Kolonisierung Grönlands ein. Egedes Interesse an der Insel war durch Berichte über skandinavische Siedler*innen geweckt worden, die im Mittelalter an Grönlands Westküste lebten. Über die Gründe für deren Verschwinden Anfang des 15. Jahrhunderts streiten Archäologen bis heute. Wie er in einem Brief an den dänischen König darlegt, ging Egede davon aus, in Grönland auf Nachfahren der Skandinavier*innen zu treffen. Die Verkündung des reformierten Christentums unter den vermeintlichen Katholik*innen bot ihm ein entscheidendes Argument, den König von dem Sinn seiner Grönlandfahrt zu überzeugen.

Egedes Irrtum - die Wikinger waren längst verschwunden - und seine Inuit-Mission sind in der dänischen Geschichtsschreibung zu einem Narrativ verschmolzen, das die Kolonisierung Grönlands von Beginn an wie einen Witz erscheinen lässt. Die Erzählung, dass erst die Abwesenheit von Skandinavier*innen Egede sich der Inuit annehmen ließ, verleiht dem Pfarrer und dem gesamten Vorhaben eine komische Komponente. Der Kulturhistoriker Hayden White hat darauf hingewiesen, dass literarische Erzählformen wie Komik und Tragik nicht nur dem Drama, sondern auch der Historiografie innewohnen.

Zeitgleich mit Egedes Studienabschluss an der Kopenhagener Universität hatte König Friedrich im Jahr 1705 den Theologen Bartholomäus Ziegenbalg in die dänische Kolonie Tranquebar im südlichen Indien geschickt, um unter den dort lebenden Tamil*innen zu missionieren. Angesichts dieser Gleichzeitigkeit ist auszuschließen, dass Egede nicht mit dem Konzept der Fremdenmission vertraut war, als er Friedrich wenige Jahre später um Zustimmung zu seinen Grönlandplänen bat. Aus kulturhistorischer Sicht stellt sich die Frage nach der Funktion einer Geschichtsschreibung, die Egedes Missionsvorhaben die Intention abspricht und der Kolonisierung der Inuit somit einen zufälligen, ja unschuldigen, Charakter verleiht. Das oft kolportierte Bild Egedes, der erfolglos nach verschollenen Wikingern sucht und aus Mangel an anderweitig sinnstiftender Betätigung beginnt, den Grönländer*innen aus der Bibel vorzulesen, ist in der Tat das einer komischen Figur. Es ist jedoch bezeichnend für eine Sichtweise auf die dänische Kolonialgeschichte, die ab Mitte des 19. Jahrhunderts an Bedeutung gewinnt und bis heute kaum an Wirkmächtigkeit eingebüßt hat.

Ein mittelgroßes Kolonialimperium

Um 1800 war der dänische Staat, der neben Norwegen und Schleswig-Holstein auch Island und die Färöer umfasste, ein mittelgroßes Kolonialimperium. Neben Grönland hielt Dänemark Kolonien in Indien, an der afrikanischen Goldküste und in der Karibik und stieg spätestens mit dem Erwerb der Karibikinsel St. Croix 1733 zu einem zentralen Akteur im transatlantischen Sklavenhandel auf. Auch Teile des Siedlungsgebiets der indigenen Samen im nördlichen Skandinavien lagen innerhalb der Grenzen des dänischen Reichs.

Erst im 19. Jahrhundert verwandelte sich das vormals multiethnische Imperium in einen homogenen Nationalstaat, den zeitweise kleinsten in ganz Europa. Im Laufe von 100 Jahren verlor Dänemark seine Provinz Norwegen an Schweden, die Herzogtümer Schleswig und Holstein an Preußen, die indischen und afrikanischen Kolonien an Großbritannien und die karibischen Jungferninseln per Kaufvertrag an die USA. Das Jahrhundert der Niederlagen und Kränkungen schmiedete die Dän*innen zu einer nach außen geschwächten, aber nach innen gestärkten nationalen Schicksalsgemeinschaft zusammen.

»Wir sind nicht geschaffen für Höhe und Wind; am Boden zu bleiben am besten uns dient«, heißt es in einem 1820 verfassten Gedicht N.F.S. Grundtvigs, einer der prominentesten Leitsprüche der sich im Entstehen befindlichen dänischen Nationalidentität. Die Tatsache, über ein kleines Kolonialimperium zu verfügen, ließ sich mit einem derartigen nationalen Selbstverständnis kaum in Einklang bringen. So entstand in der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts eine zählebige Erzählung von einem exzeptionell andersartigen, d.h. humaneren dänischen Kolonialismus, nicht nur indem die koloniale Zivilisierungsmission im Sinne der Kiplingschen »Bürde des weißen Mannes« zu einem humanitären Akt umgedeutet wird, sondern auch in direkter Abgrenzung zur Performanz größerer Imperien in deren kolonialen Territorien.

