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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 654 / 12.11.2019

»Wir werden nicht zur Normalität zurückkehren, weil die Normalität das Problem war«

Neue Bewegungen In Chile bricht sich Wut auf jahrzehntelangen Neoliberalismus in einem Aufstand Bahn

Von David Rojas Kienzle

»Ich glaube wir haben alle Angst, aber wir lassen sie beiseite, weil wir alle eine bessere Zukunft wollen«, sagt Luis nach mehr als zwei Wochen andauernder Proteste und Polizeirepressionen. Die Angst ist berechtigt: Luis hat selbst Gewalt erfahren. Ein Polizist auf einem Motorrad schoss ihm aus kürzester Entfernung bei einer Protestaktion in Peñalolen, einem Stadtteil der Hauptstadt Santiago, ins Gesicht. Ein Geschoss steckte in seiner Schläfe, ein zweites in seiner Schulter. »Es waren Gummigeschosse, wären sie aus Metall gewesen, wäre ich gestorben.« Luis' Geschichte ist eine von vielen, die derzeit in Chile passieren, seit am 17. Oktober Schüler*innen anfingen, gegen die Erhöhung der Preise für U-Bahn-Tickets in der Hauptstadt zu protestierten und die damit eine Spirale aus Repression und Widerstand in Gang setzten, mit der zuvor wohl kaum jemand gerechnet hatte.

Die Schüler*innen machten flashmobartige Demonstrationen, bei denen sie kollektiv die Drehkreuze der U-Bahn übersprangen. Die Reaktion des Staates darauf war wie üblich der Einsatz von Polizei, die aber mit scharfer Munition auf die Schüler*innen schoss. Videos von blutüberströmten jungen Menschen und Polizist*innen, die wahllos um sich ballerten, machten in den sozialen Netzwerken die Runde. Die Empörung über die Polizeibrutalität feuerte die Proteste weiter an und schon am 18. Oktober wurden in ganz Santiago Barrikaden errichtet und Bus- und Metrostationen angezündet. Der anfänglich friedliche Protest weitete sich zu einem landesweiten Aufstand aus.

»Es geht nicht um 30 Peso, es geht um 30 Jahre«

Am 19. Oktober schickte die Regierung zum ersten Mal seit dem Ende der Militärdiktatur 1990 das Militär in die Straßen und erklärte in Santiago den Ausnahmezustand, der am 21. Oktober auf das ganze Land ausgeweitet wurde.

Das tat der Bewegung aber keinen Abbruch. Die Fahrpreiserhöhung war nur der letzte Tropfen gewesen, der das Fass zum überlaufen brachte. Die Losung der Proteste war schnell: »Es geht nicht um 30 Peso, es geht um 30 Jahre.« 30 Jahre seit dem Ende der Militärdiktatur, 30 Jahre leere Versprechen von »besseren Zeiten«, gemacht von linken wie rechten Parteien, die alle nicht eingehalten wurden. Und spätestens seit 2006, als es erste Massendemonstrationen von Schüler*innen gegen das Bildungssystem gab, kam die Repression gegen soziale Bewegungen hinzu, sei es gegen Schüler*innen, Student*innen, indigene Mapuche oder Umweltaktivist*innen.

Während die Regierung weiter an der Eskalationsschraube drehte und zunächst in Santiago und Valparaíso, der zweitgrößten Stadt des Landes, Ausgangssperren verhängte, nahmen in ganz Chile, von Arica im hohen Norden bis zum patagonischen Punta Arenas, Hunderttausende Menschen an Demonstrationen teil, bauten Barrikaden und trotzten der Repression. Das alles geschah ohne federführende Beteiligung von Parteien, Gewerkschaften oder anderen traditionellen Organisationen, ohne Sprecher*innen und Anführer*innen. Zwar wurde zwischenzeitlich zum Generalstreik aufgerufen, dessen Folgen gingen allerdings inmitten der permanenten Aktionen und des Ausnahmezustands unter. Die Demonstrationen und Aktionen setzten sich ein ganze Woche fort. Präsident Piñera erklärte zwischenzeitlich, man befinde sich im »Krieg gegen einen mächtigen Feind«. Er bekräftigte, weiter auf das Militär zu setzen.

