Titelseite ak
ak Newsletter
ak bei Diaspora *
ak bei facebookak bei Facebook
Twitter Logoak bei Twitter
Linksnet.de
Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 654 / 12.11.2019

Kalkuliertes Chaos

International Auch wenn die EU-Seite den Verlauf des Brexit-Prozesses beklagt - kurzfristig profitiert sie

Von Nelli Tügel

Die Europäische Union ist tief gespalten. Doch geht es um den Brexit, stehen die Regierungen von 27 der 28 Mitgliedsländer des Staatenbundes fest zusammen, also alle außer die des noch immer nicht ausgetretenen Vereinigten Königreiches. Auch wenn - inzwischen schon einem Ritual folgend - Frankreichs Präsident Emmanuel Macron gerne damit droht, man werde weiteren Verlängerungen der Austrittsfrist nicht zustimmen: Am Ende segnen die EU-27 alle nötigen Entscheidungen ohne Gegenstimmen ab, zuletzt ein weiteres Verlängerungsgesuch aus London. Alles andere wäre höchst irrational, denn der Brexit ohne Austrittsabkommen ist nicht nur für das Vereinigte Königreich, sondern ebenso für die EU ein kaum zu kalkulierendes Risiko. Aus Sicht der - von deutschen Interessen dominierten - EU rational ist indes ein Brexit-Prozess, der zwar nicht im No-Deal-Szenario mündet, aber gleichzeitig auch den Austritt als unmögliches und törichtes Unterfangen erscheinen lässt, die EU als integrative sowie besonnene Institution, Regierung und Parlament des Vereinigten Königreiches hingegen als Amateure.

Und in der Tat: So einig, wie sich die EU-27 in den im Sommer 2017 eröffneten Brexit-Verhandlungen präsentieren, so einig ist sich beispielsweise die deutsche Öffentlichkeit darin, wer die Verantwortung für deren andauerndes Scheitern trägt. Folgt man etwa der großen Mehrheit deutschsprachiger Medien- und Politikerstimmen, so haben »die Briten« das verursacht, was wahlweise als »Brexit-Chaos« oder »Brexit-Drama« bezeichnet wird. Unterstützt wird diese Sicht der Dinge von den EU-Institutionen und dem von ihnen gemeinsam nominierten Chefunterhändler Michel Barnier. London müsse endlich sagen, was es wolle, wurde von dieser Seite in den vergangenen zwei Jahren regelmäßig kolportiert, von Ratlosigkeit und einem Ende der Geduld ist oft die Rede. Der Brexit sei »eine Zeit- und Energieverschwendung«, beschwerte sich der scheidende EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker im Oktober bei einer Rede vor dem Europäischen Parlament in Straßburg - und fasste damit die offizielle und öffentlich verbreitete Haltung der EU zum Austrittsprozess pointiert zusammen.

Ganz ehrliche Worte waren das aber wahrscheinlich nicht. Vielmehr dürfte der Brexit-Prozess, aller zur Schau getragenen Frustrationen zum Trotz, bislang in etwa so verlaufen sein, wie es sich die EU-Seite erhofft hatte. Oder anders formuliert: Die EU-Seite hat es in den Verhandlungen ein Stück weit auch auf das oft wortreich beklagte Chaos angelegt, sie hat ihren Teil dazu beigetragen, dass die Situation so ist, wie sie ist - zumindest muss man bei genauerer Untersuchung der Verhandlungstaktiken zu diesem Schluss kommen.

Verhandlungstaktik mit absehbaren Folgen

Von Beginn an war Barnier mit der Maxime in die Brexit-Verhandlungen gegangen, dass erst ein Austrittsabkommen verhandelt und von allen Seiten angenommen werden müsse, bevor über die sogenannten zukünftigen Beziehungen zwischen EU und dem Vereinigten Königreich verbindlich gesprochen werden könne. Es ist davon auszugehen, dass allen mit den Verhandlungen betrauten EU-Expert*innen dabei klar war, dass Nordirland sich eher früher als später als neuralgischer Punkt in den Gesprächen erweisen würde. Und tatsächlich war die sogenannte »Backstop-Klausel« ein entscheidender Grund dafür, dass das mit Theresa May knapp, aber fristgerecht ausgehandelte Abkommen keine Mehrheit im britischen Parlament fand.