Was die dänisch-karibische Verflechtungsgeschichte angeht, begnügten sich dänische Schulbücher bis vor wenigen Jahren mit der Hervorhebung des Verbots der Sklaventransporte, das Dänemark 1792 mehr aus ökonomischen als aus humanitären Erwägungen als erstes Land erließ, sowie einer ahistorischen Überhöhung der Rolle des Generalgouverneurs Peter von Scholten bei der Emanzipation der versklavten Afrikaner*innen 1848. In Bezug auf Grönland entwickelte die Mitte des 19. Jahrhunderts von Kolonialinspektor Hinrich Rink ausgerufene »Beschützungspolitik« ein bemerkenswertes historiografisches Nachleben.

Lokale grönländische Eliten

Bis zur Verbreitung des Petroleums als Lampenbrennstoff war der Tran von Robben und Walen eine lukrative Handelsware; mit ihm wurden die Straßen der wachsenden europäischen Metropolen beleuchtet. Die Bewahrung der traditionellen Kulturtechnik des Robbenfangs und die weitgehende Abschirmung der Grönländer*innen vor westlichen Einflüssen lag daher ganz im ökonomischen Interesse des Königlich Grönländischen Monopolhandels. In der Retrospektive jedoch erscheint sie, etwa im Vergleich mit der weitestgehenden Ausrottung indigener Kulturen auf dem amerikanischen Kontinent, als Beleg für eine vermeintlich behutsame Kolonisierung. Ähnliches gilt für die 1857 etablierten lokalen Räte, die mittels Belohnungs- und Sanktionsregimes einen möglichst effizienten Robbenfang gewährleisten sollten, sich aber auch - so man denn will - als frühe Form demokratischer Mitbestimmung auslegen lassen. Zur Untermauerung des Postulats nach einem dänischen Exzeptionalismus taugen aber auch sie nicht; im internationalen Vergleich ist die Übertragung gewisser Herrschafts- und Rechtssprechungsbefugnisse an lokale Eliten als übliche Maßnahme zur Wahrung kolonialer Autorität zu sehen.

Eine solche lokale Elite bildeten auch die grönländischen Katecheten, die zu Gehilfen in Schulwesen und Mission ausgebildet wurden, aus deren Reihen zu Beginn des 20. Jahrhunderts aber auch meinungsstarke Romanautoren wie Mathias Storch und der spätere Politiker Augo Lynge hervortraten. Die Autoren ließen ihre Protagonisten religiös-nationale Erweckungsprozesse durchlaufen und zeichneten sie als selbstbestimmte Individuen in einer von kolonialen Hierarchien befreiten Gesellschaft. Somit entwarfen sie Modelle für eine Nationsbildung, zu deren Ziel die Überwindung von Abhängigkeiten und asymmetrischer Verteilung von Handlungsmacht erklärt wurde. Dass diese frühen Intellektuellen glaubten, die traditionelle Inuit-Kultur müsse, um Gleichberechtigung zu erlangen, zugunsten einer modernen Gesellschaftsordnung nach dänischem Vorbild weichen, haben ihnen spätere Generationen verübelt, dabei aber übersehen, dass unter dem Joch der den Fortschritt hemmenden »Beschützungspolitik« durchaus subversives Potenzial in der Aneignung westlicher Bildung und im Erlernen der dänischen Sprache lag.

US-Präsenz seit dem Zweiten Weltkrieg

Die USA traten 1917 indirekt in die grönländische Geschichte ein. Mit dem Westindien-Kaufvertrag billigten sie Dänemarks Souveränität über Grönland und wichen damit von ihrer gesamtkontinentalen Interessenpolitik ab. Die Monroe-Doktrin von 1823 besagt, dass die USA keinerlei Territorialansprüche europäischer Kolonialmächte auf dem Doppelkontinent akzeptieren. Erst der Zweite Weltkrieg rückte Grönland als wichtigen militärstrategischen Brückenkopf ins Zentrum amerikanischer Aufmerksamkeit. Die USA errichteten Militärflughäfen und übernahmen die Versorgung des Landes, als die Verbindung zu Dänemark nach dessen Besetzung durch die Nazis abbrach. Auch während des kalten Krieges blieben sie in Grönland präsent. Die Thule Air Base, bei deren Errichtung 1953 die nordgrönländischen Inughuit zwangsumgesiedelt wurden, dient bis heute der US-amerikanischen Raketenabwehr. Die geheim gehaltene Duldung von Nuklearwaffen in Thule löste einen der größten politischen Skandale in der dänischen Nachkriegsgeschichte aus.

