Lehman-Moment
Wirtschaft & Soziales Angesichts der drohenden Rezession bringen sich marktwirtschaftliche Akteure mit ihren Forderungen in Stellung
Von Lene Kempe
Krisendeutungen sind eine hochpolitische Angelegenheit. Denn Krisen haben immer auch das Potenzial, eine bestehende Ordnung infrage zu stellen. Je nachdem ob sie als ein vorübergehendes »Gewitter«, als konjunkturelles Ereignis also, oder aber als Vorbote eines unvermeidlichen Wendepunktes gelesen werden, als ein Moment, in dem sich eine grundlegende Schwachstelle im System offenbart. So war es während der weltweiten Finanzkrise 2007 ff., die aller Welt die Sollbruchstellen der internationalen Finanzarchitektur vor Augen führte.
An diese Erfahrungen anknüpfend sprach Gabriel Felbermayr vom Kieler Institut für Weltwirtschaft mit Blick auf die Corona-Krise jüngst von einem »Lehman-Brüder-Moment«. So könne das Corona-Virus durchaus mehr als eine vorübergehende Rezession der Weltwirtschaft provozieren. Es könne uns lehren, dass wir mit der Globalisierung zu weit gegangen seien. Man müsse gar darüber nachdenken, die Globalisierung »ein Stück zurück zu drehen«.
Seitdem macht das Stichwort »De-Globalisierung« die Runde. Unstrittig ist dabei zunächst, dass das Virus die ohnehin schwächelnde Weltwirtschaft schon jetzt deutlich in Mitleidenschaft gezogen hat. Überall wo sich Covid-19 ausbreitet, ist das öffentliche Leben und damit auch die Wirtschaft massiv betroffen, Unternehmen melden Insolvenz an, die Aktienmärkte verfielen weltweit in einen Panikmodus, Gesundheitssysteme sind gnadenlos überlastet, die sozialen Folgen deutlich spürbar.
Maßnahmenpakete für Unternehmen
Derweil laufen die Maßnahmen der betroffenen Staaten weltweit auf Hochtouren, um die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise abzumildern. Und auch im EU-Rahmen will man nun gemeinsam und koordiniert gegen die Krise angehen. Die EZB kündigte 120 Milliarden Euro zusätzliches Geld für Anleihekäufe sowie die Bereitstellung besonders günstiger Kredite an, die krisengeschüttelte Branchen und Unternehmen mit Liquidität versorgen sollen. Auch über das Milliardenpaket der italienischen Regierung, die sich sonst mit der EU in einem permanenten Streit über die Höhe ihrer Staatsausgaben befindet, wurde - wenigstens für den Moment - großzügig hinweggesehen. In Deutschland demonstrierten Wirtschaftswissenschaftler in einem gemeinsamen Gutachten Einigkeit, dass vom haushaltspolitischen Ziel der »schwarzen Null« in Zeiten des Corona-Virus dringend abgesehen werden sollte. Am Geld soll es also nicht liegen.
So präsentierte die schwarzrote Koalition ein millardenschweres Hilfspaket für die Wirtschaft. Darin einigten sich CDU und SPD auf einen erleichterten und schnellen Zugang der Unternehmen zu dem bewährten Instrument der Kurzarbeit sowie auf die volle Erstattung der dann vom Arbeitgeber zu tragenden Sozialausgaben durch die Bundesagentur für Arbeit. Außerdem auf Bürgschaften für Exportgeschäfte, Liquiditätshilfen für besonders angeschlagene Unternehmen sowie Steuererleichterungen und einen staatlich finanzierten »Rettungsschirm« für angeschlagene Unternehmen als Ultima Ratio. Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) setzte sich zudem persönlich dafür ein, das sogenannte Lieferkettengesetz zu stoppen, mit dem deutschen Unternehmen für die Einhaltung der Menschenrechte bei ihren Zulieferern im Ausland haftbar gemacht werden sollten. Wirtschaftsverbände laufen seit Monaten Sturm gegen dieses Projekt. Die Corona-Krise sei Herausforderung genug, befand Altmaier.
