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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 661 / 16.6.2020

»Man kann nicht jeden Tag aus der Haut fahren«

International Die Soziologin Judit Takács über die Situation der queeren Community und Bewegung in Ungarn

Interview: Bilke Schnibbe

Am 28. Mai 2020 unterschrieb der ungarische Präsident Janos Áder ein trans- und interfeindliches Gesetz, welches Menschen verbietet, das ihnen bei der Geburt zugewiesene Geschlecht offiziell zu ändern. Die Fidesz-Regierung unter Viktor Orbán hatte Ende März im Eilverfahren einen entsprechenden Entwurf vorgelegt.

Fidesz und Orbán greifen seit einiger Zeit die queere Community an. Wie kam es nun zu diesem Gesetz, und wie wirkt es sich aus?

Judit Takács: Ganz Europa hat zugesehen, wie Orbán Ende März sein Notstandsgesetz verabschiedet hat. Im Rahmen der Corona-Pandemie ist aus Sicht der öffentlichen Gesundheit ein solches Gesetz sicherlich sinnvoll: In einer Krise will man die Entscheidungszeit verkürzen und Maßnahmen zum Schutz der Bürger*innen ergreifen. Aber das ist natürlich nicht das, was in Ungarn passiert ist. Am Tag nach Inkrafttreten des Notstandsgesetzes hat der stellvertretende Ministerpräsident, Zsolt Semjén, eine Art Sammelgesetz vorgelegt, in dem es heißt, dass sich Transsexuelle legal an die bei ihrer Geburt zugewiesene Geschlechtskategorie halten müssen. Es ist bizarr. Nach dem Notstandsgesetz war einer der ersten Schritte der Regierung also Transrechte einzuschränken. Es ist einfach absurd, die Rechte einer sozialen Gruppe in einer Krisensituation ohne Zusammenhang mit der Lösung der Krise einzuschränken.

Würdest du sagen, das Gesetz ist Teil einer antifeministischen Agenda der ungarischen Regierung?

Ja, ich denke, man kann das so interpretieren. Ich bin mir nicht sicher, ob die politischen Entscheidungsträger dies beabsichtigt haben und ob sie überhaupt auf theoretischer Ebene über ihr Handeln nachdenken. Manchmal habe ich den Eindruck, dass die ungarische Regierung eher nach Bauchgefühl Gesetze erlässt. Sie sind gute alte Patriarchen und strukturieren den diskursiven Raum entsprechend. In Ungarn hatten wir eigentlich keine starke antifeministische Bewegung wie in einigen anderen Ländern. Es brauchte eine solche Bewegung nicht, weil sie bereits Teil der politischen Mainstream-Agenda war. Die Regierung handelt dementsprechend. In der offiziellen Erklärung des Gesetzes heißt es, dass das »biologische« Geschlecht nicht vollständig verändert werden kann. Trans Personen würden also nie ein perfektes Ergebnis erreichen, wenn sie transitionieren, deshalb sollten sie einfach bei dem bleiben, was sie haben, ihrem »Geburtsgeschlecht«. Ich weiß nicht, wie die Regierung zu dieser Erklärung gekommen ist. Analytisches Denken ist nicht ihre Stärke. Ich hoffe, sie handeln aus Unwissen und nicht mutwillig bösartig. Denn wenn man ein bestimmtes Geschlecht in seinen Dokumenten vermerkt hat und ganz anders aussieht und handelt, kann dies zu Gewalt und Ausgrenzung führen. Warum muss man das Leben einzelner so viel schwerer machen?

Warum macht die Regierung das, wo es doch aktuell gänzlich unnötig erscheint?

