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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 658 / 17.3.2020

Aufgeblättert

Traumatisierung

»Wenn Männer etwas von dir wollen ..., dann lass ihnen ihren Willen. Wenn nicht, wird es nur noch schlimmer. Leg dich einfach hin.« Charlotte wächst allein mit ihrer Mutter auf, die ihrer Tochter keine Ratschläge fürs Leben, dafür aber ein Faible für den »Kinderwhore«-Style und die Musik von Courtney Love vermittelt, deren Songfragmente den Roman leitmotivisch durchziehen. Außerdem lernt Charlotte von ihrer Mutter, dass man Schmerz mit Pillen dämpfen kann. Seit sie von einem ihrer »vielen Väter« vergewaltigt wird, nimmt Charlotte regelmäßig Tabletten. Da ist sie zwölf Jahre alt. Vernachlässigung, Missbrauch, Drogen, Dissoziation - »Kinderwhore« führt die Zurichtung eines jungen Mädchens distanzlos vor Augen. Der Roman umfasst eine Spanne von gut acht Jahren und erschöpft sich weder in einer schulmeisterlichen Katalogisierung der Kaputtheit, noch bietet er eine ungebrochene Betroffenheitslektüre an. Vermittelt wird die Geschichte von einem Ich, das lernt, sich in eine »Puppe« und eine »Maschine« aufzuspalten, das sich schminkt, »bis ich aussehe wie ein Tatort«, das sich »ausschalten« und »es geschehen« lassen kann, das sich nur noch als »die Summe meiner Körperteile« empfindet. Im Verlauf der Lektüre erzählt sich dieses Ich Stück für Stück wieder zusammen, mal bildgewaltig, mal lakonisch, mal mit ätzender Ironie. »Kinderwhore« gibt einen Eindruck davon, was Traumatisierung bedeutet: »Es ist nicht möglich, sich daran zu erinnern, denn es scheint immer gerade jetzt zu passieren.«

Stephanie Bremerich

Maria Kjos Fonn: Kinderwhore. Übersetzt von Gabriele Haefs. CulturBooks, Hamburg 2019. 256 Seiten, 20 EUR.

Urfaschismus

Es war vor allem die faschistische Rhetorik, die Umberto Eco vor 25 Jahren zu seinem Vortrag über den »ewigen Faschismus« inspirierte. Am 25. April 1995, dem 50. Jahrestag der Befreiung, sprach er darüber auf einem Symposium in New York. Im Jahr eins nach Berlusconis triumphalem Wahlsieg im Bündnis mit den Neofaschist*innen und der Lega Nord machte er deutlich, dass der Faschismus »schwerlich in derselben Form wiederkehren« werde. »Aber das faschistische Spiel lässt sich auf vielerlei Weise spielen«, sagte er. Einige der von ihm genannten 14 Merkmale, »die typisch für das sind, was ich den ewigen oder Ur-Faschismus nennen möchte«, scheinen den heutigen Protagonist*innen abgelauscht zu sein. Dazu gehören die »Angst vor dem Andersartigen«, der »Appell an die frustrierten Mittelklassen«, die »Verachtung der Schwachen«, die »Ablehnung und Verurteilung aller nicht zum Standard gehörigen Sexualgewohnheiten«, »verarmtes Vokabular« und »versimpelte Syntax«, die Verurteilung des Pazifismus als »Kollaboration mit dem Feind« - und nicht zuletzt die »Obsession einer Verschwörung«, die sowohl von innen als auch von außen kommt. Die deutsche Neuauflage seines »Klassikers« wurde um vier Texte ergänzt, darunter »Die Migrationen des dritten Jahrtausends«. Im Vorwort arbeitet Roberto Saviano die Aktualität von Ecos Überlegungen heraus. Weniger überzeugend ist Savianos Appell, die rechte Gefahr »mit der Macht der Intelligenz zu demontieren«. Das allein wird nicht reichen.

