Generation Gipfel
International Die »Battle of Seattle« inspirierte eine Epoche der Antiglobalisierungsproteste. Zwanzig Jahre danach steht eine Zeitenwende bevor
Von Paul Dziedzic
Was ist von den drei Tagen zwischen November und Dezember 1999 in Seattle übrig geblieben? Bei der Tagung der damals gerade mal fünf Jahre alten Welthandelsorganisation (WTO) braute sich ein Sturm zusammen - sowohl innerhalb als auch außerhalb der Organisation. Über 50.000 Menschen schafften es gemeinsam, das Treffen der Handelsminister*innen zeitweise zu blockieren. Es blieben Bilder von reizgasvernebelten Straßen, zerbrochenen Starbucks-Scheiben, verkleideten Demonstrant*innen, aneinander geketteten Menschen und Konversationen zwischen genervten WTO-Teilnehmer*innen und Aktivsti*innen. Eine Folge war auch, dass die WTO in den USA plötzlich bekannt war. Die Stadtverwaltung war überfordert, rief den Notstand aus und ließ die Nationalgarde ausrücken. Dieses Ereignis, auch »Battle of Seattle« genannt, gilt als Startschuss für die globalisierungskritische Bewegung. Es ist erstaunlich, wie viele Menschen seitdem regelmäßig zu einem auf den ersten Blick so abstrakten Thema wie der Globalisierung auf die Straßen gehen.
Seattle war der Zerfall der bipolaren Weltordnung noch im gleichen Jahrzehnt vorausgegangen: Die Zweite Welt war untergegangen, die Träume der blockfreien Staaten von einer neuen, faireren Weltwirtschaftsordnung waren geplatzt. Der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama hatte das Ende der Geschichte ausgerufen, übrig blieben nur der Washington-Konsens (1) und der neoliberale Ausspruch von Margaret Thatcher »there is no alternative«. Innerhalb der multilateralen Institutionen waren politische Debatten über die Weltwirtschaft einem ideologisch neoliberalen Kurs gewichen. Unterschieden wurde nicht mehr zwischen der kapitalistischen und der sozialistischen Welt, sondern zwischen guter und schlechter Regierungsführung unter dem Stichwort »Global Governance«. Und die zeigte nur noch in eine Richtung: Liberalisierung der Märkte, Flexibilisierung der Arbeitnehmerrechte, Privatisierung von Staatsbetrieben, die Dezentralisierung beziehungsweise Verkleinerung des Staates und seiner Dienstleistungen. »Handelshemmnisse«, die beseitigt werden sollten, konnten auf einmal alles bedeuten: Gesetze zum Schutz der Natur, staatliche Dienstleistungen in Bereichen wie Transport und Telekommunikation oder Arbeitnehmerrechte.
All die internationalen Organisationen bemühten sich, unter dem Stichwort Integration ihre Regelwerke anzugleichen. So ermöglichte es die WTO Entwicklungsländern in der Theorie, ihre Märkte zu schützen, und es fanden Kooperationen mit Entwicklungsorganen in der UN statt. Absprachen zwischen der Gemeinschaft der »Geberländer« sollten diese Kohärenz gewährleisten. Doch vor allem die Länder des Globalen Nordens bestimmten in diesen multilateralen Institutionen die Spielregeln. Es ging in erster Linie darum, wie unterschriebene Verträge umzusetzen waren. Länder des Globalen Südens konnten oftmals nicht mit den Industrien des Nordens mithalten, die ihre Märkte mit billigen Produkten fluteten und es so nationalen Industrien erschwerten, mitzuhalten. Diese systematischen Ungleichheiten zeigten die Demonstrant*innen in Seattle der Öffentlichkeit im Globalen Norden auf.
»Eine andere Welt ist möglich«
Wie Max Böhnel damals in ak 433 von den Protesten berichtete, war Seattle im Vorhinein schon ein dankbarer Ort für linken Protest: Die Stadt war das Tor zu den asiatischen Märkten, Versammlungsort von regierungskritischen Gruppen, Umweltaktivist*innen und indigenen Bewegungen. Wichtig war auch die Teilnahme der Gewerkschaften, die in den 1990er Jahren in den USA zu verblassen drohten.
Dem Siegeszug des Neoliberalismus verpasste Seattle einen, wenn auch kleinen, Dämpfer. Von ihrer eigenen Stärke überrascht, organisierten linke Gruppen von nun an groß angelegte Proteste, wo auch immer sich die Finanz- und Handelsinstitutionen oder die G8/G20 Länder trafen. Diese Proteste sollten aufzeigen, dass so etwas wie eine globale Solidarisierung möglich, dass das Ende der Geschichte nicht erreicht ist, und dass es nicht nur ein Game in Town gibt. Es folgten Proteste in Prag 2000, Genua 2001, Heiligendamm 2007, die allesamt die Augen der Öffentlichkeit auf die politische Seite dieser ansonsten unpolitisch und technisch wirkenden Treffen richtete.
