Zorn über Arbeitslosigkeit und Korruption
International Eine nicht-konfessionelle soziale Bewegung erschüttert den Irak und wird nicht nur von der Regierung brutal bekämpft
Von Thomas Schmidinger
Die Absetzung eines Generals ist ein eher ungewöhnlicher Anlass für eine Protestbewegung. Abd al-Wahhab al-Saadi, Vizekommandant der irakischen Antiterroreinheiten, der sich im Kampf gegen den »Islamischen Staat« bewährt hatte, war Ende September abgesetzt worden. Kritiker*innen meinten, dass dies auf Zuruf des Iran geschehen sei, dem al-Saadi zu unabhängig war und zu sehr für einen eigenständigen Irak stand. Die genauen Hintergründe der Degradierung Saadis sind nicht bekannt. Als interner Korruptionsbekämpfer soll er sich mit einer Reihe anderer hoher Militärs angelegt haben. Saadi gilt jedoch auch als eher irakisch-nationalistisch und als Vertreter jener Kräfte in den Militärs, die den Einfluss des Iran zurückdrängen wollen und die Volksmobilisierungseinheiten stärker unter staatliche Kontrolle stellen wollen.
Letztere wurden 2014 für den Kampf gegen den IS geschaffen und haben unterschiedliche konfessionelle, ethnische und politische Loyalitäten. Auch wenn es neben schiitischen und sunnitischen z.B. auch christliche und jesidische Volksmobilisierungseinheiten gibt, so stellen einige der schiitischen Einheiten mittlerweile ein zentrales Instrument des iranischen Einflusses im Irak dar, der keineswegs nur von Sunnit*innen mit Skepsis gesehen wird. Auch viele Schiit*innen sind dem Iran zwar dankbar für die Unterstützung, die ihnen im Kampf gegen den IS gewährt wurde, wollen nun allerdings den iranischen Einfluss auf den Irak wieder begrenzt sehen. Selbst die Familie des höchsten schiitischen Geistlichen im Irak, Ayatullah Sistani ist dafür bekannt, den Einfluss des Iran begrenzen zu wollen. Angeblich wurde der Iran bereits mehrmals vom Sohn Sistanis gewarnt, dass es zu einem Volksaufstand kommen könnte, wenn der Iran weiterhin so offensichtlich politischen Einfluss im Nachbarland nehmen würde.
Konflikte verlaufen nicht entlang konfessioneller Linien
Tatsächlich ist das Verhältnis der beiden Nachbarstaaten sehr viel komplexer als es im ersten Moment scheint. Einerseits ist der Iran ein wichtiger Handelspartner und iranische Pilger spielen in den heiligen Städten Najaf und Kerbala auch eine wichtige ökonomische Rolle, andererseits gibt es im Irak kaum jemanden, der das politische System des Iran kopieren möchte. Die Wunden des irakisch-iranischen Krieges sind bis heute auf beiden Seiten nicht verheilt, ein Krieg, in dem am Ende weder die Araber*innen im Süden des Iran massenhaft zum Irak, noch die Schiit*innen im Irak alle zum Iran übergelaufen sind. Zwar waren beide Staaten immer wieder Exilorte für die Oppositionellen des Nachbarstaates. Dies bedeutet allerdings nicht, dass etwa irakische Schiit*innen sich gerne von Teheran bevormunden lassen. Es gibt pro-iranische Parteien im Irak, aber selbst unter sehr religiös-konservativen Schiit*innen finden sich viele, die einen eigenständigen Weg gehen wollen. So gehörte etwa der hohe schiitische Geistliche Muqtada al-Sadr, der sich nach 2003 primär als Kritiker der US-Präsenz im Irak hervorgetan hatte, nun zu den schärfsten Kritikern des iranischen Einflusses. Bei den letzten Wahlen hatte er ausgerechnet mit den Kommunisten ein Wahlbündnis geschlossen, mit denen er sich auf eine irakisch-nationale Antikorruptionsagenda einigen konnte.
Die Konfliktlinien der aktuellen Proteste verlaufen nicht entlang konfessioneller Linien. Auf beiden Seiten stehen in Baghdad Schiit*innen und Sunnit*innen. Die Proteste im Süden finden in einer fast durchweg schiitischen Umgebung statt. Wer es gewohnt war, die Konflikte im Irak lediglich konfessionell zu deuten, kommt hier rasch ans Ende seiner Analyseinstrumente.
