Und das Leben geht weiter.
Biopolitik in Fantômas
I.
Es geht um Biopolitik. Ein Begriff, der sich aufdrängt und wieder entzieht, so schillernd wie durchsichtig, so grenzenlos wie kontrovers. In jeder Hinsicht mehrdimensional, und das heißt auch: ebenso problematisch wie ergiebig. Zwei seiner Dimensionen interessieren uns besonders.
Erstens schattiert der Begriff Biopolitik einen Hintergrund, vor dem sich Themen abzeichnen, die auch in linken Diskursen und Praxen meist unterbelichtet bleiben. Sie haben zu tun mit dem, was zunächst scheinbar unmittelbar "das Leben" selbst betrifft: Körper, Medizin, Gesundheit, Krankheit und Tod, Biotechnologien und -wissenschaften, schließlich "Natur" und - die Liste ließe sich noch lange fortsetzen. Biopolitik steckt in diesem Sinne ein Themenfeld ab, und der Einsatz des Begriffs sagt noch nichts über die Richtung von Politik, in die er weist. Prä- und postnatale Genscannings, "Sterbehilfe", Transplantationsmedizin oder die Vermarktung von Körperteilen verstehen BefürworterInnen wie KritikerInnen ebenso als Biopolitik wie der Staatsminister, der Kanzler oder die Moralphilosophin sich selbstredend biopolitisch betätigen, wenn sie über die Möglichkeiten der biotechnologischen Verwertbarkeit menschlicher Embryonen sinnieren.
Biopolitik ist in diesem Sinne also nicht unbedingt ein oppositioneller Begriff - vorsichtig formuliert. Denn tatsächlich tun sich gesellschaftliche Gegenentwürfe zur biotechnologischen und bioethischen Hegemonie vor allem durch Abwesenheit hervor, und diese Abwesenheit lässt ihrerseits das Adjektiv "links" in diesem Feld farb-, bedeutungs- und schließlich leblos werden. Was mit Leben, Macht, Widerstand gemeint sein könnte, verblasst auch diesseits linker Horizonte - in absteigender Reihenfolge: Während noch einsichtig ist, dass es beim Thema Biopolitik um Leben geht, ist schon weniger selbstverständlich, dass es damit auch um Macht geht. Regelrecht gegen Null gehen Kreativität und Kritik angesichts der Frage, ob und wenn ja wie Widerstand gegen Formen biopolitischer Herrschaft geleistet werden kann. Denn auf diesem Themenfeld hat die sogenannte Zivilgesellschaft so gründliche Arbeit geleistet, dass die Frage einer konsequenten politischen Widerständigkeit hier schon verworfen scheint, bevor sie je wirklich gestellt wurde. An ihrer Stelle blühen "ethische Herausforderungen" und Expertenspielwiesen, die den quasi-naturwüchsig sich entwickelnden biowissenschaftlichen Rationalitäten in zirkulären Diskurswucherungen ihren liberalen Segen erteilen.
Zweitens bezeichnet Biopolitik einen theoretischen Zugriff auf gesellschaftliche Macht (und damit unvermeidlich auf die Möglichkeit von Widerstand), der das Themenfeld Biopolitik weitestmöglich entgrenzt. Biopolitik eröffnet in diesem Sinne theoriepolitische Zugänge zu einer herrschaftskritischen "Analytik der Gegenwart", die gleichzeitig, weil sie aus einer Gegend kommt, die man meist unscharf "Postmoderne" nennt, mit vertrauten Bestandteilen auch des linken common sense bricht. Dabei tauchen Konzepte und Figuren auf, die nicht auf einen Nenner gebracht werden können und wollen: Michel Foucaults Biomacht, Toni Negri und Michael Hardts Empire, Gilles Deleuzes Rhizom, Donna Haraways Cyborg, Giorgio Agambens Homo Sacer (1) - um nur einige zu nennen. Gemeinsam ist diesen Ge-stalten, dass sie jene Fläche bevölkern, die das Dreieck Leben, Macht, Widerstand definiert. Der Begriff Biopolitik schlägt einen Bogen von der Analyse biopolitischer Herrschaft einerseits zu Entwürfen biopolitischer Widerständigkeit andererseits und bezeichnet damit immer schon das Projekt einer kritischen Biopolitik. Dieser Einsatz des Begriffs holt in das "eigentliche" Themenfeld von Biopolitik eher traditionelle politische Objekte wie Arbeit, Produktion, (Menschen-)Recht oder Staat wieder ein. Aber er tut dies, und das macht seinen Charme aus, ohne die Körper, die Technologien, die Krankheit und das Sterben, kurz: "das Leben" auf der anderen Seite wieder rauszuschmeißen. Und dieses Einholen ohne Rausschmiss bewirkt Merkwürdiges: Nunmehr erscheint das, was sich im Themenfeld Biopolitik in fast schon anmutiger Weise unmittelbar, faktisch und biologisch als "das Leben" präsentiert, das gesellschaftlich beforscht, behandelt, reguliert und manipuliert werden kann, als Produkt eben derselben Beforschungen, Behandlungen, Regulierungen und Manipulationen. Und geht doch nicht darin auf. Wenn Foucault sagt, dass wo Macht ist, immer auch Widerstand ist, so gilt sicher auch, dass, wo Leben ist, immer auch Macht ist. Und dann muss, wo Leben ist, auch Widerstand sein. Das heißt: "Das Leben" ist erstaunlicherweise immer schon Manifestation von Macht und zugleich latente Revolte; eine Latenz, die eben weil "das Leben" nackt und bloß nicht existiert, zum Ausbruch gebracht werden kann.