Das geht - in Zusammenarbeit mit der Polizei - äußerst brutal vor. Bisher sind mindestens 20 Menschen ums Leben gekommen. Nach Angaben der Polizei seien zwölf von ihnen bei Plünderungen verbrannt, fünf von Sicherheitskräften erschossen oder zu Tode geprügelt, drei überfahren worden. Dies sind allerdings nur die offiziell bestätigten Todesfälle. In sozialen Netzwerken kursieren nicht verifizierbare Videos von leblosen Menschen, die von Militärs in Fahrzeuge verfrachtet werden. Das nationale Institut für Menschenrechte INDH zählte darüber hinaus: 1659 Verletzte in Krankenhäusern, die entweder durch Kugeln, Schrot oder Gummigeschosse verletzt wurden. Mindestens 160 Menschen haben ein Auge verloren, mindestens 4364 Menschen wurden festgenommen. Das INDH legte in 19 Fällen Beschwerde wegen sexueller Gewalt und in 133 Fällen Beschwerde wegen Folter durch Sicherheitskräfte ein.

Nachdem es dem Militär trotz seines brutalen Vorgehens nicht gelungen war, die Proteste niederzuschlagen, wurde der Ausnahmezustand am 27. Oktober aufgehoben. An diesem Tag demonstrierten allein in Santiago auf der zentralen Plaza Italia 1,2 Millionen Menschen und forderten den Rücktritt des Präsidenten. In ganz Chile waren es mindestens drei Millionen. Und das in einem Land mit gerade einmal 17,5 Millionen Einwohner*innen.

Kein Weg zurück

Sowohl die Regierung, als auch die bürgerliche Presse riefen dazu auf, wieder zur Normalität zurückzukehren. Bis jetzt scheint es aber, als gebe es keinen Weg zurück. Am 3. November projizierten Aktivist*innen auf ein Gebäude auf der Plaza Italia in riesengroßen Lettern: »Wir werden nicht zur Normalität zurückkehren, weil die Normalität das Problem war.« Diese Normalität ist das Ergebnis von fast 40 Jahren Neoliberalismus in allen Lebensbereichen, der einem Großteil der Chilen*innen das Leben zur Hölle macht.

Chile, das von Präsident Sebastián Piñera erst kürzlich als »Oase« in Lateinamerika gepriesen wurde, ist ein neoliberales Musterland. Während der Militärdiktatur um Augusto Pinochet wurde die chilenische Wirtschaft unter der Ägide der »Chicago Boys« massiven Privatisierungs- und Deregulierungsmaßnahmen unterzogen. Der Name bezieht sich auf eine Reihe vom Neoliberalismus-Guru Milton Friedman in Chicago ausgebildeten Ökonomen, die auf Anweisung Pinochets ab dem Jahr 1975 sämtliche wirtschaftlichen Schlüsselpositionen übernahmen. Entsprechend der von Friedman entwickelten »Schockstrategie« wurde vom Gesundheitssystem bis zum Bergbau alles privatisiert, was nicht niet- und nagelfest war. Viele der damaligen Maßnahmen sind immer noch inkraft, ebenso wie die im Jahr 1981 ausgearbeitete Verfassung. Diese schreibt die neoliberale Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung fest und ist von der Mehrheit der Chilen*innen verhasst.

Die von der Verfassung vorgeschriebene Wirtschaftsordnung wirkt sich auf alle Lebensbereiche aus. So auch für Luis. Nachdem er von der Polizei ins Gesicht geschossen wurde, ging er in ein Krankenhaus. Da es in Chile praktisch keine staatliche Gesundheitsversorgung gibt, läuft die Behandlung ohne privat finanzierte Versicherung darauf hinaus, die Leute gerade genug zu behandeln, damit sie nicht nicht noch in der Klinik tot umfallen. Und selbst das klappt nicht immer. »Als ich zum Arzt ging, wurde mir erst gesagt, ich solle nach Hause gehen. Sie sagten mir: Wir entfernen das Geschoss nicht, der Körper gewöhnt sich daran. Es hat sich dann entzündet.« Luis hatte Glück im Unglück: Freund*innen und Verwandte kratzten 300.000 Peso, umgerechnet 360 Euro, zusammen und bezahlten die notwendige Operation. »Was ist mit den ganzen Leuten, die nichts haben und jetzt die OPs zahlen müssen? Was ist mit den Leuten, die ein Auge verloren haben? Hier in Chile kannst du nicht mal daran denken, eine Prothese zu bekommen!«

Und der Kreis derjenigen, für die eine Behandlung nicht finanzierbar ist, ist groß. Die Hälfte der Chilen*innen verdient 400.000 Peso, was etwa 480 Euro entspricht, oder weniger - bei Lebenshaltungskosten, die sich fast auf europäischem Niveau bewegen.

