Grenzziehungen auf umkämpftem Gelände
Die Linke, der Bellizismus und die Friedensbewegung
nach dem Krieg im Irak
"Die Bewegung der Multituden hat den Krieg nicht verhindert" - kurz und bündig markiert der Satz der GenossInnen von DeriveApprodi die Grenze, die die globale Antikriegsbewegung und ihre Linken nicht überschreiten konnten (vgl. ihre Thesen in diesem Heft). Dass dem so war, hing nicht allein von den Linken ab und muss insofern als strukturelle Voraussetzung der eigenen Handlungsmöglichkeiten hingenommen werden. Nicht hingenommen werden darf dagegen der Rückstand in Theorie und Praxis, der uns noch von diesen Möglichkeiten trennt. Denn Grenzen, die man im Augenblick nicht überschreiten kann, können verschoben, an einzelnen Stellen durchbrochen, an anderen unterminiert werden. Deshalb müssen wir uns mit dem Feld vertraut machen, auf dem sie gezogen werden. Das schließt ein, selbst Grenzen zu setzen: Unterscheidungen zu treffen, Distanzen zu schaffen, Brüche zu vollziehen. Darin besteht das Geschäft der Kritik, ohne die es weder Nähe noch Ferne noch Veränderung gibt.
I.
Nachdem der drohende Krieg weltweit über Monate hinweg jede politische Auseinandersetzung überdeterminierte und die massenmedial produzierte Öffentlichkeit während des Krieges vollständig von den Geschehnissen im und um den Irak beherrscht war, ist das Thema schon jetzt nahezu weg vom Fenster. Zum Ereignis wird, was die Medien dazu machen: Auf Genua folgt der 11. September, dann Afghanistan, dann die Flutkatastrophe in Ostdeutschland, dann die Bomben auf Bagdad, jetzt die Agenda 2010. In der Hitparade der Katastrophen, Krisen und Skandale reduziert sich bürgerliche Öffentlichkeit - zumindest dem Anspruch nach der offene Raum der demokratischen Debatte - auf das von der "Expertenrunde" im jeweils letzten "ZDF-Spezial" gesetzte Niveau. Das ist für Linke nicht nur deshalb von Bedeutung, weil die bürgerliche nun einmal die herrschende Öffentlichkeit ist. Schlimmer ist, dass davon überall auf der Welt allein populistische Politikformen profitieren, d.h. die politische Rechte. Fatal aber ist, dass die katastrophische Wirklichkeit des kapitalistischen Weltsystems der sozialen Erfahrung in den Metropolen letztlich äußerlich bleibt: Die Barbarisierung der Verhältnisse findet immer anderswo, nicht hier statt. Das verstärkt die Abwehrreflexe bei denen, die sich zwar noch auf der "sicheren Seite" wähnen, doch immer deutlicher spüren, dass sie im Fortgang der Globalisierung selbst zum Opfer systematischer Verelendung und Entrechtung werden können. Der auf Sicherung des Eigenen zielende Affekt führt zur Sammlung der untereinander Gleichen in der vom weltpolizeilichen Gewaltmonopol geschützten Zitadellenkultur des globalen Nordens. Sichtbar wurde dies gerade nach dem 11. September, als der von Bush, Blair, Schröder und Chirac damals noch unisono erlassene Aufruf zur "Verteidigung unserer Lebensweise" bis in die Linke hinein zum metropolengesellschaftlichen Konsens wurde. Der vertieft bei den ausgeschlossenen Anderen des jeweiligen Südens das Ressentiment des Gedemütigtseins, von dem die nationalistische, ethnizistische oder "fundamentalistische" Regression oder einfach die unmittelbar verwilderte Gewalt lebt. Die Rechte kulturalisiert die Solidarität der untereinander Gleichen zum clash of civilizations, die Antwort der Linken, die Internationale, ist zur Umkehr des Prozesses derzeit nicht in der Lage.
II.