Die auf diese Weise eröffneten theoriepolitischen Zugänge steuern entsprechend der Gigantomanie des Feldes zwangsläufig theoretische Hoch-Plateaus an, nämlich eben: Leben, Macht, Widerstand. Sie verweisen aber auch auf einen Bereich, der zwischen "traditionellen" und biopolitischen Gegenständen vermittelt: den Alltag, das tägliche und tätige Leben. Was das politisch heißen kann, hat sehr schön und längst so manche feministische Theorie und Praxis gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts demonstriert, an Beispielen wie Geschlecht, Reproduktion, Sexualität, Sprechen, Arbeit etc. Die Kategorie "Biopolitik" bietet in diesem Sinne auch Nicht-FeministInnen die Möglichkeit, dies auf der Ebene großer Theorie oder lokaler Praxis (und erst recht in der Verbindung beider!) nachzuvollziehen.
Welche Werkzeuge dafür gebraucht werden, ist klar: ein qualifizierter Pluralismus der Methoden, Objekte und Perspektiven, der jedoch nicht darauf verzichtet, sich zu verorten: nämlich als ein Pluralismus, der neo- oder postmarxistisch, feministisch und poststrukturalistisch sein will; doch statt sich träge auf diesen -ismen niederzulassen, setzt er sie ein: für eine permanente Arbeit an und gegen sich selbst.
Dieses ganze Spektrum meinen wir mit Biopolitik, wohl wissend, dass wir das, was sich damit als Feld zur "biopolitischen Bearbeitung" eröffnet, nicht werden bestellen können. Was uns aber nichts macht. Denn Fantômas will erkunden, welche Wege sich eröffnen, wenn man vom Begriff Biopolitik ausgeht: Vom Ankommen wird auf den folgenden Seiten kaum die Rede sein. Das ist nicht zuletzt auch theoriepolitisches Programm, weil biopolitische Geschichte sich nicht erfüllen, sondern stets aufs Neue scheitern soll. Was Fantômas also will: die Lage sondieren. Gerade hierzulande.
II.
Denn obwohl die Kritik von Biopolitik ebenso wie das vor allem von Poststrukturalismus und Postoperaismus entwickelte Projekt einer "Analytik der Gegenwart" in keinem Land und keiner Linken zum Mainstream linker Theoriebildung gehören, sind beide in der deutschen Linken noch einmal mit besonderen Widerständen konfrontiert. Das hat zum einen mit dem Verdacht zu tun, bei all dem handele es sich um die neueste Variante eines lebensphilosophischen Irrationalismus. Zum anderen resultiert die spontane Ablehnung der mittlerweile gar nicht mehr so neuen französisch-italienischen Theorien aus einem weit verbreiteten Reflex gegen alles "Postmoderne". Beide Vorbehalte sind keinesfalls grundlos und verstärken sich gegenseitig in genau dem Maß, in dem Biopolitik einerseits und Postmoderne andererseits ganz offensichtlich zusammenhängen.
