Aufgeblättert
Angola Janga
Die Graphic Novel »Angola Janga« ist ein dicker Wälzer. Auf über 400 Seiten erzählt Marcelo D'Salete einen Teil der international wenig bekannten Klassenkampfgeschichte der Quilombos Brasiliens. Der Titel ist der Name mehrerer Ortschaften, die von aus der Sklaverei entlaufenen Afrikaner*innen ab Ende des 16. Jahrhunderts in dem südamerikanischem Gebiet, welches von den portugiesischen Kolonialisten ab Anfang des 15. Jahrhunderts besetzt wurde, gegründet und knapp ein Jahrhundert bewohnt wurde. In »Klein-Angola«, so die Übersetzung aus der Bantusprache Kimbundu, lebten von Ende des 16. Jahrhunderts bis 1695, geschützt im dichten Dschungel, schätzungsweise mehr als 20.000 Menschen unter afrikanischer Herrschaft: neben Afrikaner*innen auch Indigene und arme Weiße, die dem Militärdienst entflohen waren. D'Salete beginnt die Geschichte um den »Mulatten« Soares kurz bevor Angola Janga von einer Armee aus teilweise zwangsrekrutierten Indigenen, Mestizos und weißen Portugiesen als Staat zerschlagen wurde. Die einleitenden historischen Zitate bereiten die Atmosphäre in jedem Kapitel der Graphic Novel, die mit sehr wenig Text auskommt, gelungen vor. Die Bilder sind auf Details fokussiert und ganz in Schwarzweiß gehalten. Wie ein Spielfilm packt die Geschichte die lesende Person sofort - auch wenn die häufige Benennung des N-Wortes, gemäß dem Sprachgebrauch der Zeit, erst mal irritiert.
Eleonora Roldán Mendívil
Marcelo D'Salete: Angola Janga. Eine Geschichte von Freiheit. Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Lea Hübner. bahoe books, Wien, 2019. 430 Seiten, 29 EUR.
John Heartfield
6.200 Werke umfasst der Online-Katalog der Akademie der Künste zum grafischen Werk von John Heartfield. In einer neuen, derzeit wegen Corona geschlossenen Ausstellung und der dazugehörigen Publikation wird ein Einblick in sein Werk gegeben und seine Arbeitsweise nachvollziehbar. Die Ausstellung kann online angesehen werden, die Publikation zeigt Plakate, Buch- und Zeitschriftencover aus mehreren Jahrzehnten, in denen Heartfield (1891-1968) »Bilder als Waffen« einsetzt. Bilder, die die Gewaltsamkeit der Welt zeigen sollen und den Antimilitarismus, Antikapitalismus und Antifaschismus Heartfields dokumentieren. Fotografie, Collage und Montage sind seine Formate. Er klagt an und klärt auf, vor allem in seinen Arbeiten für die in sehr hoher Auflage vertriebene Arbeiter-Illustrierte-Zeitung (AIZ). Walter Benjamin schrieb über Heartfield, er habe den Buchdeckel zum »politischen Instrument« gemacht. Dies ist Heartfields künstlerische Seite, die in der Publikation ausführlich dargestellt wird. Aber es gibt als zweite Ebene Heartfields politisches Leben, das mit seinem Eintritt in die KPD 1919, der Mitarbeit an der AIZ ab 1930, antinazistischer Arbeit im Exil in Prag und London und, ab 1950, als verdächtigter Westemigrant, in der DDR grob skizziert wird. Die Publikation enthält unter anderem 250 Abbildungen in Farbe; sie ist sowohl für Fachleute wie auch für ein breiteres Publikum gedacht - und sehr gut geeignet, an den antifaschistischen Grafiker zu erinnern.
Bernd Hüttner
Anna Schultz, Angela Lammert, Rosa von der Schulenburg (Hg.): John Heartfield. Fotografie plus Dynamit. Hirmer Verlag, München 2020. 312 Seiten, 39,90 EUR.
