Fantômas Logo Fantômas - Magazin für linke Debatte und Praxis / Nr. 4 / Winter 03/04

Der postmoderne Fürst

ArbeiterInnenklasse und ArbeiterInnenbewegung im 21. Jahrhundert

Von Frank Deppe

Am Anfang des 21. Jahrhunderts ist der Marxismus in keinem guten Zustand. In Konsequenz der neoliberalen Politik im globalen High-Tech-Kapitalismus aber wächst das Interesse an den Realitäten sozialer Ungleichheit und sozialer Exklusion. Zur thematischen Verschiebung der öffentlichen Debatten trägt seitSeattle 1999 auch die Dynamik neuer sozialer Bewegungen bei. Frank Deppe untersucht, was in dieser Situation die Begriffe der Klasse und des Klassenkampfs noch zu sagen haben.

Im Übergang zum 21. Jahrhundert ist der universelle und emanzipatorische Anspruch der Arbeiterbewegung als einer politischen (Parteien), einer sozialen (Gewerkschaften), einer Genossenschafts- und einer kulturellen Bewegung zerbrochen. Mehr noch: die traditionelle Arbeiterbewegung existiert nicht mehr. Natürlich gibt es noch Gewerkschaften, und natürlich wählen ArbeiterInnen nach wie vor eher sich als "links" definierende Parteien. Auch gibt es weiterhin Prozesse der Auflösung und Neubildung von Klassenlagen und -formationen, die in Klassenkämpfen ausgefochten werden. Doch finden diese Konflikte nicht mehr den politischen Ausdruck, den Marxismus und Leninismus der Beziehung zwischen Avantgardepartei und Klasse zugeschrieben hatte. Organisationen, die sich heute noch auf diese Tradition beziehen, sind kaum noch als Artikulationsform einer Bewegung zu verstehen.

Die Erosion der klassischen Arbeiterbewegung vollzog sich im Prozess der "Modernisierung" kapitalistischer Gesellschaft. Diese sind komplexer geworden, ihre Konflikte, Hierarchien und Herrschaftsverhältnisse lassen sich nicht mehr eindimensional auf Klassenkonflikte reduzieren. Die industrielle Arbeiterklasse ist zu einer minoritären Fraktion der lohnarbeitenden (und arbeitslosen) Bevölkerung geschrumpft, traditionelle Klassenmilieus in Familien, Fabriken, Stadtvierteln und den Alltagskulturen von Sport- und Kulturvereinen oder Kneipen haben sich aufgelöst.

Übergangsfragen undUntersuchungsprinzipien

Doch bedeutet das Ende der traditionellen Arbeiterbewegung, dass die Begriffe Arbeiterklasse und Klassenkampf keine Zukunft mehr haben? Im Folgenden werde ich die These vertreten, dass wir in einer Periode des Übergangs zu einer neuen kapitalistischen Formation leben - in Bezug auf die Struktur moderner Gesellschaften, das System der Weltpolitik und die Beziehung zwischen Akkumulation und politischer Regulation. In dieser "turbulenten" Übergangsphase hat sich das Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit dramatisch zugunsten des Kapitals verschoben und die sozialen und politischen Kräfte, die sich für eine nichtkapitalistische Gesellschaft und eine radikale Demokratisierung einsetzen, außerordentlich geschwächt. Ihre Zukunft hängt an der Art und Weise, in der ihre verschiedenen Fraktionen der Arbeiterklasse und die gegenwärtigen sozialen Bewegungen auf die Widersprüche dieser Übergangsperiode reagieren und dabei einen alternativen Weg der sozialen Reproduktion und der Demokratie zur Sprache bringen.

Erinnern wir uns kurz einiger Prinzipien des historischen Materialismus bei der Analyse des Kapitalismus und der Arbeiterbewegung. Für Karl Marx enthüllt die Politische Ökonomie als Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft den sozialen bzw. den Klasseninhalt politischer, kultureller und intellektueller Phänomene. Daher sagt er: "Das Kapital ist nicht eine Sache (à), sondern ein durch Sachen vermitteltes gesellschaftliches Verhältnis zwischen Personen." (Marx, MEW 23, 793) Genauer: das Kapital ist weder Produkt, noch Technologie oder Geld, sondern das Klassenverhältnis zwischen der produktiven, aber abhängigen Lohnarbeit und der Aneignung von Mehrarbeit unter spezifischen Bedingungen der Entwicklung der Produktivkräfte (unter letzterem ist der historische Entwicklungsstand der Naturwissenschaft, der Technologie und die Qualifizierung der Arbeitskraft zu verstehen). Georg Lukács bezeichnet den Marxismus deshalb als wissenschaftliches Konzept zur Erklärung der kapitalistischen Gesellschaft in ihrer Totalität.