Zynisch gesprochen: weil sie es kann. Gibt es einen sozialen Wunsch nach diesem Verbot? Marschieren die Leute dafür auf der Straße? Nein, das ist nicht der Fall. Wir wissen seit einigen Jahren nicht mehr, warum bestimmte Gesetze inkraft getreten sind, weil die Regierung solche Dinge in der Regel nicht begründet. Aber es ist bezeichnend, dass dieses Gesetz vom christdemokratischen stellvertretenden Ministerpräsidenten Zsolt Semjén angekündigt wurde. Seine Partei vertritt dogmatische christliche Ideen. Sie haben auch vor, etwas gegen die ungarischen Abtreibungsgesetzgebung zu unternehmen, trauen sich aber nicht so recht. Während der staatssozialistischen Jahrzehnte hat sich zumindest dieser Teil der weiblichen Autonomie stark in den Menschen festgesetzt. Das einzig Gute aktuell ist, dass Zsolt Semjén und die Regierung mit dem neuen Gesetz paradoxerweise die Sichtbarkeit von Transthemen in Ungarn erhöht haben. Natürlich ist es ein tragischer Kontext und ich wünschte, es wäre nicht so passiert, aber die Frage, wie Transthemen behandelt werden sollten, liegt auf dem Tisch. Die ungarische Gesellschaft befindet sich in einem Lernprozess zu queeren Themen.

Abgesehen von trans Personen sind auch inter Personen betroffen.

Ja natürlich. Inter Personen bekommen in Ungarn bei der Geburt ein Geschlecht zugewiesen, das als »biologisch« und »echt« betrachtet wird. Daran müssen sie sich jetzt offiziell halten. In den Köpfen der Regierung gibt es keine inter Personen: Menschen sind entweder männlich oder weiblich. Weil sie die Rechte und die Existenz von inter Personen nicht anerkennen, konstruieren eigentlich gerade die konservativen Politiker Geschlechter: Sie teilen inter Personen in männlich und weiblich ein. Sie tun also genau das, was sie uns vorwerfen: Geschlechter erfinden. Ich denke, das zeigt, wie bizarr die ganze Situation ist. Der inter Aktivismus in Ungarn ist noch wenig ausgeprägt, sie beginnen jetzt, sich mehr zu organisieren, und ihre Sichtbarkeit nimmt zu. Auch auf europäischer Ebene. Ich denke, es ist sehr wichtig, dass sie über ihre Anliegen sprechen, weil ihre Bedürfnisse natürlich andere sind als die der betroffenen trans Personen.

Orbán benutzt seit langem die antifeministische Erzählung von Gender-Terroristen, die die Familie und damit die Nation selbst gefährden. Wie hat sich das auf das Klima für queere Menschen in Ungarn ausgewirkt?

Es gibt sicherlich keinen allgemeinen Hass auf queere Menschen in Ungarn, obwohl wir aus Studien wissen, dass Homophobie in Ungarn zunimmt. Die Politik der Regierung hat zur Folge, dass die Menschen spüren, dass queere Menschen nicht die besten Freund*innen der Regierung sind und die Regierung nicht besonders freundlich gegenüber queeren Menschen ist. Als die ungarische Regierung 2018 ihre dritte Amtszeit in Folge antrat, kündigte Orbán eine demografisch fokussierte Politik an. Aus Sicht der Regierung gibt es in Ungarn und auf der Welt nicht genug Ungar*innen. Also muss Ungar*innen geholfen werden, sich zu reproduzieren. Es handelt sich um eine sehr selektive Einladung zur Fortpflanzung, entschuldige meine Wortwahl, aber so ist es eben. In Ungarn leben viele Rom*nja, und es besteht die Vorstellung, dass sie zu viele Kinder bekommen. Rom*nja sollen sich explizit nicht weiter fortpflanzen. Man würde auch denken, dass auf Reproduktion der Bevölkerung fokussierte Politiker jeden ermutigen, sich mit künstlicher Befruchtung oder anderer Technologie fortzupflanzen. Singles, queere Personen, wer auch immer. Aber nein, natürlich können lesbische Frauen diese Technologien nicht nutzen. Es soll also keine queere und keine nicht-weiße Reproduktion sein. Orbáns demografisch fokussierte Politik konzentriert sich auf diejenigen Menschen, die für Fidesz stimmen. Das ist der Kern des politischen Programms unserer Regierung. In diesem Zusammenhang ist es sinnvoll, die Möglichkeiten der unerwünschten Teile der Bevölkerung einzuschränken.