Die Feststellung, dass die sozialen Bewegungen den Krieg nicht verhindern konnten, ist allerdings so richtig wie ungenau. Denn erstens ist die Dynamik der globalisierungskritischen Bewegung noch immer ungebrochen, und zweitens ist es jedenfalls im Ansatz gelungen, die Bewegungen gegen den Krieg mit denen gegen die neoliberale Sozial- und Biopolitik zu verschränken. Das fand seinen Niederschlag am weltweiten Anti-Kriegs-Tag des 15. Februar, an dem sich eine historisch so noch nie da gewesene Globalisierung sozialen Protests manifestierte. Die Linke agiert insofern - auch im Vergleich zur Epoche des Mai 68 - zum ersten Mal in ihrer Geschichte in einem Zyklus sozialer Bewegung, für den die Internationale - so schwach sie auch ist - nicht erst ein Ziel, sondern bereits den Ausgangspunkt darstellt. Zu erproben bleibt, ob die globalen und kontinentalen Sozialforen und die um sie herum verwobenen Kommunikationsprozesse Räume einer Öffentlichkeit öffnen können, die die Solidarität der untereinander Gleichen sprengt.
III.
Der schnelle Sturz des irakischen Regimes und die damit einher gehende Enttäuschung gewisser "antiimperialistischer" Hoffnungen war nicht nur Folge der Übermacht des Koalitionsmilitärs. Vielmehr resultierte der Zusammenbruch der baathistischen Herrschaft auch aus der massenhaften Desertion nicht nur der regulären irakischen Truppen, sondern vor allem der Zehntausenden von Irakis, die vor Kriegsbeginn in paramilitärische Kampfverbände gepresst worden waren. Besonders deutlich wurde dies in Tikrit, das vom Regime zur letzten Bastion auserkoren, dann aber klammheimlich von denen verlassen wurde, die sich dort opfern sollten und noch wenige Stunden vor dem Fall der Stadt die dazu eingeforderten Jubelbekenntnisse abgegeben hatten. Die Massendesertion war umso erfolgreicher, als sie sich nicht nur der ideologischen Anrufung des Regimes, sondern auch den Eroberern widersetzte und dabei dem "niederen Materialismus" folgte, der Bert Brecht zufolge die Weisheit der Armen artikuliert. Das hat die amerikanische Besatzungsmacht übrigens besser begriffen als der Teil ihrer linken Kritiker, der ihr die "Unordnung" oder gar das "Chaos" im Nachkriegsirak zum Vorwurf macht. Bleibt zu hoffen, dass die plebejische Widerspenstigkeit sich nicht funktionalisieren lässt und den außerstaatlichen Zustand als temporären Möglichkeitsspielraum zu nutzen weiß. Die Desertion aus jeder auferlegten Verpflichtung und die Migration aus geschlossenen Räumen bleiben die primäre Praxis der Internationale, die als "unpolitisch" nur missachten kann, wer soziale Autonomie den Ansprüchen bürgerlicher Moral oder bürokratischer Disziplin unterstellt.
IV.
Die erste Grenzziehung, die angesichts dieser Möglichkeiten von links her und nach links hin vorzunehmen ist, ist die zum "linken" Bellizismus. Wie am Beginn des 20. liegt auch am Beginn des 21. Jahrhunderts die durchaus dogmatisch zu handhabende Minimaldefinition dessen, was "links" ist, in der kompromisslosen Gegnerschaft zum imperial(istisch)en Krieg. Das führt zum Problem der Solidarisierung der untereinander Gleichen zurück, die hierzulande in der antideutschen Publizistik ihren stärksten Fürsprecher fand. Ihr gegenüber bleibt die Kritik der eigenen sozialen Position das Alpha und Omega linker Politisierung; Metropolenlinke sind darin in jedem Fall gefordert, sich in den weltgesellschaftlichen Macht- und Ausbeutungsverhältnissen prinzipiell in die Perspektive der Peripherien zu stellen. In der aber kann die Auseinandersetzung mit dem Bellizismus keine "innerlinke", sondern nur eine Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner sein. Dabei handelt es sich - wie Marx sagt - "nicht darum, ob der Gegner ein edler, ebenbürtiger, ein interessanter Gegner ist, es handelt sich darum, ihn zu treffen" (MEW 1, S. 381). Anders gewendet: Jede Transformation des Imperialismus - und einer solchen wohnen wir ohne jeden Zweifel bei - erneuert die Notwendigkeit einer Spaltung der Internationalen, in der sich die Linken von denen trennen, die - wie Lenin sagt - zu "labor lieutenants of the capitalist class" geworden sind (Werke Bd. 22, S. 198).