Der zentrale Widerspruch in dieser sich permanent wandelnden sozialen Beziehung ist der zwischen den Reproduktionsinteressen der Arbeitskraft und dem Verwertungsinteresse des Kapitaleigners. Die Kapitalakkumulation steht unter den Zwangsgesetzen der Konkurrenz, weil kein Kapitalist überlebt, der in der Entwicklung der Produktivkräfte und damit der Produktivität zurückbleibt. Die Entwicklung der Produktivkräfte wird aber auch durch die Klassenkämpfe angetrieben, wobei das Kapital auf erfolgreich durchgesetzte gewerkschaftliche Forderungen (z.B. Lohnerhöhungen) mit der Reduzierung der (relativen) Lohn(stück)kosten durch Rationalisierung, d.h. durch die Steigerung der Arbeitsproduktivität, reagiert. Die Geschichte der Arbeiterklasse ist daher eine abhängige Variable der Kapitalakkumulation und ihrer Widersprüche. Ihre Größe, ihre innere Struktur, ihre Verteilung über die Welt, ihre Verhältnisse zu anderen Klassen sind historisch-dynamische Momente und objektive Bedingungen des Prozesses der Klassenformierung. Selbstverständlich erklären diese nicht allein die Intensität der Klassenkämpfe oder das Organisationsverhalten der Arbeiter.

Konkrete Analyse konkreter Verhältnisse

In der Geschichte der Arbeiterbewegung nehmen verschiedene Klassenfraktionen die Rolle einer "Avantgarde" in den Gewerkschaften, politischen Organisationen, Streikbewegungen und anderen Kämpfen wahr. Solche Veränderungen sind z.B. im Übergang von den "alten", auf handwerklich qualifizierter Lohnarbeit beruhenden Gewerkschaftsorganisation zu den "neuen Gewerkschaften" festzustellen, die die angelernten "Massenarbeiter" in der fordistischen Massenproduktion organisieren. Seit den Streiks in Frankreich 1995/96 sind es vor allem die Beschäftigten und Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes, die an der Spitze sozialer und politischer Auseinandersetzungen stehen.

Jede Periode der kapitalistischen Entwicklung und ihrer nationalen und regionalen Konfigurationen ist also durch ein bestimmtes - historisch je konkret zu untersuchendes - Verhältnis der Klassen, ihrer inneren Struktur sowie durch spezifische Bedingungen des Klassenkampfes charakterisiert. Antonio Gramsci sprach von der notwendigen Erforschung des (nationalen, lokalen etc.) "Terrains", auf dem die fortschrittlichen Kräfte der Arbeiterklasse operieren. Weil alle Prozesse der Klassenformierung immer auch durch den Staat, d.h. durch das politische System und die Kämpfe in diesem System strukturiert werden, muss dessen Rolle in der Totalität der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft selbstverständlich mit bedacht werden.

Daraus ergibt sich eine wichtige Schlussfolgerung. Obwohl der historische Materialismus immer wieder die Frage nach dem sozialökonomischen Gehalt von Formen des politischen, ideologischen und kulturellen Überbaus (von denen die Klassenorganisationen ein wichtiger Bestandteil sind) thematisiert, muss sich die Analyse konkret historischer Prozesse und Kämpfe vor den Fallstricken eines mechanistischen und/oder reduktionistischen Denkens hüten. Die sozialen Klassen sind keine kollektiven Akteure, die mit Blasmusik durch die Straßen marschieren und dabei rote Fahnen schwenken, der Klassenkampf ist und war nie eine bloße "Widerspiegelung" ökonomischer und sozialer Strukturen und Widersprüche. Das Grundproblem der Vermittlung von Struktur- und Handlungsanalyse darf nicht durch die schlecht-philosophische Interpretation der Schriften des jungen Marx übergangen werden, wonach die "historische Mission des Proletariats" in der "Aufhebung" seiner eigenen Lebensbedingungen besteht.