Auch wenn deutlich hörbar erst seit Ende des vergangenen Jahrhunderts von Biopolitik die Rede ist, begann der rasante Aufstieg des Lebens-Begriffs schon im 19. Jahrhundert und führte in dessen zweiter Hälfte zur Ausbildung einer eigenständigen philosophischen Strömung, die sich schließlich selbst als "Lebensphilosophie" bezeichnete. (2) Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die Lebensphilosophie zu einer weit verbreiteten kulturellen Modeströmung. Ab den 20er Jahren ging sie fast vollständig in der von Martin Heidegger entwickelten Existenzphilosophie auf, wo ihre Impulse fortwirkten. "Leben" war nicht nur ihr Leit-, es war auch ihr Kampfbegriff, den sie gegen wesentliche Momente der bürgerlichen Aufklärung und der Moderne richtete. Das Leben - im unmittelbar leiblichen Sinn, aber auch als Gefühl, als Stimmung, als sinnliche Anschauung, als Erlebnis wird dem "Toten" und "Erstarrten" entgegengesetzt, dem "abstrakten" Begriff, der "kalten" Logik, der Verwissenschaftlichung von Bildung, Moral und Alltag, der Durchsetzung der Technik, der bürgerlichen Konvention, überhaupt einer als "lebensfeindlich" wahrgenommenen "Zivilisation". In Deutschland entwickelte sich die Lebensphilosophie zur theoretischen Waffe der politischen Rechten: Die Nationalsozialisten erhoben Nietzsche zum Vordenker der "Bewegung", Heidegger selbst wird 1933/34 bekennender Nazi.
Der Verdacht, dass Foucault oder Deleuze und jetzt auch Hardt und Negri eigentlich "lebensphilosophische Irrationalisten" seien, kommt also nicht von ungefähr. Denn alle diese Autoren haben offen eingeräumt, ihre politischen Philosophien in intensiver Auseinandersetzung mit dem Denken Nietzsches und Heideggers ausgearbeitet zu haben. Das hat in Deutschland von Anfang an zu massiven Irritationen und oft auch zur prinzipiellen Ablehnung geführt. Wir können und wollen diese ganze Debatte hier weder darstellen noch entscheiden. Um eine offenere und produktivere Auseinandersetzung möglich zu machen, verweisen wir allerdings darauf, dass die Philosophen des "Lebens" in Frankreich bzw. Italien in einer von der deutschen radikal unterschiedlichen Wirkungsgeschichte stehen. Weil sie dort zuerst von den kulturrevolutionären KünstlerInnen im Umfeld des Surrealismus, später von oppositionellen Linksintellektuellen gelesen wurden, erfuhren lebens- und existenzphilosophische Begriffe und Thesen eine deutlich veränderte Prägung, die auch zu einem qualitativ anderen politischen Gebrauch dieser Begriffe führte. Die poststrukturalistische bzw. postoperaistische Analytik von Biomacht und Biopolitik ist insofern nicht einfach eine Neuauflage der deutschen Lebens- und Existenzphilosophie, sondern das Resultat ihrer radikalen Transformation in einem völlig anderen Kontext. Gerade eine kritische Bezugnahme sollte diesen Unterschied zum Ausgangspunkt nehmen.
III.
Die unglückselige Tradition, einen Identitätsdiskurs zu starten bevor man überhaupt begriffen hat, was da über die intellektuellen und/oder Landes-Grenzen schwappt, wird also in Fantômas nicht fortgesetzt. Dass theoretische Ressentiments nicht weit führen, zeigt derzeit die polarisierte Debatte um das Erscheinen von Empire. In mancher Hinsicht erinnert der Streit an die Aufregung, mit der Teile der hiesigen feministischen Öffentlichkeit Anfang der 90er Jahre auf die Veröffentlichung von Judith Butlers Buch Gender Trouble antworteten - ein Buch, das im besten biopolitischen Sinne die unhinterfragte "Gegebenheit" eines biologischen und geschlechtlichen Lebens als Effekt erfolgreicher biopolitischer Produktion entlarvte. Fantômas interessiert nicht, wer gläubig oder abtrünnig ist - nicht in bezug auf Empire, nicht in Bezug auf Biopolitik und nicht in Bezug auf das Projekt "des" Poststrukturalismus. Uns interessiert mehr, den Gebrauchswert dieser unterschiedlichen Angebote zu sichten.