Liebe heute
In ihrem feministischen Comic »Ich fühl's nicht« nimmt die schwedische Politikwissenschaftlerin und Zeichnerin Liv Strömquist das Beziehungsverhalten der Gegenwart unter die Lupe. Warum fällt es vielen Menschen so schwer, Liebe zu fühlen oder zu finden - trotz des potenziellen Überangebots durch Onlinedating? Strömquist nähert sich mittels wissenschaftlicher Literatur aus Soziologie, Psychologie, Geschichte und Mythologie ihrem Thema, das sie um Anekdoten und Collagen aus der Popkultur ergänzt. Jabba the Hut aus Star Wars, Papaschlumpf, Miraculix aus Asterix und Samantha Jones aus Sex and the City lässt sie argumentieren, dass Gefühle für Andere als Zeichen der Schwäche gelten: »Andere Menschen ... dienen als Spiegel zur Bestärkung des eigenen Egos.« Als maskulin gilt, wer viele sexuelle Beziehungen mit attraktiven Frauen pflegt, ohne sich emotional auf deren Persönlichkeit einzulassen. Daran knüpft Strömquist die These, dass Frauen sich dieses männliche Verhalten angeeignet haben, um wiederum selbst Macht zu erlangen: »Jetzt war ich mit 15 anderen Schlümpfen aus Schlumpfhausen im Bett! So what?! Wen schert's?« Wie die Soziologin Eva Illouz kritisiert sie rationale Auswahlverfahren als »Entzauberung der Welt«. Zusätzlich hätte sie noch auf die Funktion von Liebe im heutigen Kapitalismus aufmerksam machen können. Dort sind in der reproduktiven Sphäre Emotionen erwünscht. Sie liefern unbezahlt Einzigartigkeit und Nähe, wenn der Markt uns ansonsten nur Austauschbarkeit und Kälte fühlen lässt.
Patrick Helber
Liv Strömquist: Ich fühl's nicht. avant-verlag, Berlin 2020.176 Seiten, 20 EUR.
Durch die Gitter
Das Gefängnis ist seit Bestehen der türkischen Republik ein wiederkehrendes Motiv der Literatur. Da ist der Dichter und Kommunist Nâzim Hikmet, der hinter Gittern in den 1930er und 1940er Jahren Weltliteratur erschuf. Jüngere Werke türkischer und kurdischer Gefängnisliteratur verarbeiten vor allem die Verfolgung politischer Oppositioneller in den 1970er, 1980er Jahren und 1990er Jahren, also noch lange bevor Recep Tayyip Erdogan auf der Bühne der Geschichte erschien. Mit dem autobiografischen Roman »Unbedingt Blau« von Adnan Keskin, einst Aktivist der in den 1970er Jahren einflussreichen linken Strömung Dev-Yol, liegt seit kurzem eine weitere deutsche Übersetzung aus diesem Genre vor. Keskin, der vor knapp sechs Jahren starb, erzählt darin seine Geschichte als Geschichte des Protagonisten Sahin, der wegen seiner politischen Aktivitäten im Knast sitzt. Die von Sehnsüchten und Fluchtträumen geprägte Gefängnisgegenwart wechselt sich ab mit Rückblenden, Erinnerungen, bis es schließlich tatsächlich zur Flucht kommt: aus dem Knast und aus der Türkei. Eindringlich schreibt Keskin über sein Leben, das auch exemplarisch für die Erfahrungen einer ganzen Generation von Linken steht, von denen Zehntausende im Knast landeten, Folter erlebten, über die Todesurteile verhängt wurden, von denen viele ihr Leben lassen mussten. Das macht das Buch zu einem wertvollen Dokument über die Zeit vor und nach dem Militärputsch vom 12. September 1980 und einen Teil der linken Geschichte des Landes.
Nelli Tügel
Adnan Keskin: Unbedingt Blau. Übersetzt von Hülya Engin. bahoe books, Wien 2019. 371 Seiten, 18 EUR.