Stationen des Übergangs

Was bedeuten die Strukturen und Dynamiken des heutigen Kapitalismus für die Struktur der Arbeiterklasse, die Reproduktion von Widersprüchen und den Widerstand der Arbeiterklasse? Unter marxistischen ÖkonomInnen und SozialwissenschaftlerInnen besteht ein weiter Konsens bezüglich folgender Elemente des aus der Krise des Fordismus in den späten 60er und 70er Jahren entstandenen "Postfordismus":

Die "mikroelektronische Revolution" hat den Charakter der Arbeit in der industriellen Produktion und im Dienstleistungsbereich weitgehend verändert. Sie bedeutet zunächst eine außerordentliche Steigerung der Produktivkraft der lebendigen Arbeit. Die "gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit" wird drastisch reduziert, der Mensch "tritt neben den Produktionsprozess, statt sein Hauptagent zu sein (...). Sobald die Arbeit in unmittelbarer Form aufhört, die große Quelle des Reichtums zu sein, hört und muss aufhören die Arbeitszeit sein Maß zu sein und daher der Tauschwert das Maß des Gebrauchswerts" (Marx, MEW 42, 593). Für die Kapitalverwertung liegt darin ein enormes Rationalisierungspotenzial, um die Kosten der Produktion, der Verwaltung und des Managements zu senken. Bei gleich bleibendem oder sinkendem Wachstum und/oder bei gleicher Arbeitszeit kommt es daher zu Massenentlassungen. Auf der anderen Seite bilden diese Produktivitätsgewinne die Basis für die gewerkschaftlichen Forderungen nach der Verkürzung der Arbeitszeit.

Die mikroelektronische Revolution transformiert den Charakter der Lohnarbeit und ihre Qualifizierung: von der Produktion materieller Güter zur Produktion von Information und Wissen. Kommunikation und Wissensproduktion werden zentrale Voraussetzungen der materiellen Produktion wie der globalisierten Finanzmärkte. Gleichzeitig wandeln sich Profil und Zusammensetzung des gesellschaftlichen Arbeitskörpers. Schließlich kommt es zu einer gewaltigen Umverteilung der Arbeit vom industriellen - zum zwischen stabilen und instabilen Beschäftigungsverhältnissen, zwischen Tätigkeit mit hoher und niedriger Qualifikation bzw. gut und schlecht bezahlten Arbeitsplätzen hoch polarisierten - Dienstleistungssektor.

Die Veränderung der Strukturen der Informationen und der Kommunikation hat erhebliche Konsequenzen für die Analyse der Überbauten und der Ideologie im modernen Kapitalismus. Ich denke dabei an die Bedeutung des Internets, aber auch an die Rolle der privaten Medien, die für die ganze Welt Informationen über die politische und soziale Realität vermitteln und dabei Bilder und Vorstellungen mit direkten politischen Implikationen konstruieren. Damit gewinnt der - Gramsci so wichtige - "Stellungskrieg" um Hegemonie ganz neue Dimensionen.

Die klassischen Imperialismusanalysen zu Beginn des 20. Jahrhunderts gingen stets von absoluten Schranken der Kapitalakkumulation aus. Die Analyse der Struktur der Akkumulation zeigt aber, dass die Kapitalakkumulation immer neue Bereiche des Lebens, der sozialen Reproduktion und der Kultur durchdringt und dem Waren- und Profitprinzip unterwirft: von der fordistischen Massenproduktion von Automobilen über die Kapitalisierung des Handels, der Dienstleistungen, des Kommunikationssektors und der Freizeit bis hin zur gegenwärtigen Durchkapitalisierung des Körpers durch "Biopolitik". Diese Prozesse werden von einer Ausweitung der Lohnarbeit auf neue Bereiche begleitet.

Zugleich nimmt innerhalb der globalen Reproduktion des Kapitalismus die Bedeutung des Finanzkapitals zu. Mit ihr wächst der Druck zur Anpassung der nationalen Systeme der Corporate Governance. Darunter sind nicht nur die Managementsysteme (und darin eingeschlossen z.B. die Beziehungs- und Machtstrukturen zwischen Vorständen und Aufsichtsräten, zwischen Eigenfinanzierung und Fremdfinanzierung durch Banken), sondern auch die Organisationsformen der industriellen Beziehungen (in Deutschland z.B. die verschiedenen Systeme der "industriellen Demokratie" und der "Mitbestimmung") zu verstehen.