Angriff aufSymbole des Systems
Bei den Protesten, die am 1. Oktober mit einer kleinen Demonstration begannen und am Nachmittag zu einer Massendemonstration anwuchsen, ging es schnell um weit mehr als den entlassenen General und iranischen Einfluss. Rasch stand die Korruption der gesamten politischen Klasse und der Zorn über Arbeitslosigkeit und schlechte Infrastruktur im Mittelpunkt. Angegriffen wurden von den meist jungen und meist männlichen Demonstranten verschiedenste Symbole des politischen Systems. Selbst ein Parteibüro der Kommunistischen Partei wurde am 3. Oktober geplündert.
Eine am selben Tag verhängte Ausgangssperre wurde von den meisten Demonstrant*innen ignoriert. Straßenschlachten mit dutzenden Toten prägten die folgenden Tage. Das Internet wurde abgeschaltet und kehrte erst am 7. Oktober wieder zurück. Dabei gingen nicht nur Polizei und Armee gegen Demonstrant*innen vor, sondern auch Angehörige von Volksmobilisierungseinheiten und möglicherweise iranische Scharfschützen. Baghdader Bürger*innen berichten, dass bewaffnete Einheiten, die für sie nicht immer genau zuordenbar sind, durch einige Stadtviertel patrouillieren. Zumindest in einzelnen Fällen, bei denen die Protestierenden Milizionäre festhalten konnten, entpuppten sich diese als Iraner. Viele Baghdadis verloren völlig den Überblick - zunächst aufgrund der Abschaltung des Internets und in manchen Stadtteilen auch des Stroms. Gerüchte aller Art peitschten die Situation auf.
In einigen südirakischen Städten, wie Nasiriya und Diwaniya übernahmen die Demonstrant*innen für einige Tage de facto die Kontrolle über die Stadt - bis aus Baghdad die Armee anrollte. Insgesamt soll es in der ersten Oktoberwoche über 90 Tote gegeben haben. Danach beruhigte sich die Situation wieder etwas. Allerdings bleiben die Ursachen für die Unzufriedenheit bestehen.
IS wartet darauf, sich neu zu etablieren
Die Auseinandersetzung in Baghdad trifft den Irak in einer extrem instabilen Phase. Der IS kontrolliert zwar keine Territorien mehr, hat jedoch in vielen sunnitisch-arabischen Städten weiterhin intakte Untergrundstrukturen und könnte versuchen, die Konflikte zu nutzen, um sich wieder als Staatsprojekt zu etablieren. Sollte der derzeit akut drohende türkische Einmarsch in Nord- und Ostsyrien zur Befreiung tausender Jihadisten führen, wäre dies für den IS die beste Gelegenheit, sich wieder neu zu etablieren.
Die verschärften regionalpolitischen Auseinandersetzungen zwischen dem Iran und Saudi-Arabien bilden einen weiteren Hintergrund der Konflikte. Auch wenn die Proteste mit Sicherheit nicht einfach von Saudi-Arabien gesteuert sind, so kann durchaus davon ausgegangen werden, dass Saudi-Arabien jede Schwächung des iranischen Einflusses im Irak unterstützen und umgekehrt der Iran gerade aufgrund der Zuspitzung des Konfliktes in den letzten Wochen keinen Millimeter seines Einflusses aufgeben wird.
Die meisten Akteure der Protestbewegung selbst scheinen den Irak genau aus diesen Konflikten heraushalten zu wollen und überwiegend eine innen- und sozialpolitische Agenda zu verfolgen. Erstmals seit Jahren handelt es sich hier um eine zumindest vorerst von keiner Miliz oder ausländischen Macht gesteuerte und nicht-konfessionelle soziale Bewegung, in der sich irakischer Patriotismus und sozialpolitische Forderungen kombinieren. Ob daraus auch eine längerfristige politische Kraft entstehen kann, muss sich allerdings erst zeigen.
Thomas Schmidinger schrieb in ak 639 über Umsiedlungspraxen der türkischen Armee im besetzten Afrin.