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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 655 / 10.12.2019

Aufgeblättert

Gelbes Wunder

Noch während die Gilets Jaunes jeden Samstag in Frankreich demonstrieren, hat ihre Historisierung begonnen: Bereits mehrere Bücher sind in Deutschland erschienen, die diese Protestbewegung zu erklären versuchen, eines davon: »Soziale Gelbsucht« des französisch-deutschen Autors Guillaume Paoli. Mit Empathie und sich gar nicht erst um »Unparteilichkeit« bemühend beschreibt Paoli Beginn, Verlauf, Anliegen und Zusammensetzung der Gilets-Jaunes-Bewegung, die zu ihren besten Zeiten zwar auch »nur« ein paar hunderttausend Menschen auf die Straße brachte, allerdings ein paar Merkmale aufweist, die sie außergewöhnlich macht: Neben der bemerkenswerten Ausdauer ist das vor allem eine Zusammensetzung, die sich von früheren französischen Protestbewegungen unterscheidet. Viele Gilets Jaunes haben zuvor noch nie demonstriert, über Monate konnten sie sich überdies der Zustimmung von drei Vierteln der Bevölkerung gewiss sein. Das politische System empfinden sie als ungerecht, da in ihm ihre Anliegen nicht sichtbar werden. Weshalb die in jedem Auto vorhandene gelbe Warnweste, das Symbol der Bewegung, eine tiefere Bedeutung hat: Im Amtsfranzösisch heißt sie nämlich gilet de haute visibilité - Weste für erhöhte Sichtbarkeit. En passant bekommt man beim Lesen das französische politische System sowie Gründe für die Entfremdung weiter Teile der Bevölkerung von der institutionalisierten Politik erklärt. Obendrein gibt es ein erhellendes Porträt Emmanuel Macrons, der im Winter 2018 sein gelbes Wunder erlebte.

Nelli Tügel

Guillaume Paoli: Soziale Gelbsucht. Matthes & Seitz, Berlin 2019. 161 Seiten, 10,99 EUR.

Rechtes Italien

Die in den Feuilletons immer mal wieder aufgeworfene Frage, was denn da in Italien politisch schiefläuft, hat die Hamburger Körber-Stiftung nun von einem Experten beantworten lassen: Ulrich Ladurner, Europakorrespondent der Wochenzeitung Die Zeit in Brüssel. Gefühl statt Vernunft, nationale statt europäischer Identität - das sind die Widerspruchspaare, die laut Ladurner überall dort die Politik beherrschen, wo »die Populist*innen« die politische Agenda bestimmen - also auch in Italien. Die Frage nach einem neuen Faschismus findet er indes ebenso obsolet wie den Gegensatz von links und rechts. Beispiel Migration: So zitiert er einen sozialdemokratischen Bürgermeister, der schnellere Abschiebungen fordert, und formuliert folgende Lehre: »Es ist nicht der Gegensatz zwischen rechts und links, der aufgelöst werden muss, es geht stattdessen um eine bessere Steuerung, ein besseres Management der Migration.« Dahinter steht wohl die Hoffnung, ein effektiverer staatlicher Rassismus würde Salvinis Lega ihr wichtigstes Thema streitig machen und damit eine große Gefahr abwenden: die drohende »kopernikanische Wende der italienischen Außenpolitik« - von der Westbindung zum Bündnis mit Russland und China. Denn »Italien rückt wieder in den Fokus - als geostrategischer Schwachpunkt, als weicher Bauch Europas.« Die anatomische Metapher stammt aus der Zeit, als westliche kalte Krieger warnten, Italien drohe - vor allem wegen der Stärke der Linken - zum »Einfallstor des Kommunismus« zu werden.

Daniel Ernst

Ulrich Ladurner: Der Fall Italien. Wenn Gefühle die Politik beherrschen. Edition Körber, Hamburg 2019. 231 Seiten, 18 EUR.