Das Lohnverhältnis wurde deutlich abgewertet, die Löhne gerieten durch Rationalisierung und Arbeitslosigkeit, aber auch die Verschiebung der Finanzaktivitäten und die Politik von Regierungen unter Druck. Die sinkende Lohnquote belegt die enge Verbindung zwischen den Veränderungen in der Struktur der Akkumulation und den Veränderungen in den gesellschaftlichen und politischen Kräfteverhältnissen zwischen Kapital und Arbeit, bzw. zwischen den Verbänden, die diesen Interessenkonflikt repräsentieren: Die Gewerkschaften haben erheblich an Macht verloren.

Verändert hat sich auch das Verhältnis zwischen kapitalistischer Ökonomie und Staat. Die für den Fordismus charakteristische Parallelität von nationalem Keynesianismus und Weltmarktliberalismus wurde aufgebrochen. Die Aufgabe des kapitalistischen Staates besteht heute darin, als "nationaler Wettbewerbsstaat" (J. Hirsch) die Wettbewerbsfähigkeit der nationalen "Standorte" zu sichern bzw. zu optimieren. Die Arbeiterklasse wird im Zuge dieser Veränderungen (die immer auch ein Ergebnis von politischen Auseinandersetzungen sind) mit der Erosion des fordistischen Klassenkompromisses konfrontiert, der im Zeitalter des "Golden Age" (1948 - 1975) auf dem "Tauschgeschäft" zwischen der Anerkennung des Kapitalismus durch die reformistische Arbeiterbewegung und der Anerkennung der Vollbeschäftigungspolitik und des Sozialstaates durch die Repräsentanten der organisierten Kapitalinteressen beruhte. Die neoliberale Hegemonie reflektiert diese Veränderung der Kräfteverhältnisse in einer Politik der Privatisierung, Deregulierung, des Monetarismus und der angebotsorientierten Wirtschaftspolitik. Das politische System hat in seinen Entscheidungen die Dominanz der Gesetze des Marktes über allen anderen Sphären der Gesellschaft und der Politik anerkannt.

Innerhalb der Weltmarktkonkurrenz forciert der "Wettbewerbsstaats" die Deregulation des Arbeitsmarktes ("Flexibilisierung", Schaffung prekärer Beschäftigungsverhältnisse bzw. eines Niedriglohnsektors), die Umwandlung der wohlfahrtstaatlichen Politik kollektiven Schutzes und kollektiver Solidarität zugunsten privater Absicherung und Individualisierung sowie den Abbau von Arbeiter- und Gewerkschaftsrechten im Bereich der industriellen Demokratie. Deregulierung und Privatisierung wirken auch im Bereich von Bildung und Wissenschaft. Diese werden "ökonomisiert", in dem die Institutionen nach betriebswirtschaftlichen Kriterien evaluiert, Privatschulen/-universitäten und Elitenförderungen aufgewertet und ihre Inhalte direkt den Kapitalinteressen untergeordnet werden.

Der Kapitalismus der Gegenwart hat eine neue Stufe der Internationalisierung bzw. Transnationalisierung von Produktion und Austausch, der Mobilität des Kapitals, der Information, des Geldes und auch der Menschen (transnationale Migration) erreicht. Zum einen erweitert sich mit den Strategien des Global Sourcing der Handlungsspielraum transnationaler Konzerne (TNK) insbesondere im Verhältnis zu den Beschäftigten und den Gewerkschaften in erheblicher Weise, auch wenn die "Exit-Option" des Kapitals gelegentlich übertrieben wird. Zum anderen wird die Weltmarktkonkurrenz als quasi-unveränderliche Naturkonstante akzeptiert und verinnerlicht, weil neoliberale Politik sich als "alternativlos" darzustellen vermag. Auch das stärkt das Management gegenüber Beschäftigten, Betriebsräten und Gewerkschaften, deren strategische Schwäche sich wiederum in der Akzeptanz der Politik des Wettbewerbskorporatismus spiegelt. Verstärkt werden diese Effekte durch das Ende der bipolaren Welt der Blockkonfrontation. Klassenpolitische Wirkungen zeitigten schließlich auch die Finanzkrisen seit Ende der 80er Jahre: Während die Verschuldungskrise generell die Entwicklungsländer gegenüber den Metropolen schwächte, treffen die Währungs- und Finanzkrisen der neuen Zeit (z.B. die Asienkrise 1997) vor allem die Unterschichten.