Die Armut, in der viele Menschen in Chile leben, setzt sich bis ins Alter fort. Das private Rentensystem wird seit Jahren kritisiert, weil es keine würdige Pension ermöglicht. Es folgt dem neoliberalen Gedanken, dass der Staat sich aus allem heraushalten solle und der Markt alles regele, mit dem Ergebnis, dass die durchschnittliche Rente mit etwa 260.000 Peso im Monat nicht einmal die Hälfte des Durchschnittseinkommens beträgt.

Schamlose Korruption der Oberschicht

Dieser Lebensrealität der Mehrheit der Chilen*innen steht die schamlose Korruption der chilenischen Oberschicht und Politikerkaste gegenüber. Kein Jahr vergeht, ohne dass ein neuer Korruptionsskandal ans Licht kommt. Präsident Piñera persönlich, der während der Militärdiktatur das Kreditkartenwesen in Chile einführte und so zu einem der reichsten Chilenen wurde, hat über 30 Jahre Steuern für eine seiner Immobilien hinterzogen - ohne Konsequenzen. Darüberhinaus werden immer wieder Preisabsprachen großer Einzelhandelsketten aufgedeckt. Hühnerfleisch, Klopapier, Windeln, Medikamente, Kühlschränke - nur eine Auswahl der Waren, für die Chilen*innen jahrelang zu hohe Preise zahlen mussten. Plünderungen von an diesen Absprachen beteiligten Unternehmen waren dementsprechend während der Proteste weit verbreitet und gerade in der ärmeren Bevölkerung breit akzeptiert.

Die Regierung um Piñera scheint sich nun darauf verständigt zu haben, Reförmchen zu machen und den Aufstand auszusitzen, da weder die massive Repression, noch Medienhetze dazu geführt haben, dass die Proteste nachlassen. Die eigentlich in Chile geplante UN-Klimakonferenz wurde wegen der Proteste ebenso abgesagt wie ein Treffen der Asien- und Pazifikstaaten. Neben anderen kleineren Maßnahmen hat die Regierung angekündigt, den Mindestlohn und die Mindestrente leicht zu erhöhen, außerdem wurde ein Teil des Kabinetts gegen jüngere Minister*innen ausgetauscht.

An der Basis entwickelt sich die Protestbewegung derweil weiter. In »cabildos« genannten Versammlungen, teilweise von Nichtregierungsorganisationen abgehalten, teilweise von Nachbarschaften organisiert, werden Forderungen gesammelt. Bisher kristallisiert sich heraus, dass ganz oben auf der Liste eine verfassungsgebende Versammlung steht, eine Forderung, die laut Umfragen der Universidad de Chile von 80 Prozent der Chilen*innen unterstützt wird. Diese und andere Forderungen bekommen immer mehr Nachdruck: Am 4. November erklärten die Arbeiter*innen des staatlichen Erdölunternehmens ENAP, das für 85 Prozent der Versorgung mit Mineralöl in Chile verantwortlich ist, sich einem noch nicht genau terminierten Generalstreik anschließen zu wollen.

Die fast ebenso laute Forderung nach Piñeras Rücktritt, der historisch einmalig niedrige Zustimmungswerte für seine Politik (14 Prozent) hat, schließt dieser allerdings aus: »Ich wurde von einer überwältigenden Mehrheit der Chilenen demokratisch gewählt, und ich habe eine Pflicht und Verpflichtung gegenüber meinen Wählern und allen Chilenen«, erklärte er gegenüber der Presse. Es ist aber viel mehr eine überwältigende Mehrheit der Chilen*innen, die genug von ihrer neoliberalen Lebensrealität hat, und offensichtlich gewillt ist, weiterhin Widerstand zu leisten - bis sich etwas ändert. So auch Luis: »Ich habe oft darüber nachgedacht, einfach aus Chile wegzugehen, aber ich will den Kampf nicht aufgeben.«

David Rojas Kienzle ist freier Journalist und Aktivist. In ak 633 schrieb er über die chilenischen Präsidentschaftswahlen.