Jens Renner

Umberto Eco: Der ewige Faschismus. Mit einem Vorwort von Roberto Saviano. Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber. Carl Hanser Verlag, München 2020. 80 Seiten, 10 EUR.

Linke Verantwortung

Gut ist, dass sich mit dem Buch ein amtierender Politiker der Linkspartei zu Wort meldet - so etwas sollte es öfter geben. Ansonsten stimmen hier nur zwei Sachverhalte: Dem Titel ist zuzustimmen - es gibt eine Verantwortung der Linken, der es auf allen Ebenen nachzukommen gilt. Und Jan Kortes Kritik am akademischen Sprachgebrauch ist ebenso richtig: Sachverhalte und Kritik sollten nicht künstlich in schwierigem Vokabular in die Welt posaunt werden, wenn es auch »einfacher« auszusprechen ist. Allerdings scheint das Buch vor allem von der Absicht getrieben, verlorene Wählerstimmen wieder einzufangen, um den politischen wie gesellschaftlichen Einfluss der Partei gerade in der Fläche kurz- und mittelfristig zu sichern. Der Staat soll es richten - von links. Die multiple Krise kommt nicht vor, ebenso fehlt jegliche Kapitalismuskritik auf der Höhe der Zeit. Die Krise der Demokratie wird nur unzureichend erfasst. Kein Wort zum Thema antimuslimischer Rassismus. Stattdessen: Staatsbeschwörung und die einmal mehr entfaltete Hoffnung, mit SPD, Grünen und Restliberalen eine politische Parteienallianz zu schmieden. Es stimmt: Man muss den Menschen aller Klassen zuhören, aber dann bitte auch - wo nötig - mit klarer, entschiedener Kritik antworten und die kapitalistischen Verhältnisse angreifen. Stadt und Land gegeneinander auszuspielen - wie es Korte dann doch entgegen seiner einleitenden Absicht tut: Das ist kein Weg, um tiefgehend etwas zu verändern.

Sebastian Klauke

Jan Korte: Die Verantwortung der Linken. Verbrecher Verlag, Berlin 2020, 136 Seiten, 16 EUR..

Überall Popos

»Ist heute Samstag? Sagt, dass heute Samstag ist!« Seit Tagen freut sich Mila auf den gemeinsamen Schwimmbadbesuch. Endlich ist es soweit, heute will sie zum ersten Mal ins große Becken springen. Aber davor müssen Mila und Mama sich noch abduschen - zusammen mit all den anderen nackigen Menschen, deren Körper Mila interessiert betrachtet. Die sind so einzigartig und verschieden wie unsere Körper eben sind - und zum Glück keine Abbilder der weiß-schlank-genormten Ideale der Werbeindustrie. Dass die Diversität in der Frauenumkleide dabei ganz nebenbei in die Story einfließt, macht das Buch, unter anderem, echt (vor)lesenswert. Schade nur, dass Mama und Mila sich in der Dusche über all die »Scheiden«, die sie dort sehen, unterhalten - dabei ist doch spätestens seit Mithu Sanyals »Vulva« und Liv Strömquists »Der Ursprung der Welt« (ak 628) bekannt, dass es sich dabei um Vulven handelt. Und die dürfen vor allem auch in Kinderbüchern gern so genannt werden. Aber ab und zu stoßen eben auch sonst ganz wunderbare Kinderbücher an die Grenzen der Erwachsenenwelt, so auch als es Mama kurz peinlich ist, dass Mila laut die Vulven beschreibt. Dennoch wünsche ich mir, dass »Überall Popos« den Weg ins Bücherregal vieler Kinder und auch Erwachsener findet: Es ist eine humorvoll illustrierte und freche Geschichte über die fantastische Vielfalt der Körper - und vor allem über eine mutige Heldin, die mit einem kühnen Sprung vom Beckenrand am Ende sogar Papa rettet. Da kann Mama ruhig mal in der Sauna abhängen.

Natalie Wagner

Annika Leone (Text) und Bettina Johansson (Illustration): Überall Popos. Klett Kinderbuch, Leipzig 2020. 32 Seiten, 14 EUR.