Diese Entwicklungen legen die Notwendigkeit einer neuen Imperialismusdebatte nahe. Dabei wäre zu berücksichtigen, dass die Internationalisierung des Kapitals die Arbeitsmärkte nur partiell erfasst. So stellen die ArbeiterInnen der TNKs und der Exportindustrien nur 10 bis 15% der globalen Arbeiterklasse. Desgleichen hat sich die Zahl der MigrantInnen seit 1965 zwar um 60% erhöht, doch macht ihr Gesamtanteil an der Arbeiterklasse weltweit weniger als 5% aus. Dass die Gewerkschaften ihren Schwerpunkt auf der Ebene des Betriebes, der Branche und der Nationalstaates haben und international immer noch relativ schwach sind, reflektiert auch den Widerspruch zwischen der Globalisierung der Kapitalbewegung und der noch überwiegend nationalstaatlich verfassten Struktur der Arbeitsmärkte.

Ein neuer Block der Subalternen

Was bedeuten diese Befunde einer natürlich sehr bruchstückhaften Analyse für eine am Marxismus orientierten Klassenanalyse? Eine erste Feststellung scheint banal zu sein: Die Arbeiterklasse ist keineswegs verschwunden, der Kapitalismus basiert nach wie vor auf der Ausbeutung der Lohnarbeit und den natürlichen, sozialen und politischen Bedingungen der Produktion und Aneignung von Mehrwert. Die Zahl der abhängig Arbeitenden hat sich zwischen 1970 und 2000 fast verdoppelt und umfasst ungefähr die Hälfte der gesamten Weltbevölkerung. Das ist in erster Linie auf die Entwicklung in China und in anderen Teilen Asiens zurückzuführen, wo infolge der Industrialisierung große Teile der Landbevölkerung "freigesetzt" wurden. In den entwickelten kapitalistischen Ländern beträgt der Anteil der Lohnarbeit inzwischen 90% und mehr, wobei die Zahl der Selbstständigen leicht zunimmt. Das ist u.a. auf die Zunahme der Kleinstunternehmen in der "New Economy" und im Dienstleistungssektor und auf die Strategie des "Outsourcings" zurückzuführen: Viele Unternehmen verteilen Arbeitsaufträge an formell Selbstständige, die de facto aber völlig von ihnen abhängig sind. Gleichzeitig hat sich der Anteil von Frauen unter den abhängig Arbeitenden weltweit von 33% (1970) auf 40% (2000) erhöht. Darin reflektieren sich gewaltige Veränderungen der Familienstrukturen, der Einstellungen von Frauen zu ihrer Arbeitsbiographie, Veränderungen im Bildungssystem, aber auch in den Strukturen der Arbeitsmärkte selbst, denn die Frauen sind überproportional in den Niedriglohn-, Teilzeit und informellen Sektoren beschäftigt.

Die klassische Arbeiterbewegung glaubte, dass das quantitative Anwachsen der Arbeiterklasse zur zahlenmäßig stärksten Klasse die Vereinheitlichung der Arbeits- und Lebensbedingungen, der Qualifikation und des Klassenbewusstseins vorantreibe. Diese Vorstellung war immer falsch, weil die Geschichte der Klasse eine der permanenten Um- und Restrukturierung ihrer inneren Sozialstruktur war. Heute sind diese Strukturen extrem fragmentiert. War der Fordismus noch durch universelle Standards für die Massenproduktion und die Reproduktion der Arbeitskraft charakterisiert, verstärkt der Postfordismus die Spaltungen zwischen oberen und unteren Klassen wie innerhalb der Arbeiterklasse selbst.

Die Umstrukturierung und Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse schafft innerhalb wie jenseits der nationalen Grenzen neue Formen sozialer Ungleichheit. Es entsteht ein neuer "Block der Subalternen" (Gramsci), der sich allerdings politisch noch nicht als Block artikuliert, weil ihm das alternative Programm und die Handlungskompetenz gegenüber dem Neoliberalismus fehlen, durch die die Fraktionen dieses Blocks zusammengeschweißt werden könnten.

An seiner Spitze befinden sich Fraktionen der lohnabhängigen Mittelklasse und eher "aristokratische" Facharbeiterschichten mit hoher Qualifikation, relativ sicheren Arbeitsplätzen und Einkommen. Dabei hat der Sektor der Kommunikations- und Wissensproduktion quantitativ, vor allem aber qualitativ an Bedeutung gewonnen. Seine Beschäftigten praktizieren Lebensstil und Individualisierungsphilosophie der Mittelklasse und unterstützen oft die neoliberale Politik, sind aber auch gegenüber den "neuen sozialen Bewegungen" (Feminismus, Ökologie) aufgeschlossen und unterstützen grüne Parteien.