War die Kolonialpolitik der Vorkriegszeit von paternalistischer Zivilisationskritik gekennzeichnet, so setzte nach dem Krieg eine von Kopenhagen verordnete und von grönländischen Politiker*innen zumindest geduldete infrastrukturelle und sprachpolitische Modernisierungs- und Danisierungspolitik ein, die viele Grönländer*innen diese Zeit als eigentlichen Beginn kolonialer Fremdbestimmung erleben ließ. 1953 erklärte man Grönland zur dänischen Provinz, womit Dänemark der Dekolonisierungsforderung der Vereinten Nationen auf eigentümliche Weise nachkam. Unzufriedenheit über ungleiche Löhne, die Aufgabe von Wohnplätzen und Angst um den Erhalt der grönländischen Sprache befeuerten die separatistische Bewegung; 1979 erhielt Grönland eine eigene Regierung und ein Regionalparlament. Die 2009 implementierte Selbstverwaltung, mit der Dänemark die Grönländer*innen als eigenständiges Volk anerkennt, bildete den vorläufigen Höhepunkt auf dem Weg zur Autonomie.

Die dänische Regierung trägt jährlich mit einer Pauschalzahlung von einer halben Milliarde Euro zum grönländischen Haushalt bei, ein aus eigener Kraft kaum zu kompensierender Betrag, der das Land in einem einseitigen Abhängigkeitsverhältnis zur früheren Kolonialmacht hält und einer von der Mehrheit der Grönländer*innen gewünschten staatlichen Unabhängigkeit de facto im Wege steht. Die Klassifizierung der jährlichen Zahlung als Subvention bestärkt die Vorstellung vom altruistischen »Mutterland«, das den Grönländer*innen auf ihrem Weg in die Moderne stets zur Seite gestanden habe. Der öffentliche Diskurs Dänemarks, wo manch ein*e Meinungsführer*in selbst eine biografische Verbindung nach Grönland hat, legt lauter werdende Autonomiewünsche und Forderungen nach einer Aufarbeitung von etwaigem zu Kolonialzeiten und darüber hinaus begangenem Unrecht nicht selten als Mangel an Dankbarkeit aus. Obwohl auch die dänische Geschichtswissenschaft längst eine postkoloniale Wende erfahren hat, finden aktuell die kruden Thesen eines emeritierten Geschichtsprofessors erstaunlich viel Gehör, denen zufolge Grönland nie Kolonie war, da die skandinavischen Wikinger das Land vor den Inuit besiedelten. Emotionen und Gereiztheit lähmen das dänisch-grönländische Verhältnis.

Trumps unfreiwilliger Dienst an Grönland

Das Interesse des US-Präsidenten Trump an Grönland ist einleuchtend. Die sich öffnende Nordwestpassage verkürzt den Seeweg zwischen Asien und Europa um 5.000 Kilometer, Grönland verfügt über die für die Elektronikindustrie so wichtigen seltenen Erden, die aufgrund des Handelskriegs mit China in Amerika bald knapp werden dürften; die geostrategische Lage Thules gewinnt durch Russlands und Chinas erhöhte Präsenz in der Arktis noch mehr an Bedeutung. Natürlich stellte Trumps an Dänemarks Ministerpräsidentin Mette Frederiksen gerichtete Kaufofferte eine eklatante Missachtung des Selbstbestimmungsrechts der Grönländer*innen dar. Das postkoloniale dänisch-grönländische Verhältnis hat sie dennoch nachhaltig verändert.

Denn als Trump nach Frederiksens Erklärung, Grönland sei unverkäuflich, kurzerhand seinen Staatsbesuch in Kopenhagen absagte, wurde klar, dass es Grönland ist, dem das kleine Dänemark seine vergleichsweise gewichtige Rolle in der Weltpolitik verdankt. Frederiksen scheint verstanden zu haben: Will Kopenhagen ein Player in der Arktis bleiben, muss es bei künftigen Verhandlungen um den Status der Union auf grönländische Interessen eingehen. Selbst das von Nuuk favorisierte, von Kopenhagen bisher brüsk abgelehnte Modell einer freien Staatenassoziation nach neuseeländischem Vorbild scheint auf einmal verhandelbar. Nolens volens hat Trump Grönland einen Dienst erwiesen: Das lähmende Narrativ vom altruistischen Dänemark und seinem undankbaren Almosenempfänger scheint endgültig passé. Es ist an der Zeit, dass man auch in Grönland die halbe Milliarde aus Kopenhagen selbstbewusst als Bezahlung für einen geostrategischen Service versteht. Wenn die Dän*innen diesen Preis nicht mehr zahlen wollen, dann möglicherweise die USA. Vielleicht sogar an ein unabhängiges Grönland.

Ebbe Volquardsen ist Juniorprofessor für Kulturgeschichte an der Universität Grönlands in Nuuk.