ak Logo   Nr. 655 / 10.12.2019

Anarchos im All: die Biokosmisten

Die Sunna, wie sie in dieser Gegend der Welt vor etwa tausend Jahren noch genannt wurde, bildet das Zentrum unseres Sonnensystems. Sie beinhaltet 99,86 Prozent der gesamten Masse dieses Systems. Unser Sonnensystem ist Teil der Milchstraße, in deren äußerem Drittel es liegt. Es ist eines von 100 bis 300 Milliarden Sonnensystemen dieser Galaxie, die sich mit einem Durchmesser von etwa 100.000 Lichtjahren im Universum ausdehnt. Unser nächster Nachbar in der Milchstraße, der Rote Zwerg Proxima Zentauri, ist allerdings gerade mal vier Lichtjahre entfernt. Er wird ebenfalls von einem Planeten umkreist, dessen Mindestmasse ungefähr derjenigen der Erde entspricht und der prinzipiell als bewohnbar gilt.

2017 war das Jahr des hundertjährigen Jubiläums der Russischen Revolution. Sie beabsichtigte, wie es in der der Internationale heißt, eine Welt zu schaffen, in der die Sonn' ohn' Unterlass scheint. Die Sowjetunion, die aus der Revolution hervorging, wurde nie zu der Union der Räte, die sie zu sein behauptete. Aber sie enthielt, vor allem in ihren ersten Jahren, noch die Möglichkeit hierfür.

Die Revolution, die vor mehr als 100 Erdenjahren den Globus erschütterte, setzte ungesehene Begierden und Fantasien frei. Gruppen wie die Biokosmisten, die aus dem russischen Anarchismus stammen, forderten die Kollektivierung der Zeit. Die Abschaffung der privatisierten Lebenszeit bedeutete zugleich die Überwindung des individuellen Todes. Dieses Denken entsprang nicht nur einem Wunsch, es war auch die zwingende Konsequenz einer logischen Gleichung. Wenn Sozialismus die zukünftige Gesellschaft war, die Ausbeutung abschaffte, dann durfte sie nicht auf den Anstrengungen vergangener Sozialistinnen beruhen. Sofern diese Kämpferinnen der Vergangenheit nicht in den Genuss der sozialistischen Gesellschaft kämen, für die sie selbst gekämpft hatten, würde der Sozialismus nämlich auf der Ausbeutung der Vergangenheit durch die Zukunft fußen. Er wäre kein Sozialismus.

Die einzige Möglichkeit, diesen Widerspruch befriedigend aufzulösen, bestand darin, alle Menschen, zumindest alle, die jemals gegen Ausbeutung gekämpft hatten, wieder zum Leben zu erwecken. Damit bekäme die Erde jedoch ein Platzproblem, weswegen die Besiedlung des Weltalls notwendig würde. Die kommunistische Gesellschaft, die angestrebt wurde, war eine interplanetare, interstellare oder sogar intergalaktische.

Vier Lichtjahre zum nächsten Stern. Angesichts der Weite des Weltraums werden Menschen immer wieder von dem Wunsch befallen, die Grenzen ihres Planeten auszuwischen und die Einsamkeit des Lebens darin zu teilen. Warum auch nicht?

Bini Adamczak

Kommies im Kosmos: Weltraumtrotzkismus

Die britische Autorin Marina Lewycka schreibt Romane über »die kleinen Leute« und über die britische Linke. Letzteres vor allem in ihrem 2013 erschienenen Buch »Die Werte der modernen Welt unter Berücksichtigung diverser Kleintiere«, in dem es folgende Szene gibt: Die Hauptfigur geht zu einer Demo und trifft da einen alten Mitbewohner aus der Kommune, in der sie einst lebte. Der frühere Weggefährte gehört zu einer Gruppe, die ein Banner trägt, auf dem steht: Posadistische Internationale Sozialistische Solidaritätsfront. Darunter in der einen Ecke Hammer und Sichel, in der anderen: eine fliegende Untertasse.

Da der besagte Roman ohnehin sehr heiter und voll angenehmer Selbstironie ist, könnte man diese Szene für eine kleine, absurde Fantasie der Autorin halten. Und natürlich handelt es sich um Fiktion, allerdings hat sie eine reale Grundlage. Die Posadistische Vierte Internationale gab es - gerüchteweise soll es auch heute in mehreren Ländern noch Anhänger*innen des nach dem argentinischen Trotzkisten Juan Posadas (gestorben 1981) benannten Posadismus geben. Was ebenfalls Fakt ist: Auch die fliegende Untertasse auf dem in Lewyckas Roman erdachten Banner hat einen realen historischen Hintergrund. Die Posadist*innen hingen der Theorie an, dass die Hoffnung auf eine klassenlose Gesellschaft nicht mehr auf Erden, sondern im All zu finden sei. Nur die klassenlose Gesellschaft, so die Argumentation, könne jenen Erfindungsreichtum und jene technische Entwicklung freisetzen, die für die interplanetare Raumfahrt nötig sind. Ergo: Wenn Aliens zur Erde kommen, sind es zwangsläufig kommunistische Aliens, die dann wiederum Verbündete im irdischen Klassenkampf sein können. Und grundsätzlich waren die Posadist*innen überzeugt davon, dass es, wegen seiner Unendlichkeit, irgendwo im All intelligentes Leben geben müsse.