Amazon-Streik

Sechseinhalb Jahre im Streik und noch immer kein Tarifvertrag. Gar als »traurigsten Arbeitskampf Deutschlands« bezeichnete die taz den im April 2013 begonnenen Ausstand der Amazon-Beschäftigten in Bad Hersfeld. Zeit also, die Streikwesten auszuziehen und zurück an die Packtische zu gehen? »Mitnichten!« möchte man nach der Lektüre der von Jörn Boewe und Johannes Schulten verfassten Studie »Der lange Kampf der Amazon-Beschäftigten« rufen. Sie gibt einen Überblick über den nationalen wie auch den internationalen Widerstand. In Deutschland, so der Tenor, haben die Streiks Amazon bereits verändert. Höhere Löhne und Verbesserungen bei den Arbeitsbedingungen sind das eine. Ähnlich wichtig: In den Betrieben »herrscht auch nach mehr als sechs Jahren Streik lebendiges gewerkschaftliches Leben«. Auch international geschieht einiges, etwa bei der Vernetzung. Der von der Internationalen Dienstleistungsgewerkschaft UNI organisierten »Amazon Alliance« gehören bereits Gewerkschaften aus 16 Ländern an. Es gab sogar erste länderübergreifende Streiks. Hoffnungsvoll stimmt ein Blick in die USA. 25 Jahre blieb Jeff Bezos dort nahezu unbehelligt. Nun hat er gleich an mehreren Fronten Ärger: mit der erfolgreichen Bewegung gegen das »Headquarter 2« in New York, aber auch mit gewerkschaftlichen Organisierungsversuchen. Die Broschüre bietet eine umfassende und gut geschriebene Chronologie eines der interessantesten Kapitel aktueller Arbeitskampfgeschichte.

Fabian Westhoven

Jörn Boewe, Johannes Schulten: Der lange Kampf der Amazon-Beschäftigten. Labor des Widerstands. Rosa-Luxemburg-Stiftung. 75 Seiten. www.rosalux.de/publikationen

Tagebuch

Die Erstausgabe der jetzt in Wien gegründeten Zeitschrift Tagebuch will anknüpfen an die »Traditionslinie« des Wiener Tagebuchs, einer »weithin vergessenen unorthodox linken Zeitschrift«. Daran erinnern Herausgeber Samuel Stuhlpfarrer im Editorial sowie der prominente Autor eines historischen Fundstücks ganz am Ende des Heftes. Eine »Zeitschrift für Auseinandersetzung« soll das neue Tagebuch sein. Dazu gehören »Kontroversen« - eine acht Seiten umfassende »Debattenstrecke«, in der allerdings nur zwei Texte pro und contra CO2-Abgabe eine wirkliche Kontroverse aufmachen. Die übrigen Artikel dieser Rubrik enthalten Analysen zu aktuellen Themen: Österreichs rechts-autoritäres Staatsprojekt, indigene Proteste in Ecuador, Erdogans Krieg in Rojava, die irakische Revolte. Highlight ist Richard Schuberths boshaftes Porträt des »begnadeten Komikers« Heinz-Christian Strache. Schuberths Befürchtung: Auf die »Witzfigur« werden noch schlimmere »Matadore« folgen. Titelthema des Heftes ist die nächste Wirtschaftskrise, die sich in Deutschland bereits abzeichnet. Johannes Jägers Alternativen zur »Abwärtsdynamik« klingen linkssozialdemokratisch: staatliche Investitionen, ökologische Umsteuerung, höhere Löhne zur Stärkung der Binnennachfrage. Auf mehrere längere Texte, u.a. mit Erich Hackls Erinnerung an den Anarchisten Hubert Schwarzbeck (1906-1989), folgen sechs Seiten Rezensionen. Ob sich die Zeitschrift dauerhaft hält, hängt vom Geld ab: 1.500 Abos sind nötig. Die ak-Redaktion wünscht viel Erfolg.

Jens Renner

Tagebuch. Zeitschrift für Auseinandersetzung. Erstausgabe. Herausgeber: Samuel Stuhlpfarrer. Wien 2019. 58 Seiten, 9,50 EUR.