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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 661 / 16.6.2020

Wie geht es uns eigentlich?

Deutschland Im Gespräch erzählen Teresa Ellis Bremberger und Joshua Kwesi Aikins, warum das Afrozensus-Projekt so wichtig ist

Interview: Paul Dziedzic

Der Afrozensus ist die erste und größte Studie zu Schwarzen Lebensrealitäten in Deutschland. Organisiert und durchgeführt wird sie von der und für die Schwarze Community. Anhand quantitativer und qualitativer Daten soll die Befragung sowohl Missstände aufzeigen als auch die Selbstorganisation stärken.

Was ist der Afrozensus, und wie ist er entstanden?

Kwesi: Ich war lange in der Schwarzen Bewegung und an der Uni aktiv und habe einen umfangreichen Bericht über Deutschland an den UN-Antirassismusausschuss erstellt. Da wurde mir klar, dass es an Daten fehlt. Im Kontext von Citizens for Europe habe ich dann ein Tool mitentwickelt, um diese Daten zu erheben. Es sollte auch intersektional sein; es geht darum, eine differenzierte Abfrage zu Rassismuserfahrungen zu machen, die andere relevante Diskriminierungsdimensionen wie Geschlecht und Geschlechtsidentität, Alter, Beeinträchtigungen und Behinderung, Ost-West-Unterschiede berücksichtigen. Wir haben lange auch aus der Bewegung heraus immer wieder lobbyiert, zum Beispiel bei der Antidiskriminierungsstelle des Bundes. Dann wurde auch tatsächlich eine Studie ausgeschrieben, in der es um Rassismus geht, der Schwarze Menschen betrifft. Uns war wichtig, dass die Community die Studie durchführt.

Teresa: Ich bin später dazu gekommen. In meinem früheren Job habe ich das Partizipations- und Integrationsgesetz des Landes Berlin mit evaluiert. Vieles wurde aus einer überwiegend weißen Perspektive formuliert, und mir hat da eine stärkere Einbindung der verschiedenen migrantischen Communities gefehlt. Als ich dann einen Anruf bekam, dass die Projektgelder für den Afrozensus da sind, habe ich sogar meine Elternzeit verkürzt, um dabei sein zu können. Die Bundesregierung erkennt zwar an, dass Schwarze Menschen eine vulnerable Gruppe sind, die besonders von Rassismus betroffen ist, aber da hört es auch schon auf. Sie weigert sich, die Daten zu erheben. Das hat natürlich auch historische Gründe. Sie haben nicht verstanden, dass wir keine Pro-Kopf-Zählung machen, sondern dass wir Lebensrealitäten verstehen wollen. Da gibt es andere Länder, die sind da weiter. Im UK oder in den USA arbeiten sie mit der Kategorie Race. Die verweist auch nicht auf Biologie, sondern auf ein soziales Konstrukt. Als ich das Buch von Reni Eddo-Lodge, »Why I'm No Longer Talking to White People About Race«, las, war ich total baff, wie sie die ganze Zeit mit Zahlen und Fakten um sich wirft. Solche Daten gibt es hierzulande nicht, stattdessen arbeiten wir hier immer noch mit dem Migrationshintergrund. Afrozensus ist ein Pilotprojekt und auch eine Suchbewegung von uns, um besser kontrollieren zu können, ob gewisse Maßnahmen gegen Anti-Schwarzen Rassismus wirksam sind. In Bezug auf die Community fragen wir: »Wie geht's uns eigentlich?«

Warum war es so wichtig, dass der Afrozensus community-basiert durchgeführt wird?

Kwesi: Wir haben in diesem Land schon lange Erfahrungen. Historisch schon seit Jahrhunderten. Leider ist es so, dass auch in der Sozialwissenschaft, gerade auch in Deutschland, bestimmte Muster und Konzepte verwendet werden, von denen wir wissen, dass sie unsere Realität nicht abbilden. Es geht darum, das gebündelte Schwarze Wissen, das wir seit Jahrhunderten produzieren, als Basis zu nehmen. Hinzu kommt, dass es keine monolithische Schwarze Community gibt, sondern viele unterschiedliche, mit verschiedenen Bezügen und Hintergründen. Es braucht also eine Organisation, die gut vernetzt und auch in der Lage ist, diese verschiedenen Perspektiven anzusprechen und in Fragebögen mit aufzunehmen. Man muss befürchten, dass, wenn das nicht bei EOTO (1) sondern klassischen, mehrheitlich weißen Migrationsforscher*innen gelandet wäre, all diese Sachen nicht beachtet worden wären. Es hätte weder eine sinnvolle historische und konzeptionelle Reflexion gegeben, noch eine angemessene Methodenwahl, noch das Ownership und das Vertrauen, das daraus erwachsen kann. Andere Konzepte, die wir ablehnen, sind ja oft welche, die uns pathologisieren und bestimmte Probleme der Gesellschaft in uns verorten. Das ist eine komische Umkehr. Und wenn das gemacht wird, dann hätten ja diese Daten auch wieder Teil eines diskriminierenden Herrschaftswissens werden können.

