Zerfallserscheinungen im herrschenden Block
International In der Türkei machen zwei Parteineugründungen aus den eigenen Reihen dem Präsidenten Erdogan innenpolitisch zu schaffen
Von Svenja Huck
Lange schon gab es Gerüchte, dass Ali Babacan, ehemaliger Wirtschafts- und Außenminister der Türkei, gemeinsam mit Abdullah Gül, der bis zur Amtsübernahme Erdogans 2014 Präsident der Türkei war, eine neue Partei gründen und damit in Konkurrenz zur herrschenden AK-Partei treten könnte. Nach seinem Austritt aus der AKP am 8. Juli dieses Jahres hat Babacan dieses Vorhaben bekräftigt. Für die Partei, die erst bei den Regionalwahlen im März eine Niederlage einstecken musste, birgt diese Spaltung des eigenen Lagers Potenzial zum Machtverlust.
Ein weiterer Querulant unter Erdogans früheren Weggefährten ist Ahmet Davutoglu. Der 60-Jährige betont gerne, dass er der letzte gewählte Ministerpräsident gewesen sei, bis er im Mai 2016 zurücktrat und durch Binali Yildirim ersetzt wurde. Mit der Einführung des Präsidialsystems im Juni 2018, gegen das sich Davutoglu kritisch positioniert hatte, wurde das Amt des Ministerpräsidenten abgeschafft. Auch die Wiederholung der Bürgermeisterwahl in Istanbul im Juni dieses Jahres kritisierte Davutoglu öffentlich. Die Wählerstimmen seien der grundlegendste Wert in der politischen Tradition der Türkei und die Entscheidung des Hohen Wahlausschusses (YSK), die Wahl zu annullieren, hätten dem Verschleiß dieser Werte die Tore geöffnet, sagte er. Dabei unterschlug Davutoglu allerdings, dass es sein Kabinett war, das nach den Parlamentswahlen im Juni 2015 den Krieg gegen die kurdische Bevölkerung wieder aufnehmen ließ. Damals war die Linkspartei HDP (Demokratische Partei der Völker) erstmalig ins türkische Parlament eingezogen, die AKP hatte ihre absolute Mehrheit verloren. Nach der Wahlwiederholung im November 2015 konnte sie weiter allein regieren.
Am 13. September dieses Jahres verließ nun auch Davutoglu die AKP. Einige Tage zuvor hatte der AKP-Vorstand unter der Leitung Erdogans beschlossen, ihn aus der Partei auszuschließen. Davutoglu hat - wie auch Babacan und Gül - angekündigt, eine neue Partei zu gründen.
Internationaler Zuspruch
Erdogan ist seit 2017 nach einer knapp dreijährigen Unterbrechung wieder Vorsitzender der AKP; seitdem habe er »die Partei an seine persönliche Herrschaft gebunden und sich all derjenigen entledigt, die potentiell einen Konflikt darüber entfachen könnten«, analysiert Zafer Yilmaz, Politik- und Sozialwissenschaftler, der 2017 als Friedensakademiker die Türkei verlassen musste. Nach der Wahlwiederholung in Istanbul am 23. Juni hätten diese Eliten den Mut gehabt, wieder in Aktion zu treten. »Sie haben sozusagen auf den richtigen Zeitpunkt gewartet«, so Yilmaz. »An der Basis der AKP haben diese Fraktionen bisher geringen Einfluss. Wichtiger ist die Unterstützung auf internationaler Ebene, die Babacan und in Gül genießen«.
Welche konkreten Inhalte die angekündigten neuen Parteien vertreten werden, ist noch ungewiss. In seiner Rede zum Austritt aus der AKP sprach Babacan lediglich von »einer großen historischen Verantwortung«, die er und seine Kollegen verspürten, »um neue Anstrengungen für die Gegenwart und die Zukunft der Türkei in Gang zu setzen«. Schaut man in die Vergangenheit des Politikers, ist von Babacan eine rechts-liberale, EU- und US-freundliche Wirtschaftspolitik zu erwarten. In seiner Zeit als Minister und stellvertretender Premierminister des Landes hat er gute Kontakte zum internationalen Kapital geknüpft, dementsprechend positiv wurde die Ankündigung einer neuen Partei in internationalen Medien aufgenommen. Davutoglu vertritt hingegen konservativere Werte und wird vermutlich versuchen, die islamistischen Teile der Partei für sich zu gewinnen.