Die Regelungen bezüglich Nordirland in besagtem Austrittsabkommen sahen eine bis zum 31. Dezember 2020 geltende Übergangsfrist für Großbritannien und Nordirland vor, während der sie faktisch noch Teil des EU-Binnenmarktes und der Zollunion bleiben sollten - mit der Möglichkeit, diesen Zustand bis Ende 2022 zu verlängern. Danach sollte eine EU-Außengrenze die irische Insel teilen, eine »harte Grenze« aber, das beteuerten alle Seiten von Beginn an, sollte verhindert werden, um das Karfreitagsabkommen, mit dem 1998 der Nordirlandkonflikt befriedet wurde, nicht zu gefährden, vor allem nicht den heute dort etablierten gemeinsamen Wirtschaftsraum. Während der Übergangsphase zwischen EU und Vereinigtem Königreich sollten Lösungen als Teil eines auszuhandelnden Freihandelsabkommens gefunden werden, mit denen auch zukünftig eine offene Grenze gewährleistet würde. Und für den Fall, dass dies in der Übergangsphase nicht gelinge, wurde in dem Austrittsabkommen eine Auffanglösung festgeschrieben - der Backstop. Er sah vor, dass, sollte sich kein praktikables Verfahren finden lassen, Nordirland Teil des europäischen Binnenmarkts und der Zollunion und Großbritannien Teil eines Zollverbundes mit der EU bleiben würde - zeitlich unbefristet.

Dass es hierfür keine Mehrheit im Unterhaus gibt, war angesichts der dortigen Kräfteverhältnisse keine Überraschung. Die reaktionären Unionist*innen der DUP aus Nordirland etwa - Mehrheitsbeschaffer der Tory-Minderheitsregierung -, hatten nie einen Hehl daraus gemacht, dass sie keine Art von Sonderstatus für Nordirland akzeptieren würden, weshalb auch der im Frühjahr 2018 von Barnier gemachte erste Backstop-Vorschlag aussichtslos war, der Handelskontrollen zwischen Großbritannien* und Nordirland vorsah. Zwar versicherten die Verhandler*innen, der Backstop sei ohnehin nur eine Notlösung und solle nie in Kraft treten, doch blieb die dem Austrittsvertrag angehängte »Politische Erklärung zur Festlegung des Rahmens für die künftigen Beziehungen« derart vage, dass im Unterhaus die Skepsis überwog.

Nun wäre es durchaus möglich gewesen, den Versuch zu unternehmen, die Frage der inneririschen Grenze frühzeitig abzuräumen: indem Austritt und zukünftige Beziehungen, also auch praktikable Regelungen für dieses komplizierte Problem, von Beginn an zusammen verhandelt worden wären, wie es die britische Seite sich gewünscht, die EU aber stets abgelehnt hatte - ohne je nachvollziehbare Gründe für die Ablehnung zu nennen. Im Sommer 2018 legte die May-Regierung mit dem sogenannten Chequers-Plan sogar ein 83-seitiges Weißbuch vor, in dem ein konkreter Vorschlag für ein Verfahren an der Grenze ausgearbeitet worden war. Doch die EU-Verhandler*innen blieben bei ihrem zweistufigen Brexit-Modell, also dabei, dass die zukünftigen Beziehungen erst nach Annahme des Austrittsvertrages auf die Tagesordnung kommen dürften. Sie stellten sich zudem nach Abschluss der Verhandlungen mit May auf den Standpunkt, dass der Vertrag, komme was wolle, nicht mehr angefasst und nicht nachverhandelt werden könne - und bauten mit dieser Verweigerungshaltung ihrerseits eine No-Deal-Drohkulisse auf. Noch im März, kurz vor Ablauf der ersten und eigentlichen Brexit-Frist und nach mehrmaligem Scheitern des Deals im britischen Unterhaus, betonte Barnier, dieser Deal sei der einzige, den »es geben wird«.