Teresa: Dieser Empowerment-Aspekt ist etwas, das eine Forschungsgruppe, die nicht aus Schwarzen Wissenschaftler*innen besteht, auch gar nicht leisten kann. Ich weiß aus der Praxis von mehrheitlich weißen Forschungsgruppen, in denen es vielleicht ein paar Ideen davon gab, was man fragen könnte oder wo man hingehen könnte, um partizipativ zu forschen. Aber eigentlich waren die Verbindungen zur Community nicht vorhanden. Dann entstehen wissenschaftliche Studien, die den Anspruch haben, partizipativ zu sein, es aber am Ende nicht sind. Das ist für die einzelnen Schwarzen Menschen, die einbezogen werden, unglaublich frustrierend, weil sie dann merken, dass sie nur da sind, um eine bestimmte Stimme zu geben oder eine bestimmte Position einzunehmen. Wenn sie einen konkreten Beitrag leisten oder vielleicht auch Sachen ansprechen wollen, die nicht in dieses Narrativ passen, können sie das nicht.

Habt ihr vielleicht ein Beispiel, das verdeutlicht, wie sich die Perspektive ändert, je nachdem, wer eine Studie durchführt?

Teresa: Ja, zum Beispiel bei vielen Studien zu »Migration«. Alleine schon mit dem Integrationsbegriff, mit dem da gearbeitet wird, passiert genau das, was Kwesi gesagt hat. Man schaut sich dann »Menschen mit Migrationshintergrund« an. Die müssen sich in eine Norm hinein integrieren, und all die Fehler, die in der Gesellschaft passieren, verorten sie bei den Personen selbst. Und wenn man schon von diesem Standpunkt beginnt, Forschung zu betreiben und zu argumentieren, dann kann das nur in eine bestimmte Richtung gehen, und dann können auch nur bestimmte Ergebnisse rauskommen, in der unsere Stimmen nicht gehört werden.

Kwesi: Der in Deutschland immer noch viel zu beliebte »Migrationshintergrund« ist zur Erfassung Schwarzer Lebensrealitäten zunehmend ungeeignet, weil er nach der zweiten oder dritten Generation statistisch aufhört. Es ist ja einerseits auch sinnvoll so, weil irgendwann ist man nicht mehr migriert. Aber wenn das andererseits die einzige Messgröße ist, die in Deutschland benutzt wird, ist das ein Problem. Denn es gibt immer mehr Menschen, die ihn statistisch nicht mehr haben. Aber sie erleben weiterhin Rassismus. Es gibt Schwarze Menschen in der fünften und sechsten Generation. Wir haben bei der Entwicklung des Afrozensus in verschiedenen deutschen Städten Townhall-Meetings gemacht und Leute dazu eingeladen, mit uns Forderungen zu formulieren und ihre Realitäten mit uns zu teilen. Diese haben wir in den Fragebogen aufgenommen. Ein Beispiel ist die Art, wie wir uns als Familien organisieren. Wir wissen, dass in vielen afrikanischen und vielen afrodiasporischen Kontexten Familie etwas anderes bedeutet als diese statistisch umrahmte, bürgerliche Nuklearfamilie, die hier die Basis vieler Analysen ist. Das bedeutet zum Beispiel, dass es viele Kinder und junge Menschen gibt, die in Haushalten leben, wo Menschen die Elternrolle einnehmen, die nicht ihre biologischen Eltern sind. Aber es ist trotzdem eine Realität von Elternschaft. Wir schöpfen also aus einem Reservoir einer anderen Zwischenmenschlichkeit, einer anderen Idee von intergenerationeller Verantwortung, einem anderen Horizont von Familie. Auf dieser Basis können wir unsere Fragen stellen.

Wie wollt ihr die Menschen außerhalb der aktivistischen oder akademischen Kreise erreichen?

Teresa: Der Ansatz ist ja, dass wir mit vielen verschiedenen Schwarzen Organisationen zusammenarbeiten. und die sind ganz unterschiedlich aufgestellt. Die Idee ist, dass jede Person, die vom Afrozensus erfährt, das nicht nur für sich behält, sondern auch in ihrer Familie und ihrem Bekanntenkreis teilt und somit jede Schwarze Person, die das mitbekommt, als Multiplikator*in wirkt und so sicher gestellt ist, dass es weite Kreise zieht.

