Erfurter Sollbruchstelle
Deutschland Nach »Thüringen« bringen sich die rechten Kräfte in der Union in Position
Von Nelli Tügel
Ein »Konsens der Bundesrepublik« sei am 5. Februar in Erfurt gebrochen worden, hieß es in den letzten Tagen oft. Ganz ehrlich ist das nicht. Denn auch wenn die - sehr wahrscheinlich zuvor abgekartete - Wahl eines FDP-Ministerpräsidenten mit Stimmen der AfD ein Novum ist, so hat sie sich doch angebahnt. Die Sollbruchstelle, an der die angebliche »Mitte« nun brach, war längst eingekerbt. Die vergangenen Jahre waren geprägt von der Normalisierung rechter Diskurse. Und neben zahlreichen Kooperationen mit der AfD auf kommunaler Ebene, nicht nur von CDU und FDP, wurde auch medial immer wieder über Koalitionen unter Einbeziehung der extremen Rechten nachgesonnen. »Es darf nicht« und »Es kann nicht« seien »keine Kategorien der politischen Bewertung«, erklärte etwa der Journalist Jakob Augstein in einer Spiegel-Kolumne im Oktober 2018. Und ergänzte, »Deutschland wäre ein ehrlicheres Land, wenn die AfD (mit)regieren würde (...) Manchmal müssen die Verhältnisse schlimmer werden, bevor sie besser werden können.« Augstein bediente damit die irrige, aber nicht totzukriegende Hoffnung, wenn der Gegner sich und seine hässliche Fratze nur deutlich zeige, würden Linke davon profitieren.
Diese Hoffnung projiziert dieser Tage manch einer auf Friedrich Merz, den marktradikalen Stehaufmann, der nun die besten Chancen hat, Kanzlerkandidat der Union und Vorsitzender der CDU zu werden. Dabei gibt es keine Empirie, die solch eine auf einer Art linksstrategischer Verelendungstheorie fußende freudige Erwartung stützt - im Gegenteil. Weder historisch, gerade in Deutschland, noch, wenn man einmal über die Grenzen der Bundesrepublik lugt, haben Regierungsbeteiligungen der Rechten irgendwo die Linke geeint und ihr zu neuer Stärke verholfen. Lega in Italien oder FPÖ in Österreich konnten weitgehend unbehelligt Teile ihrer menschenverachtenden Politik umsetzen - unter der jene leiden, an die die voreiligen Begrüßer*innen eines endlich mal wieder richtig rechten CDU-Kanzlers nicht denken mögen. Merz zumindest lässt keinen Zweifel daran, welche Feinbilder er beschwören wird, um seinen Wahlkampf zu führen: In einer der ersten öffentlichen Aussagen nach der Rückzugsankündigung von Annegret Kramp-Karrenbauer rief der Ex-Blackrock-Aufsichtsratschef, der 1997 im Bundestag dagegen stimmte, Vergewaltigung in der Ehe als Verbrechen zu ahnden, das Thema »Burka-Verbot« auf - natürlich mit Verweis auf vermeintliche Frauenrechte. Auch aus dem, was Armen und lohnabhängigen Beschäftigten blüht, macht Merz kein Geheimnis. Natürlich waren auch die Merkel-Jahre für sie keine paradiesische Zeit - auch nicht für jene Menschen im Süden des Kontinents, die unter dem Euro-Krisenmanagement der Deutschen bis heute leiden.
Doch der tiefere Grund des Erdbebens, das die Union nun erfasst hat, dürfte das Drängen der Kapitaleigner raus aus dem bloßen Verwaltungsmodus des deutschen Exportmodells sein, das noch von den »Reformen« der Schröder-Regierung zehrt - hin zu erstens neuen marktradikalen »Reformen« und zweitens »flexibleren Gestaltungsoptionen« in Koalitionsfragen. Flexibel wie Merz, der eine perspektivische Einbeziehung der AfD wohl ebenso könnte wie Schwarz-Grün. Die Grünen-Spitze jedenfalls will dem nicht im Weg stehen. Ohne Not machte die Grünen-Fraktionsvorsitzende Katrin Göring-Eckardt in einem Interview deutlich, dass man eine Koalition mit Merz nicht ausschließe. Österreich ist dann eben doch näher als manche*r dachte.
Ein banger Blick in die Zukunft ist also ganz und gar nicht unbegründet. Aufgeben ist aber auch keine Option, und deshalb sind jetzt Fragen zu klären: Wie geht es der vor nicht allzu langer Zeit selbst von Streitigkeiten zerrissenen Linkspartei? Was machen die Gewerkschaften, wenn auch für sie eine neue Zeit anbricht? Weiter wie bisher, wie die jüngsten Planungen der IG Metall zur Tarifrunde 2020 befürchten lassen? Sind außerparlamentarische Linke vorbereitet darauf, dass ihnen der Wind bald noch heftiger ins Gesicht blasen wird? Was wurde aus der um die Ost-Landtagswahlen herum vielbeschworenen Unterstützung lokaler Strukturen? Und: Haben »wir« eine Strategie?