Die am Ende doch sehr wirren Ideen (auch in einen sowjetischen Atomschlag gegen die USA setzte man große Hoffnungen) und der Personenkult, der um Posadas veranstaltet wurde, waren sicherlich auch eine Spiegelung der völligen Marginalisierung des Trotzkismus nach dem Zweiten Weltkrieg. In den 1930er und 1940er Jahren war die gesamte frühere Linke Opposition - von Stalin und Co. als »trotzkistisch« verunglimpft, erst später wurde diese pejorative Fremdbezeichnung zur Selbstbezeichnung - in der Sowjetunion und der Komintern vernichtet worden; Leo Trotzki selbst wurde 1940 in Mexiko ermordet. Nach dem Zweiten Weltkrieg herrschte politische Ratlosigkeit: James P. Cannon etwa, der Anführer der US-amerikanischen Socialist Workers Party, weigerte sich anzuerkennen, dass der Krieg vorbei ist, weil nicht das geschehen war, was Trotzki Jahre zuvor prognostiziert hatte. 1953 zerstritten sich die Mitglieder der Vierten Internationale vollends, die Anführer (es waren ausschließlich Männer) verschiedener Sektionen überwarfen sich beim Versuch, einen Weg zu finden, wie der Trotzkismus Einfluss gewinnen könnte. Es kam zu einer ersten großen Spaltung der Internationale, ihr sollten viele weitere folgen.

Juan Posadas war da schon seit mehr als zehn Jahren Teil der Vierten Internationale, wiederum knapp zehn Jahre später, 1962, hatte er die Schnauze voll und gründete seine eigene, die Posadistische Internationale. Hoffnungslosigkeit bezüglich der trotzkistischen Parteienbündnisse und eine ordentliche Prise Größenwahn mögen dabei eine Rolle gespielt haben, ebenso wie ein tiefer Pessimismus beim Beschauen der irdischen Welt. Die Theorie von den kommunistischen Außerirdischen war nicht nur eine etwas skurrile Episode, sondern letztlich auch eine im Grunde sehr verzweifelte Ausflucht und Projektion nicht erfüllter Hoffnungen ins Über- und Außerirdische.

Nelli Tügel

Streik in der Stratosphäre*

Ground Control to Major chrrks - so lässt sich der 28. Dezember 1973 aus Sicht der NASA-Zentrale in Houston, Texas, vermutlich ganz gut zusammenfassen. Es war der Tag, an dem die drei Astronauten Gerry Carr, Ed Gibson and William Pogue auf der Raumstation Skylab in fast 450 Kilometern Höhe in den wilden Streik traten. »Auf der Erde würden wir niemals 84 Tage am Stück 16 Stunden am Tag arbeiten, und man sollte nicht erwarten, dass wir es hier im Weltraum tun«, erklärte ein aufgebrachter Jerry Carr, bevor er die Verbindung zur Flugleitung kappte - und die Crew sich einen Tag Auszeit gönnte.

Die Mission stand schon vor ihrem Beginn unter keinem guten Stern. Beim Start wurde die Station beschädigt, die erste Mission ging für Reparaturen drauf. Auf der dritten und letzten Skylab-Mission, die Mitte November 1973 startete, sollten sämtliche bis dato ausgefallenen Experimente nachgeholt werden. Teilnehmer früherer Missionen hatten gewarnt, dass das Pensum nicht zu schaffen sei, zumal niemand aus der neuen Crew zuvor im All gewesen war. Tatsächlich litt William Pogue am ersten Tag im Orbit unter Übelkeit - die Astronauten einigten sich darauf, dass dies die übliche Weltraumkrankheit sei, die bald vorbei gehen würde, und entschieden, den Vorfall nicht nach Houston zu melden. Doch die Flugleitung am Boden überwachte die Kommunikation im Cockpit und bekam Wind von Pogues Krankheit - aus Sicht der Skylab-Raumfahrer der erste einer Reihe skandalöser Vorgänge. Da keinerlei zeitliche Puffer eingeplant waren, hinkte die Crew ihrem eng getakteten Arbeitsplan bald hoffnungslos hinterher; aus Houston kamen derweil Anweisungen im Minutentakt. Kurz nach Weihnachten meldete Carr, der Zeitplan sei nicht einzuhalten, sie bräuchten Ruhezeiten. Als Houston antwortete, die Crew solle weniger schlafen und während der Mahlzeiten weiterarbeiten, stellten Carr, Pogue und Gibson die Kommunikation mit der Erde ein und nahmen sich einfach auf eigene Faust frei.

Erik Loomis, Professor für Arbeiterbewegungsgeschichte an der University of Rhode Island, weist in seinem Blog »Lawyers, Guns & Money« darauf hin, dass der Streik im All auch von den vielen irdischen Arbeitskämpfen zu Beginn der 1970er Jahre inspiriert war. Dass die Astronauten am Ende Pausen und einen selbstbestimmten Arbeitsrhythmus durchsetzen konnten, sei aber auch ihrer privilegierten Position zu verdanken, in der sie unersetzbar waren. Zumindest für die Zeit ihres Einsatzes, denn die NASA war nachtragend: Obwohl die drei Crewmitglieder unter den gelockerten, quasi postfordistischen Arbeitsbedingungen den Zeitrückstand aufholen und alle Experimente abschließen konnten, wurde keiner von ihnen je wieder ins All geschickt.

Der Stimmung unter den Astronauten tat der Vorfall keinen Abbruch, im Gegenteil: »Wir kamen gut miteinander zurecht«, erinnert sich der mittlerweile verstorbene William Pogue in seinen 2011 veröffentlichten Memoiren. »Wir hatten ja einen gemeinsamen Feind, der uns zusammenschweißte: die Zentrale in Houston.«

Jan Ole Arps

* Genau genommen handelt es sich hier um keinen Streik in der Stratosphäre (bis 50 Kilometer Höhe), sondern im äußeren Bereich der Mesosphäre (bis 500 Kilometer Höhe).


Auf Kommentare, Anregungen und Kritik freuen sich AutorInnen und ak-Redaktion
www.akweb.de   E-Mail: redaktion@akweb.de