Welche Wirkung diese Maßnahmen haben werden bleibt abzuwarten. Die Prognosen werden jedenfalls düsterer. Wurden zu Beginn noch drei mögliche Szenarien für den Verlauf der Krise diskutiert, scheint die erste Variante, das V-Szenario, nun bereits Geschichte. Es ging davon aus, dass das Virus nur zu einem kurzfristigen weltwirtschaftlichen Wachstumseinbruch führen und die Kurve danach schnell wieder auf das alten Wachstumsniveau ansteigen würde. Das U- und das L-Szenario sind weitaus pessimistischer, mittlerweile aber deutlich wahrscheinlicher. Eine U-förmige Wachstumskurve würde sich realwirtschaftlich in einer länger andauernden Rezessionsphase ausdrücken, dann aber auf den vertrauten Wachstumspfad zurückführen. Je länger die Krise andauert, desto mehr Ökonom*innen scheinen indes auch ein L-Szenario für möglich zu halten: dauerhafter Wachstumseinbruch und eine Stabilisierung auf deutlich niedrigerem Niveau als vor Corona.
In diese Debatten um den weiteren Verlauf der Krise mischt sich zunehmend auch die eingangs erwähnte Frage, ob Corona der Anfang vom Ende der Globalisierung, wie wir sie kennen, sein wird. Oder konkreter gefragt: Wird sich die »internationale Arbeitsteilung« dauerhaft verändern, werden in der Post-Corona-Ära globale Lieferketten zurückgebaut, werden Unternehmen »gezwungen sein«, wieder mehr im heimischen Markt zu produzieren und auf die Kostenvorteile der internationalen Arbeitsteilung zu verzichten? Bekanntermaßen haben nicht nur deutsche Unternehmen bis dato enorm von den Möglichkeiten profitiert, Produktionsschritte in Länder mit möglichst niedrigen Löhnen, geringen Arbeitsstandards und schwachen Gewerkschaften auszulagern und die Profitmargen so maximal auszureizen. Alles vorbei?
Keine naturwüchsigen Marktprozesse
Konservative Medien und Wirtschaftsakteure malen sich das düstere Zeitalter einer deglobalisierten Welt bereits aus. Handelsbarrieren vernichteten den Wohlstand, schreibt die FAZ, »was nach aller historischen Erfahrung nicht ohne Folgen für die Sterblichkeit bleibt«. »Hochgefährlich« nannte auch ein Vertreter des Münchner Ifo-Instituts auf einer Tagung zum Innovationsstandort Deutschland die Rede vom Ende der Globalisierung.
Vertreter*innen der De-Globalisierungsthese verweisen demgegenüber darauf, dass weltwirtschaftliches Wachstum schon vor Corona rückläufig war, Klimakrisen und Migration die Risikokulisse der Globalisierung verändert hätten und dass Handelskonflikte zunehmen. Die Corona-Krise könnte also zum Anlass werden, »die multilaterale Ordnung weiterzuentwickeln«. Forderungen nach besseren Standortbedingungen, niedrigeren Unternehmenssteuern und geringeren Lohnkosten dürften sich in dieser Logik als noch dringlicher darstellen als sonst. Denn, an diesem Punkt scheinen alle einig, der Verteilungsspielraum wird kleiner.