Und das heißt auch, den Gebrauchswert von theoretischen Ressentiments ebenso wie den ihres Gegenstandes zu überprüfen, ohne sich der Identitätslogik des entweder/oder zu unterwerfen. Gern wenden Linke etwa gegen "die" PoststrukturalistInnen (die man bisweilen auch Pop- oder Kulturlinke, GenderspezialistInnen oder schlicht ElfenbeintheoretikerInnen nennt) das Argument, poststrukturalistische Theoriepolitiken lieferten dem neoliberalen, flexibilisierten Kapitalismus eben jene frei flottierenden, allzeit verfügbaren und anpassungswilligen Subjekte, die er braucht. Eine solche Kritik ist zunächst einmal aussagearm, ist doch das Potenzial zur kapitalistischen Verfügbarmachung in jeder, auch der "fortschrittlichsten" Theoriepraxis angelegt. Und jedes noch so widerständige Subjektivitätsmodell lässt sich in sein scheinbares Gegenteil
verkehren. Zum Beispiel hatte der tapfere männliche Revolutionär und Avantgardist ohne Privatleben zumindest in psychosozialer Hinsicht verblüffende Ähnlichkeit mit dem schwer schuftenden fordistischen Ernährervater, der seiner Familie zwar Vorgesetzter und Welterklärer, ihr als Mitmensch aber mehr eine Plage war. Das entkräftet das Ressentiment, beseitigt es aber nicht.
Wie das, was allgemein und diffus als "postmodern" gilt, arbeitet auch kritische Biopolitik mit der Idee, dass man auf universale Identitäten, Wahrheiten und Gesellschaftsentwürfe (und also auch auf Universalien wie "das Leben" oder "die Macht") lieber verzichten sollte. Und da setzt das Unbehagen an der Postmoderne ein: Wenn "alles möglich" ist, so die Befürchtung, hat man gegenüber Herrschaft, Kapitalismus und Staat das Heft schon längst aus der Hand gegeben. Tatsächlich weist diese Sorge ganz richtig auf eine Differenz hin, die es zu beachten gilt: zwischen einem indifferenten "Postmodernismus" und einer biopolitischen Kritik, die sich den Fragen stellt, die Poststrukturalismus und Postoperaismus aufwerfen. Es kommt eben darauf an, wofür auf Universalien verzichtet und welcher Preis dafür gerade nicht gezahlt werden sollte. Die Grenze zwischen einem herrschaftskritischen und einem -kompatiblen Post-ismus immer wieder neu zu ziehen, ist gerade deshalb unumgänglich, weil sie keine "natürliche", sondern eine im höchsten Maße "künstliche", das heißt: politische ist. Der Spur dieser Grenze folgt Fantômas in diesem Heft. Was bei einer solchen Unternehmung herauskommen kann, zeigen die einzelnen Beiträge auf ihre jeweils sehr unterschiedliche Weise; sie alle arbeiten an jener kritischen Analytik der Gegenwart, die uns interessiert. Und die will erstens allzu schematische Vorstellungen von (Staats-) Macht verlieren und einen Begriff von "Mikromächten" gewinnen, die die Körper, den Alltag und die Räume in und zwischen den Subjekten durchziehen, ohne jedoch das Instrument der Herrschaftskritik preiszugeben; zweitens den bürgerlichen Subjektbegriff samt all seiner patriarchalen, rassistischen und normalisierenden Verwerfungen ad acta legen, aber ohne zu glauben, dass damit schon alles gesagt wäre: "Die" Subjektfrage kann fürs materielle Ganze von Gesellschaft und Gesellschaftskritik nicht einstehen. Sie will drittens zeigen, dass und wie Realität in gesellschaftlichen Macht-Wissens-Apparaten produziert wird, in die "wir" immer schon eingelassen sind. Und weil eine solche Analytik der Gegenwart weiß, dass "wir" keine Position im "Außen" einer reinen Kritik beziehen können, kommt es ihr darauf an, radikal oppositionelle Positionen auch aktiv und praktisch zu besetzen und der Ideologie der Ideologielosigkeit eben nicht auf den Leim gehen.
Gegen die Herrschaft "des" Lebens eine radikale Pluralität von Lebensweisen, die den Kampf um die "Bio-Macht" aufnimmt, kurz: nicht anything goes, aber erst recht nicht stehen bleiben.
Redaktion Fantômas
Anmerkungen:
1) Man muss diese Wörter nicht kennen, aber man kann sie nachschlagen: take a look in Fantômasæ Biopolitik-Glossar auf Seite 19!
2) Als ihre Begründer gelten Arthur Schopenhauer und Friedrich Nietzsche, weitere wichtige Autoren sind in Deutschland später Georg Simmel, Ludwig Klages und Oswald Spengler, in Frankreich vor allem Henri Bergson und Georges Bataille.