Wie während des Arabischen Frühlings und der Occupy-Proteste im Jahr 2011 spielte das Internet auch schon in Seattle eine große Rolle. So hatten linke Gruppen die Möglichkeit, in Echtzeit über die Ereignisse zu informieren, und andere Akzente zu setzen als die auf Sensation fokussierte Medienlandschaft, sich über Strategien und Kommunikation auszutauschen und sich zu vernetzen. Doch auch hier ist der Staat mittlerweile vorgerückt und hat seine Repression auch auf die virtuellen Räume ausgeweitet.
Auch als Folge von Seattle entstand das Weltsozialforum (WSF) in Porto Allegre 2001, das als Gegenstück zum Weltwirtschaftsforum in Davos fungieren sollte. Es war der Versuch, Gegenpositionen, Bündnisse und Praxen außerhalb der Gipfelproteste zu entwickeln. Deshalb auch das Motto »Eine andere Welt ist möglich«. 18 Jahre später bleibt der Erfolg umstritten. Und obwohl es mit Events wie dem Weltwirtschaftsforum in Sachen weltbewegenden Beschlüssen nicht mithalten kann, zieht das WSF weiterhin Zehntausende Teilnehmende an, und überall wo das Forum hinzieht, bezieht es sich auch auf lokale Kämpfe. Doch ist das genug? Und was wäre der nächste Schritt?
Beim letzten Jubiläum der Battle of Seattle im Jahr 2009 fragte sich wahrscheinlich nicht nur ak in ihrer 541. Ausgabe, wo denn die globalisierungskritische Bewegung in Anbetracht der Finanzkrise geblieben sei. Es wurde vermutet, der Bewegungszyklus sei vorbei. Ein Grund war, dass die Herrschenden schnell viel Geld in die Hand nahmen, um eine Panik und möglichen Protest einzudämmen. Daraufhin erst folgten Jahre der Austerität, gegen die sich lokale Widerstände formierten, die sich wiederum mit Kampagnen gegen die Europäische Zentralbank zu einem zumindest überregionalen Protest entwickelten. Beim Hamburger G20-Gipfel stellte sich heraus, dass Seattle doch nicht tot war.
Die Gastgeber*innen der Gipfel haben sich mit der Zeit auf die Gegenwehr eingestellt, und investieren mittlerweile massiv in die Sicherheit. Und wo ihre Routine unterbrochen wird, versuchen die Behörden im Anschluss immer wieder, mittels Repression und Strafmaßnamen Exempel zu statuieren. Gleichzeitig geschieht auch etwas anderes: Mittlerweile investieren die Organisator*innen auch massiv in die Inszenierung demokratischer Prozesse, wahrscheinlich auch als Reaktion auf ihr Legitimationsproblem. Jugendparlamente werden einberufen, NGOs sind heute fester Bestandteil von Konsultationen, und in Hamburg prahlte das Organisationsteam damit, massiv Akkreditierungen verteilt zu haben (der Entzug von 32 dieser Akkreditierungen war allerdings eine große Schlappe). Die Inszenierung als ein Fest der Demokratie überspielt teils erfolgreich die Tatsache, dass ökonomische Liberalisierungen sich nicht mit Demokratien vertragen. Sie basiert auch auf der Kooptation zivilgesellschaftlicher Prozesse: Nicht wenige NGOs nahmen diese Einladungen an in der Hoffnung, innerhalb des Systems einiges zum Besseren zu verändern. Diese Nähe zwischen NGOs und Regierungen sorgt nach wie vor für Konflikte mit Protestierenden. Steckt in ihnen überhaupt revolutionäres Potenzial, wenn sie sich abhängig von staatlichen Töpfen machen und politische Unbedenklichkeitsprüfungen durchlaufen müssen? NGOs hingegen betonen, dass sie einiges ändern konnten und in konkreten Fällen tatsächlich etwa zum Besseren gewendet haben.