Ob die Weltwirtschaft nach überstandener Krise wieder auf ihren alten Wachstumspfad zurückkehren wird oder nicht, hängt indes nicht nur davon ab, wann es gelingt, das Virus einzudämmen, und wie stark die globale Handels- und Finanzarchitektur bis dahin in Mitleidenschaft gezogen wurde. Es wird auch davon abhängen, wie stark sich die jeweiligen Lager nun positionieren. Denn Globalisierung ebenso wie De-Globalisierung sind keine naturwüchsigen Marktprozesse, sondern in hohem Maße Ergebnis politischer Entscheidungen und struktureller Weichenstellungen. Das wissen jene Akteure am besten, die sich nun in Stellung bringen und ihre Krisendeutungen und damit verknüpften Forderungen in den Diskurs einspeisen. Auch für linke Bewegungen könnte diese Debatte eine Chance beinhalten. Den »Lehman-Brüder-Moment« 2007 ff. konnten sie nur bedingt nutzen, um eigene Deutungen und Forderungen zu popularisieren. Und auch jetzt wird diese Zeitfenster nicht lange offen bleiben.
Italien: Pandemie und Klassenkampf
Burgfrieden gibt es nicht in Italien - auch nicht in Zeiten der Corona-Krise, die das Land im europäischen Vergleich am schlimmsten getroffen hat. Zwar stimmten die regierende Mitte-Links-Koalition und die rechte Opposition gemeinsam für die Bereitstellung von bis zu 13 Milliarden Euro zur Eindämmung der Pandemie und zur Milderung ihrer ökonomischen und sozialen Folgen. Darüber hinaus aber herrscht Uneinigkeit. Der mit dem Krisenfonds verbundene Anstieg der Neuverschuldung auf drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) geht den Rechten nicht weit genug. Lega-Chef Matteo Salvini will fünf Prozent: mindestens 30 Milliarden Euro Soforthilfe, vor allem für Steuergeschenke zugunsten der eigenen mittelständischen Klientel im Norden. Damit versucht er sich einmal mehr als entschlossener Verteidiger nationaler Interessen zu profilieren - gegen die Machtzentren der EU, deren Spardiktat bislang nur 2,2 Prozent Neuverschuldung zuließ, und gegen die aus Brüssel, Paris und Berlin »ferngesteuerte« italienische Regierung.
Liberale Medien propagieren derweil eine Art Kabinett der »nationalen Solidarität« unter der Leitung parteiloser Expert*innen. Ihnen geht es vor allem um die Kapitalinteressen, weniger um die sozialen Folgen der Pandemie. Millionen Menschen - prekär Beschäftigte, Scheinselbstständige, Kleinunternehmer*innen und Migrant*innen ohne sicheren Aufenthaltsstatus - stehen völlig ohne Einkommen da. Andere bekommen ein viel zu geringes Kurzarbeitergeld.
Im weitgehend privatisierten Gesundheitswesen sind Ärzt*innen und Pfleger*innen am Ende ihrer Kräfte. Die Notaufnahmen sind völlig überfüllt, und die Zahl der Betten auf Intensivstationen reicht nicht aus. Zu ihrer Verteilung erstellte die Italienische Gesellschaft für Anästhesie, Reanimation und Intensivmedizin einen brutalen Kriterienkatalog: Demnach sollen vorrangig »die Patienten mit den höchsten Chancen auf therapeutischen Erfolg Zugang zu Intensivmedizin« erhalten. Ältere Menschen gehören offensichtlich nicht dazu.
Ob Betriebe die Arbeit einstellen oder nicht, sollen laut Unternehmerverband Confindustria allein die Kapitaleigner entscheiden. Viele Beschäftigte bleiben aber einfach zu Hause. Die großen Gewerkschaften fordern für die Lombardei (Hauptstadt Mailand) die Einstellung aller nicht lebensnotwendigen Produktion. Maurizio Landini, Vorsitzender des Gewerkschaftsbundes CGIL, stellt darüber hinaus grundlegende Forderungen. Dazu gehören Lohnfortzahlung und Ausweitung des Kündigungsschutzes, der unter Matteo Renzi (Partito Democratico) stark eingeschränkt worden war; unbefristete statt prekäre Beschäftigungsverhältnisse; Investitionen in Forschung und öffentliches Gesundheitswesen. Die Krise als Chance? Zweifel sind angebracht.
Jens Renner