In dem internationalen Zuspruch, den die drei Ex-AKP-Politiker Davutoglu, Babacan und Gül momentan erhalten, erkennt Zafer Yilmaz den Wunsch, dass die AKP wieder in den Zustand ihrer Anfangsphase versetzt werden könnte. Dieser Wunsch ignoriere aber nicht nur die Probleme dieser Anfangsphase, sondern trage »auch dazu bei, die Verantwortung dieser Personen während der zweiten, der autoritären Phase der AKP, herunterzuspielen. Dass Davutoglu und Babacan nun theoretisch für mehr Pluralismus eintreten, ist natürlich wichtig, aber wir sollten darüber nicht vergessen, dass diese Einstellung sie in der Vergangenheit auch nicht daran gehindert hat, undemokratische Politik zu unterstützen«, so Yilmaz. In Zeiten schwerer Rechtsbrüche bekleideten sowohl Babacan als auch Davutoglu wichtige Ämter in Partei und Staat.
Die Opposition ist geteilter Meinung
Die Opposition in der Türkei ist geteilter Meinung über die neu entstehenden Parteien. Gegenüber der türkischen Ausgabe des Independent sagte etwa Selahattin Demirtas, der inhaftierte ehemalige Ko-Vorsitzende der HDP am 14. August: »Wir können sicherlich jetzt schon sagen, dass die neue Partei von Ali Babacan keine Adresse für die zukünftige Demokratie ist. Aber wenn eine liberal-rechte Strömung aus dem faschistoid-autoritären Block der AKP und MHP austritt, könnte das relevant sein, um den Faschismus zu schwächen.« Was dies konkret für die politische Haltung der HDP gegenüber diesen neuen Parteien heißt und ob über potentielle Wahlbündnisse zum Sturz Erdogans nachgedacht werden wird, ist noch nicht absehbar.
»Es sind vor allem die Liberalen, die von einer politischen Koalition aus Demirtas, Babacan und Ekrem Imamoglu, dem neuen CHP-Bürgermeister Istanbuls, fantasieren«, meint wiederum Max Zirngast, der selbst bis vor kurzem als Journalist und sozialistischer Aktivist in Ankara lebte. So unrealistisch sei das auch nicht. »Imamoglu und Babacan sind offen für eine gemeinsame Politik und Demirtas sieht das - leider - teilweise auch gar nicht so negativ. In seiner Aussage steckt der Wunsch nach einer liberalen Wiederherstellung des Kapitalismus und des Staates in der Türkei, inklusive einer stärkeren EU-Orientierung in Abstimmung mit dem internationalen Kapital«, so Zirngast. Für die sozialistische Linke stellt sich zwar aufgrund ihres geringen Einflusses die Bündnisfrage nicht konkret, doch in jedem Fall sollte sie eine Koalition ablehnen. Für Demirtas persönlich mag es logisch sein, sich mehrere Optionen offen zu halten, da eine Babacan-Imamoglu-Allianz seinen Weg in die Freiheit bedeuten könnte. Es gilt allerdings vorsichtig gegenüber allem zu sein, was allein mit der »Schwächung des Faschismus« legitimiert wird.
Die größte Oppositionspartei der Türkei, die kemalistische CHP (Republikanische Volkspartei), der auch Imamoglu angehört, hält sich bisher mit konkreten Aussagen zu den Parteineugründungen aus Reihen der AKP zurück. Der Pressesprecher der CHP, Faik Öztrak, erklärte in seiner Rede zum 18. Gründungstag der AKP, dass innerhalb der Partei Unzufriedenheit zu beobachten sei. Einfach das Hemd zu wechseln und eine neue Partei zu gründen, würde Babacan und Davutoglu jedoch nicht davor schützen, für die zahlreichen Sünden der AKP mitverantwortlich gemacht zu werden, warnte Öztrak. Offener ist da Muharrem Ince, der bei den Präsidentschaftswahlen 2018 als gemeinsamer Kandidat der CHP und der rechtsnationalistischen IYI-Parti (gegründet 2017 von der früheren Innenministerin Meral Aksener) angetreten war und auch 2023 wieder antreten möchte: In einem Fernsehinterview sagte er kürzlich, Davutoglu müsse zwar berechtigterweise für seine Zeit als Ministerpräsident kritisiert werden, doch sowohl Davutoglu als auch Babacan seien Teil einer demokratischen Front gegen das Ein-Mann-Regime. Bei einer Veranstaltung der CHP in Berlin, an der die dem linken Parteiflügel zugehörige Istanbuler Parteivorsitzende Canan Kaftancioglu teilnahm, wurde selbstbewusst angekündigt: »Die nächste Regierung stellen wir, und es wird eine Koalitionsregierung sein.« Tatsächlich ist die CHP trotz der zuletzt bei den Regionalwahlen errungenen Siege auf Koalitionspartner angewiesen. Sie wird die Entwicklungen um die Parteineugründungen aus den Kreisen der AKP zunächst abwarten und dann bewerten, was diese ihr zu bieten haben.