Was ist der Zwischenstand?

Teresa: Wir haben jetzt über 4.700 Anmeldungen.

Kwesi: Das sind die Anmeldungen, bevor es überhaupt losgeht. Wenn es dann losgeht, hat das nochmal eine andere Sichtbarkeit. Wir hoffen natürlich, dass nach dem Ausfüllen des Fragebogens viele Leute nochmal anders verstehen, warum es wichtig ist und das dann in ihren Netzwerken teilen.

Wie zugänglich werden die Fragebögen?

Kwesi: Wir bauen darauf, dass die Organisationen, mit denen wir zusammen arbeiten, Outreach machen. Dann gibt es noch den Punkt der Mehrsprachigkeit: Der Fragebogen ist auf Deutsch, Englisch und Französisch. Und da ist es zum Beispiel so, dass die Leute aus der Community nicht nur übersetzt, sondern auch lektoriert haben, um wirklich sicherzugehen, dass es auch zugänglich ist. Dazu kommt, dass wir auch einen Pre-Test machen. Pre-Test bedeutet, dass man vor der Befragung nochmal ein paar Leuten den fertigen Fragebogen zukommen lässt und dann die Ausfüllerfahrung mit ihnen bespricht und nochmal feststellt, was Sinn ergibt, was nicht und was noch fehlt.

Wie kann ich mir das vorstellen, wenn ich den Fragebogen dann vor mir habe: Wie ist er aufgeteilt? Wie lang ist er?

Teresa: Das war auf jeden Fall auch ein großes Aushandeln, weil wir natürlich so viel abfragen wollten wie möglich, aber wir können die Leute ja auch nicht zwei Stunden vorm PC etwas ausfüllen lassen. Das Ziel ist gerade, dass er so um die 30 Minuten lang ist. Es geht nicht nur um Rassismus- und Diskriminierungserfahrungen, sondern wir haben einen Teil zu gesellschaftlichem Engagement in Deutschland, aber auch zu Bezügen zum afrikanischen Kontinent oder afrodiasporischen Kontexten zum Beispiel in Brasilien, der Karibik oder dem Irak. Wir fragen zum Beispiel, ob Unterstützungsleistungen an Familienangehörige geleistet werden. Dann gibt es auch einen Teil, wo es um politische Themen geht. Der letzte Teil ist Demografisches wie Wohnraum und Beruf, wo wir auch Diskriminierungserfahrungen abfragen können.

Kwesi: In einem Teil geht es um Diaspora-Politik und im weitesten Sinne auch um Entwicklungszusammenarbeit, obwohl beide Begriffe - also sogenannte »Entwicklung« und der Anspruch der »Zusammenarbeit« sehr fragwürdig sind. Aber der Punkt ist: Wir wissen, dass wir als Diaspora alleine schon mehr Geld zurückschicken als die gesamte westliche sogenannte Entwicklungshilfe. Wir wissen auch - und das ist wieder so eine soziale Realität, die wir kennen, weil wir sie leben - dass wir nicht nur Geld schicken. Wir sind ja auch auf andere Weise engagiert, das kann materielle Unterstützung sein, es kann aber auch organisatorischer Support sein - all das geht übrigens auch in beide Richtungen, auch viele hier werden unterstützt. Diese Daten sind natürlich auch für uns und unsere eigenen Organisationen wichtig. Es geht auch um die positiven Beiträge, die wir leisten, und darum, besser verstehen zu können, was wir eigentlich machen und in wie vielen Bereichen wir wie aktiv sind. Was die Zeit angeht: Das Schöne an so einem Online-Fragebogen ist, dass er ja kontextabhängig sein kann, das heißt Folgefragen hängen von Antworten auf Vorfragen ab; der Fragebogen wird nicht für alle gleich lang sein. Man kann Mehrfachantworten geben, man kann sich selbst definieren. 30 Minuten sind nur ein Mittelwert.

Ich habe mich auch angemeldet und mich gefragt, wie euer Sicherheitskonzept ist, zum Beispiel, ob meine Email nicht verbunden ist mit der Befragung.