Antifeministische Politik greift normalerweise auch die Rechte von Frauen an. Wie ist die Situation von Frauen in Ungarn?

Es gibt in Ungarn einen re-traditionalisierenden Diskurs über die Rolle der Frau. Sie sollen Kinder bekommen, das sei eine Ehre und so weiter. Diesen Diskurs kann die Regierung aber im neoliberalen System nicht voll nutzen, um Frauen zur Fortpflanzung zu animieren. Es ist eine interessante Lage: In einem traditionellen politischen Schema müsste die Regierung dem autoritären Weg folgen, der durch die traditionelle Arbeitsteilung nach Geschlecht zwischen Heimarbeit und Arbeitsmarkt gekennzeichnet ist. Aber das heutige ungarische System ist neoliberal, und das kann die Regierung nicht ignorieren. In einer relativ frisch gewonnenen kapitalistischen Begeisterung, welche in Ungarn weiterhin anhält, muss man daher zumindest gegenüber den Frauen, die arbeiten wollen, einige Zugeständnisse machen. Als Soziologin ist die Situation natürlich ein spektakuläres Forschungsgebiet für mich, als Privatperson würde ich langweiligeres politisches Feld bevorzugen, muss ich sagen.

Die EU und auch die Bundesregierung haben nicht reagiert, als sich Ende März herauskristallisierte, dass das Orbán-Regime dieses Gesetz verabschieden wird, das eindeutig gegen Menschenrechte verstößt. Wie bewertest du das?

Deutschland wird in Kürze die EU-Präsidentschaft übernehmen, daher besteht in der ungarischen Opposition die Hoffnung, dass bestimmte Menschenrechtsfragen mehr in den Fokus geraten werden. Wenn man in Ungarn lebt, gewöhnt man sich nach einer Weile einfach an all diesen Unsinn. Es ist wie ein Ionesco-Drama anzuschauen: Man kann auf der Bühne Dinge sehen, die irgendwie intellektuell unterhaltsam sind, aber wenn man daran teilnehmen muss, ist das eine andere Sache. Man kann nicht jeden Tag aus der Haut fahren, es ist wie eine Art Ego-Schutz. Deshalb brauchen wir Feedback von außen, dass nicht wir, sondern dass das System, in dem wir in Ungarn leben, verrückt ist. Du hast da vielleicht eine differenziertere Analyse als ich, aber wir hoffen auf Impulse aus der deutschen EU-Präsidentschaft. Wir müssen zumindest auf etwas hoffen können, sonst können wir nicht weitermachen.

Wie können Aktivist*innen und Queers in anderen Ländern jetzt die ungarische queere Community unterstützen?

Es gab viele Petitionen, die herumgeschickt wurden. Ich denke auch, dass deutsche queere und politische Gruppen die lokalen ungarischen Gruppen kontaktieren sollten, um Solidarität zu zeigen und die ungarischen Gruppen diskursiv zu unterstützen. Im Moment sind die Grenzen natürlich geschlossen, und man kann nicht einfach nach Ungarn kommen. Deshalb ist Arbeit auf Social Media wichtig. Einige queere ungarische Organisationen haben auch englische Websites, auf denen man herausfinden kann, was benötigt wird. Wie zum Beispiel Geld für Anwält*innen. Auch Transgender Europe, eine Dachorganisation für Transgruppen, ist bereits aktiv geworden. Es sind also Dinge im Gange, und wir müssen abwarten, was die Aktivist*innen tatsächlich brauchen und darauf reagieren.

Prof. Judit Takács

ist ungarische Soziologin und forscht aktuell als Academy in Exile Fellow am Kulturwissenschaftlichen Institut der Universität Essen. Ihre Schwerpunkte sind Gender- und LGBTIQ-Themen.