Rechte oder linke Allianzen?
Im Juni 2015 waren es die 13 Prozent der Wählerstimmen für die linke HDP, die der seit 2002 andauernden Alleinherrschaft der AKP kurzzeitig ein Ende setzten - die Reaktionen waren entsprechend heftig und wirken bis heute nach. Die Alleinherrschaft zu erhalten, ist für den Apparat der AKP auch deshalb essentiell, weil zahlreiche AKP-Politiker*innen Rechtsbrüche von internationalem Ausmaß begangen und ein System von Korruption geschaffen haben, das im Falle eines radikalen Machtwechsels und der Wiederherstellung eines Rechtsstaates zu hohen Strafen führen würde.
Aktuelle Umfragen zeigen, dass die AKP derzeit nur noch auf 30 Prozent der Wählerstimmen kommen würde und 60 Prozent das Präsidialsystem ablehnen. Hinzu kommen 800.000 Austritte aus der Partei seit August 2018, davon allein 56.000 in den vergangenen Monaten. Dennoch wird es eine breite Allianz brauchen, um die Herrschaft der AKP zu beenden. Zur Bedeutung der CHP dafür meint der Friedensakademiker Zafer Yilmaz, diese spiele neben der HDP »trotz all ihrer Fehler« eine entscheidende Rolle. Ob allerdings die CHP tatsächlich auf die linke Opposition zugehen und sich hinter deren demokratische Forderungen stellen wird oder ob sie sich stattdessen mit den nun sich formierenden Abspaltungen aus der AKP verbündet und ihre Allianz mit der IYI-Parti fortführt, wird auch vom Ausgang der Kämpfe innerhalb dieser Partei und dem Druck der Linken von außen abhängen.
Die Siege der CHP bei den Regionalwahlen gaben einigen Linken Grund zur Hoffnung, ein demokratisches Bündnis mit der CHP sei möglich. Doch die breite Zustimmung zu einem Militäreinsatz in Nordsyrien Anfang Oktober von Partei-und Oppositionführer Kemal Kiliçdaroglu, sowie Istanbuls Bürgermeister Ekrem Imamoglu zeigt - wieder einmal -, dass die CHP sich zum vermeintlichen Schutz der Nation gegen »Terroristen« eher mit der Regierung verbündet, als sich gegen einen erneuten Krieg gegen Kurd*innen auszusprechen. Darüber herrscht im türkischen Parlament bei allen Parteien, außer der HDP, Einigkeit. Auch die AKP-Dissidenten Abdullah Gül und Ahmet Davutoglu beteuerten kurz nach Beginn des türkischen Einmarsches in Rojava ihre Zustimmung für den Angriffskrieg. Und so hat Erdogan auf Kosten der Kurd*innen Einigkeit mit seinen Kritikern geschaffen und mit einem Krieg geschickt von der Innenpolitik abgelenkt - zumindest für den Moment.
Svenja Huck ist Studentin und Journalistin mit Schwerpunkt Türkei. Sie lebt in Berlin.
Erdogans Trumpf: der EU-Türkei-Deal
Der sogenannte Flüchtlingsdeal zwischen der Europäischen Union und der Türkei wurde im März 2016 geschlossen. Er beinhaltet, dass syrische Geflüchtete seitens der Türkei am Grenzübertritt zur EU gehindert werden sollen. Im Gegenzug soll das Erdogan-Regime sechs Milliarden Euro von der EU erhalten. Seit der Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage in der Türkei steht Erdogan innenpolitisch unter Druck. Der türkische Präsident verlangt weitere Gelder von der EU und droht, den Deal andernfalls platzen zu lassen und die »Tore nach Europa zu öffnen«. Zudem fordert Erdogan die EU zu mehr Abschiebungen aus Griechenland auf. Flüchtende sollen dadurch abgeschreckt werden. Dasselbe Ziel verfolgt auch die neue rechte Regierung in Griechenland, die plant, das Asylrecht zu schleifen, und katastrophale Zustände in griechischen Flüchtlingslagern nutzt, um abschreckende Bilder zu produzieren. Erst Ende September starben im Flüchtlingslager Moria auf Lesbos mehrere Menschen durch ein Feuer. Ausgerechnet der deutsche Bundesinnenminister Horst Seehofer wirbt nun in der EU für eine Verteilung der Geflüchteten auf die Mitgliedstaaten, um dem Druck Ankaras und Athens nachzugeben. Ein plötzlicher Sinneswandel Seehofers? Im Gegenteil: Der Flüchtlingsdeal ist Ankaras Trumpf, um Seehofer politisch zu erpressen. Das Platzen des Deals will er mit allen Mitteln verhindern und warnt vor einer »Flüchtlingskrise wie 2015«.