Kwesi: Wir müssen ja richtigerweise den deutschen und europäischen Datenschutz einhalten. Wir haben uns auch selbst ein paar Kriterien gegeben, die etwas darüber hinaus gehen. Es ist beispielsweise so, dass wir die Email nicht mit irgendwelchen Antworten verknüpfen können. So ist die Umfrage anonym. Wir haben einen internen Datenschützer, es gibt aber auch einen externen Datenschützer, und die prüfen das dann zusammen. Unsere Server müssen gewissen, sehr hohen Sicherheitsstandards entsprechen. Wir nehmen das ernst, weil wir ja wissen, dass da viel dran hängt. Wir werben so auch um das Vertrauen der Community, von der wir Teil sind.

Wie stellt ihr eigentlich sicher, dass die Leute, die sich da anmelden, Schwarz sind?

Teresa: Die Frage kommt aus der Community oft. Zum einen teilen wir den Fragebogen über Schwarze Communities und Organisationen. Menschen, die von der Umfrage nicht gemeint sind und das aus Versehen ausfüllen, kommen schnell an den Punkt, an dem sie merken, dass die Fragen nicht für sie gedacht sind. Für Menschen, die das sabotieren wollen würden, gibt es auch Fragen, wo man das rauslesen könnte. Wir schauen uns die Antworten ja an, und wenn da irgendwas fishy ist und Begriffe und Konzepte verwendet werden, die einschlägig von bestimmten Gruppen benutzt werden, können wir das in der Datenauswertung berücksichtigen und damit umgehen. Alleine aus einer statistischen Perspektive: Je mehr Schwarze Menschen teilnehmen, desto irrelevanter wird es, ob einige darunter sind, die vielleicht nicht gemeint sind.

Kwesi: Natürlich gibt es engagierte Rechte und Nazis, aber werden sie sich dem wirklich eine halbe Stunde lang aussetzen? Und sind sie wirklich so double-consciousnes-begabt, ein Schwarzes Bewusstsein simulieren zu können, dass es uns nicht auffällt, während sie gleichzeitig Schaden verursachen? Die Wahrscheinlichkeit ist gering. Am Ende wird der supergeniale double-consciousness-pseudo-afro-Nazi einfach statistisch rausgefiltert.

Kann diese Studie dabei helfen, den wissenschaftlichen und öffentlichen Diskurs zu verändern und wenn ja, wie?

Teresa: Es kann auf jeden Fall ein Denkanstoß dafür sein, wie wir eigentlich forschen in Deutschland. Oft heißt es, dass wenn betroffene Gruppen das selber machen, sie ja nicht mehr objektiv seien. Anders herum wird nie gefragt, warum diejenigen, die von Rassismus profitieren, das machen dürfen. Von was für einer Subjektivität reden wir eigentlich?

Kwesi: Es ist auch ein epistemologischer Punkt: Hier sind wir mal nicht die »native informants«. Das ist eine anthropologische Grundfigur einer Person, die zwar das ganze Wissen liefert, aber nur als Rohinformation. Die muss dann an objektiver Stelle - meist durch den weißen Forscherblick - »veredelt« werden zu »eigentlichem« Wissen. Wir sind eben unsere eigenen Wissenssubjekte, und das bedeutet, dass wir den ganzen Prozess in der Hand haben, es bedeutet aber auch, dass wir tatsächlich anderes Wissen produzieren können. Es gibt so viel Migrationsforschung oder Leute die meinen, sie machen »Black Studies«, darunter viele weiße Leute und andere ohne Community-Anbindung, aber die Informationen, die für Schwarze Leben in Deutschland so elementar sind, die gibt es letztlich nicht.

Ihr baut ja auch auf vorheriges Schwarzes Wissen auf.

Teresa: Ja. Diese Studie ist in dieser Form in Deutschland erstmalig. Aber es ist schon ganz viel Arbeit vor uns passiert. Es gibt schon unheimlich viel Wissen, vor allem qualitative Daten. Die haben noch nie diese Bühne bekommen, die wir jetzt mit dem Afrozensus bauen können. Das ist auch etwas, was wir mit dem Bericht machen wollen: zeigen, worauf wir aufbauen, wie viele Schwarze Menschen auch in Deutschland schon unheimlich viel Arbeit geleistet haben, die bisher nicht gewürdigt und sichtbar gemacht wurde.

Anmerkung:

1) Each One Teach One (EOTO) e.V. ist ein Schwarzes Bildungs- und Empowerment-Projekt in Berlin.

Die Interviewpartner*innen

Teresa Ellis Bremberger ist Sozialwissenschaftlerin, Wirtschaftswissenschaftlerin und eine der Projektleiter*innen im Afrozensus.

Joshua Kwesi Aikins ist Politikwissenschaftler an der Uni Kassel und Senior Researcher bei Citizens for Europe in Berlin. Citizens for Europe ist eine Partnerorganisation von EOTO e.V. im Afrozensus.