Ebenfalls nicht zu unterschätzen sind die Konflikte in Zeiten der bröckelnden, von den USA dominierten unipolaren Weltordnung und der Aufbruch von Mittelmächten mit kolonialer Vergangenheit, die ihre Position nun innerhalb des Multilateralismus zu stärken versuchen. Das Legitimationsproblem multilateraler Organisationen ist also nicht nur die Folge der Proteste von außen, sondern vor allem der Spannung im Inneren. Die nach Seattle eingeleitete Doha-Runde (2) gilt beispielsweise seit 2016 als gescheitert, und so bestehen die jetzigen Regeln fort. Der Trumpismus spiegelt die Argumentation der Rechten wider, die damals auch in Seattle zugegen waren und versuchten, aus der nationalistischen Gegnerschaft der Globalisierung heraus Kapital zu schlagen. Und obwohl die Rechte aus dem Aufbau einer »anderen Welt« innerhalb linker Strukturen wie dem WSF ausgeschlossen wurde, bleibt die Frage, wie Linke mit der Rückkehr des Protektionismus und Nationalismus umgehen werden. Denn die Globalisierungskritik hat die Rechte mittlerweile für sich eingenommen, weil sie den (weißen) Menschen im Westen größere Vorteile verspricht. Diese rechte Kritik am »Globalismus« beruft sich auf angeblich bessere Zeiten (für sie): als der Westen die Klassenverhältnisse unter anderem durch rassistische Ideologie und der mit ihr verbundenen globalen Arbeitsteilung aufrechterhalten konnte. Nun ist rechte Globalisierungskritik nicht nur in der Opposition, sie regiert vielerorts. Es ist deshalb schon ironisch, dass sich die Medienlandschaft auf den Begriff »Globalisierungsgegner« eingeschossen hat. Denn er ergibt keinen Sinn für eine solidarische Linke, außer eben, um jenen Menschen Doppelmoral vorzuwerfen und die Hufeisentheorie am Leben zu erhalten. Immer und immer wieder müssen sie erklären, dass sie keine Gegner*innen der Globalisierung sind, sondern der Globalisierung von oben. Manche benutzen in seltenen Fällen den Begriff »Altermondialismus«, der die Alternative zur derzeitigen globalen Vernetzung betonen soll.
Proteste verlagern sich
Von Seattle bleibt aber weiterhin der verbindende Charakter. Dort entstanden Momente der Vereinigung zwischen Initiativen, die sonst selten zusammen kommen. Gleichzeitig kosten diese Ereignisse viele Ressourcen. Während den vom Gipfel eingeladenen Gästen der Teppich ausgerollt wird, setzt das globale Grenzregime den Gegner*innen schnell einen Riegel vor. Flugkosten, Visakosten, Einladungen etc. erschweren den Zugang von Menschen aus dem Globalen Süden an den Protesten. Dabei sind ihre Stimmen und Input für die Linke im Globalen Norden zentral. Das Problem des Agendasettings ist kein exklusives Problem der kritisierten Institutionen. Gerade Fragen der Postkolonialität, die von Teilen der Linken als »Identitätspolitik« abgetan werden, erfahren in vielen Ländern des Globalen Südens erhöhte Aufmerksamkeit und sind auch direkt mit ihren Lebensumständen verbunden. Eine stärkere Kooperation mit migrantischen Gruppen täte ebenfalls gut, da sie ein verbindendes Element zwischen dem Globalen Norden und dem Globalen Süden sind. Auch die Klimakrise und die porösen Grenzen, die Kapital durchlassen, aber andere Menschen im Meer ertrinken lassen, betrifft ebendiese Gruppen.
Dass viele Dinge sich seit Seattle nicht geändert haben, ist kein gutes Zeichen. Auch wenn der Multilateralismus in der Krise ist, bestehen die globalen Verhältnisse fort: Handelsverträge sind weiterhin gültig und neue in der Mache, globale Lieferketten und Player wie Amazon nutzen kreativere, transnationale Wege, weiter Druck auf die Arbeiter*innen auszuüben, und Folgen des Klimawandels treffen jetzt schon vor allem marginalisierte Gemeinschaften. Außerdem gibt es verstärkt Versuche der regionalen Integration, wie zum Beispiel in Europa. Dort nutzen Firmen Lücken, die das wirtschaftliche Bündnis offen lässt. Lücken, die traditionelle Akteure wie NGOs nur bedingt füllen können, Gewerkschaften hingegen eher. Nelli Tügel berichtete in ak 650 über die Koordination während des Ryanair-Streiks und führt den noch nicht ausgereiften Ansatz als Inspiration für andere Bereiche an. So könnte die Zukunft einer neuen globalisierungskritischen Bewegung aussehen: einer, die konkrete Kämpfe gegen die globale Arbeitsteilung, unter anderem auch in Sachen Race und Gender, miteinander verbindet.
Was bleibt also von Seattle 1999? Vor allem ein Stück Bewegungsgeschichte, die es bis Hollywood schaffte. Mit der Zeit aber hat sich bei den Gipfeltreffen so etwas wie Normalität eingeschlichen. Zwar entstehen zwischendurch noch ikonische Bilder wie der N-TV Splitscreen beim Hamburger G20-Treffen, bei dem auf der einen Seite die Mächtigen in der Oper sitzen, während auf der anderen Seite, nur einen Steinwurf entfern, eine Straßenschlacht tobt. Doch es ist still geworden bei den Gipfeltreffen, weil sich die Aktionen gegen die Globalisierung woandershin verlagert haben. Denn eine andere Form des Protestes ist möglich.
Anmerkungen:
1) Der Washington-Konsens war ein marktliberales Reformpaket für Staaten, das von Organisationen wie der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds vorangetrieben wurde.
2) Bei der Doha-Verhandlungsrunde beschweren sich besonders Länder des Globalen Südens darüber, dass sie erschwerten Zugang zu den Agrarmärkten des Nordens haben.