Davon rückte er erst kurz vor Ablauf der zweiten Frist am 31. Oktober ab. Ohne große Mühen wurde die zuvor monatelang von Brüssel als unverhandelbar dargestellte Backstop-Klausel einkassiert. Das britische Unterhaus nahm am 22. Oktober das nachverhandelte »Austrittsabkommen 2.0« im Grundsatz an, zwar immer noch gegen den Protest der DUP, aber doch mit knapper Mehrheit, auch wenn es den Zeitplan Johnsons ablehnte und eine weitere Fristverlängerung bis Ende Januar bei der EU beantragen ließ.

Bemerkenswert ist schon, dass die EU-Seite die nun gegenüber Johnson gezeigte Nachverhandlungsbereitschaft nicht schon viel früher walten ließ, etwa als zu Jahresbeginn absehbar war, dass der mit May ausgehandelte Deal im Parlament keine Chance haben würde. Nachvollziehbar wird die plötzliche Kompromissbereitschaft, wenn man bedenkt, dass zwar ein No-Deal-Brexit unbedingt verhindert werden soll (und Johnson hier anders als May offen droht, es dazu kommen zu lassen), dass aber ein allzu reibungsloser Brexit für die EU ebenfalls großen Schaden hätte verursachen können - denn schließlich galt es, einen Dominoeffekt aufzuhalten.

Unpopuläre Exit-Forderungen

Man rufe sich in Erinnerung: Kurz nach dem Austrittsreferendum im Sommer 2016 waren vor allem rechte EU-Gegner*innen von Amsterdam bis Rom im regelrechten Exit-Fieber. Inzwischen hat sich das Blatt gewendet - abgeschreckt vom scheinbar nie enden wollenden Chaos sind Austrittsbegehren so unpopulär wie schon lange nicht mehr. Etliche Rechtsparteien und auch einige Linke haben sich von ihren Exit-Forderungen verabschiedet.

Zu Jahresbeginn taten dies die rechten Schwedendemokraten und entfernten den Swexit aus ihrem Programm. Ebenso der französische Rassemblement National von Marine Le Pen, der etwa zeitgleich das Ziel eines Frexits in Vorbereitung auf die damals noch bevorstehenden Europawahlen aus dem Forderungskatalog strich. Die AfD ging im Frühjahr mit einem Dexit als »ultima ratio« ins Rennen, die EU solle nur dann verlassen werden, wenn sie nicht »in angemessener Zeit« verändert werden könne, hieß es im Europawahlprogramm - eine deutliche Abschwächung des Programmentwurfes, in dem noch ein Dexit bis zum Jahr 2024 stand. Österreichs FPÖ hatte schon im vergangenen Jahr Abstand von der Idee eines Austrittsreferendums genommen, das man 2016 noch vehement eingefordert hatte. Heute sagt die Partei, dass wegen der fruchtbaren Kooperation mit den Visegrád-Staaten sowie der wachsenden Zahl rechts geführter Regierungen in der EU für sie ein Referendum nicht mehr dringlich sei. Das Streichen der Exit-Forderungen aus den Programmen europäischer Rechtsparteien dürfte aber wesentlich auch der Tatsache geschuldet sein, dass sie wegen des Brexits derzeit nun einmal nicht populär sind. Deshalb verabschiedete sich wohl auch die schwedische Vänsterpartiet, die Linkspartei, im Februar 2019 vom Swexit - die Forderung ist schlicht nicht mehr vermittelbar.