V.
Allerdings resultiert die "linke" Zustimmung zum imperial(istisch)en Krieg auch aus einem Erschrecken vor Formen extremer Gewalt, das auf das Sicherheitsbedürfnis der Besitzenden nicht zu reduzieren ist. Für Linke kann es diesem Schrecken gegenüber keine einfache Lösung geben, sondern nur die Übernahme des Widerspruchs, sich prinzipiell dem unauslöschlichen Skandal der Gewalt entgegenzusetzen und doch nicht jeder Macht zuzustimmen, die solche Gewalt - etwa die des irakischen, des Taliban- oder des serbischen Regimes - aktuell einzudämmen vermag. Dieser Widerspruch ist umso schmerzlicher, als er Affekt und Reflexion, Praxis und Theorie, Moral und Politik trennt und dabei einen Primat der Politik, der Theorie und der Reflexion einfordert, dem Linke nachkommen müssen, ohne sich mit ihm abfinden zu können oder zu dürfen. Den Widerspruch zu übernehmen heißt, dem imperial(istisch)en Krieg unter allen Umständen die Zustimmung zu verweigern und sich zugleich von Herzen über den Sturz zuletzt des irakischen Regimes zu freuen. In der Praxis kommt dann alles darauf an, mit wem und für wen man sich freut.
VI.
Die Schwäche der Linken und der Antikriegs- bzw. Friedensbewegungen entspringt aber nicht nur der massenmedial reproduzierten Solidarität der Gleichen, sondern auch ihrer Verhaftung an imperialismustheoretische Altlasten, die vor der komplexen historischen Realität nahezu vollständig versagen. Sagen wir es offen und direkt: Ein Verständnis dessen, was sich im "Fortschritt" eines tendenziell deterritorialisierten und deshalb von seinen nationalstaatlichen Einhegungen freigesetzten Kapitalismus seit einigen Jahren als imperiales Projekt der global vernetzten Metropolen abzeichnet, ist mit den von Lenin ererbten Kategorien ebenso wenig zu erzielen wie mit deren Fortschreibung in der auf den Mai 68 folgenden Epoche. Deshalb ziehen wir die erst noch zu bewährende Hypothese eines auf die Sicherung des Gesamtprozesses kapitalistischer Globalisierung bedachten Empire den eingeschliffenen, aber längst leerlaufenden Ableitungen eines "Antiimperialismus" vor, für den Kriege, wenn nicht unmittelbar um Öl, dann allein um die geostrategischen Kalküle nationalstaatlicher Raub- und Ausdehnungskonkurrenz geführt werden. Tatsächlich wird sich eine linke Opposition gegen den auf Dauer gestellten Weltordnungskrieg von der bellizistischen Legitimation metropolitaner Herrschaft ebenso absetzen müssen wie von der Donquichotterie einer "Friedens-" und "Völkerfreundschaft", die sich umgekehrt zur Verteidigung nationalistischer, ethnizistischer oder "fundamentalistischer" Regression aufschwingt. Der Weg, den die Internationale sucht, ist der Weg ins Freie. Die Beiträge dieses Heftes suchen nach LeserInnen, die wie wir auf diesem Weg ein Stück vorankommen wollen.
Redaktion Fantômas