Für die EU darf diese Entwicklung als eine Art Verhandlungserfolg betrachtet werden. Am Vereinigten Königreich wurde ein Exempel statuiert, die Botschaft ist klar und deutlich auf dem ganzen Kontinent vernehmbar: Es ist keine gute Idee, aus der EU austreten zu wollen, es ist kompliziert, unseriös, langwierig, mit unabsehbaren Folgen und im Grunde gar nicht möglich. So wurden Fliehkräfte eingefangen, die inneren Widersprüche der EU, die sich sonst bei allen möglichen Anlässen offen zeigen, vorübergehend erfolgreich überdeckt und en passant das Image der EU aufpoliert. Ein Teil der Verantwortlichen in der EU wird zudem weiter die Hoffnung hegen, der Brexit ließe sich noch durch ein zweites Referendum verhindern. Tatsächlich spricht sich inzwischen eine Mehrheit der Brit*innen in Umfragen für den Verbleib in der EU aus. Eine knappe Mehrheit allerdings - an der Polarisierung entlang der Brexit-Frage hat sich grundsätzlich nichts geändert.

Es gibt keinen Anlass, sich schützend vor die britischen Tories zu stellen, die Partei der Austerität und des Rassismus, die den Brexit vor allem dazu nutzen will, Migration zu reprimieren, zuungunsten von Lohnabhängigen zu deregulieren und schützende Standards zu unterlaufen. Selbstverständlich tragen auch sie Verantwortung dafür, dass seit 2016 der Brexit das Land spaltet. Ex-Premier David Cameron hatte das Referendum einst aus rein machttaktischen Gründen anberaumt, Ex-Premier Theresa May viel zu lang und wider besseres Wissen gegenüber den Wähler*innen eine Austrittsstrategie simuliert und der heutige Premier Boris Johnson seine Exit-Kampagne auf Lügen aufgebaut.

Sich im Chor mit den Repräsentant*innen eines nicht minder rassistisch (EU-Außengrenzen) und austeritär (Maastricht-Kriterien) handelnden Staatenbundes in chauvinistischer Häme zu ergehen, ist allerdings keine gute Alternative. Die gängigen Erklärungen des »Brexit-Chaos« eignen sich weder dazu, zu begreifen, was da seit mehr als zwei Jahren an den Verhandlungstischen geschieht und warum es geschieht, noch ermöglichen sie eine eigenständige linke Position.



* In der Printversion steht fälschlicherweise, es gehe um Handelskontrollen zwischen Irland und Nordirland.

Neuwahlen im Vereinigten Königreich

Nach längerem Tauziehen hat sich das britische Parlament Ende Oktober darauf geeinigt, am 12. Dezember Neuwahlen abhalten zu lassen. Dies hatte Tory-Premier Boris Johnson zuvor mehrfach erfolglos beantragt. Die Opposition argumentierte, sie werde erst dann Wahlen zustimmen, wenn die Gefahr eines Brexits ohne Abkommen mit der EU gebannt sei. Nachdem diese Bedingung erfüllt war, stimmte Oppositionschef Jeremy Corbyn von der Labour-Party den Neuwahlen zu. Das Parlament wurde daraufhin Anfang November aufgelöst.

In der Labour-Party sowie der Bewegung Momentum, die Jeremy Corbyn unterstützt, waren zuletzt die Stimmen lauter geworden, die auf Neuwahlen drängten. Die zwischenzeitlich sehr hohen Umfragewerte für die Labour-Party sind derzeit im Keller, der Abstand zu den Tories ist groß. Boris Johnson erhofft sich deshalb, gestärkt aus den Wahlen hervorzugehen. Allerdings sind Umfragewerte im Vereinigten Königreich nur bedingt aussagekräftig wegen des dort geltenden Mehrheitswahlrechts. Zudem war der Abstand zwischen Labour und Tories schon einmal sehr groß: Im Frühjahr 2017, als Theresa May Neuwahlen anberaumte, um mit einer komfortablen Mehrheit im Unterhaus in die Brexit-Verhandlungen ziehen zu können. Labour holte dann während des Wahlkampfes enorm auf und verfehlte den Wahlsieg nur knapp. Die Tories verloren ihre Mehrheit im Unterhaus und können seither nur mit Tolerierung der nordirischen DUP regieren.

Wie die Kräfteverhältnisse im neuen Unterhaus sein werden und was dies für den Austritt aus der EU bedeutet, ist offen. Fest steht allerdings, dass der Brexit bestimmendes Thema des Wahlkampf sein wird.