Eine zweite Fraktion umfasst den industriellen Kern der traditionellen Arbeiterklasse. Obwohl sie in Umfang, sozialem Status und politischem Gewicht beträchtlich verloren hat, verfügt sie in einigen Ländern noch über relativ starke Gewerkschaften und eine relativ stabile Beschäftigung. Dabei neigt sie zu einer konservativen, "korporatistischen" Politik.

Eine dritte Fraktion besteht aus unterqualifizierten, schlecht bezahlten, oft Teilzeit arbeitenden Beschäftigten in den unteren Segmenten des Dienstleistungsbereiches. Viele von ihnen sind MigrantInnen aus Osteuropa, Afrika, Lateinamerika oder Asien, die Mehrzahl Frauen. Diese Schicht eines neuen "Dienstleistungsproletariats" hat am stärksten zugenommen.

Schließlich bildet sich weltweit eine dauerhaft arbeitslose oder unterbeschäftigte "Unterklasse". Es handelt sich weder um eine "industrielle Reservearmee" (denn sie hat kaum noch eine Chance, die Exklusion vom offiziellen Arbeitsmarkt zu durchbrechen), noch um ein klassisches "Lumpenproletariat" (weil sie historisch ein Produkt des Wohlfahrtsstaats der 60er Jahre ist).

Ungleichzeitige Widerspruchsformationen

Die Fraktionen dieses Blocks der Subalternen sind ungleich über die Welt verteilt, nicht nur zwischen Metropole und Peripherie, sondern auch zwischen Global Citys, traditionell-industriellen, ländlichen und den neu-industrialisierten Regionen der "New Economy". Die bloße Lohnabhängigkeit ist als Merkmal der Unterscheidung völlig unzureichend, weil sich die soziale Position primär über die Merkmale Geschlecht und Ethnie bestimmt. Die Fragmentierungstendenzen verstärken die Erosion des traditionellen Klassenbewusstseins und wirken über Rassismus und Sexismus als stabilisierender Faktor neoliberaler Herrschaft. Gleichzeitig bringen die Widersprüche des globalen Kapitalismus überall in der Welt neue Formen des Widerstandes hervor. Auch die intellektuelle Kritik des Neoliberalismus hat sich verstärkt. Selbstverständlich variieren die Inhalte dieser Konflikte deutlich und entsprechen den jeweils spezifischen Bedingungen innerhalb des globalen Kapitalismus wie des Blocks der Subalternen: Proteste landloser Bauern in Brasilien, der Aufstand in Chiapas, Widerstand von Bauern gegen die Privatisierung des Zugangs zu Wasser in Peru, Gewerkschaftsstreiks in Westeuropa und Südkorea, globale Massendemonstrationen gegen Krieg und Kriegsgefahr. Dabei können fünf Gruppen von Widersprüchen unterschieden werden, auf die sich Protest und Widerstand konzentrieren:

Der Widerspruch zwischen Großkapital und Demokratie, festzumachen an den Angriffen auf WTO, Weltbank, IWF, OECD und EU.

Der Widerspruch zwischen der Intensivierung von Arbeit und Ausbeutung und der Armut durch ökonomische und finanzielle Krisen, festzumachen am wachsenden Widerstand der Gewerkschaften nicht nur in den USA, sondern auch in Westeuropa.

Eine dritte Gruppe der Widersprüche hängt mit der Intensivierung der Krise der sozialen Reproduktion zusammen, die zunächst die Frauen und ihre Arbeit in der informellen bzw. der Subsistenzökonomie, im Haushalt und der Kindererziehung trifft.

Eine vierte Gruppe von Widersprüchen betrifft die transnationalen Konzerne in der Nahrungsmittel- und Pharmaindustrie. Dabei geht es nicht allein um die Nahrungsmittel, sondern auch um eine "Biopolitik", die durch Genmanipulation und Experimente mit Embryonen auf die menschlichen Körper selbst zielt. Diese Problematik spielte schon bei den Demonstrationen gegen WTO und der OECD eine wichtige Rolle.

Eine fünfte Gruppe von Widersprüchen wird durch die Massenbewegungen gegen die Kriegspolitik der USA seit dem 11. September 2001 artikuliert.

Frühwarnsysteme und kritische Intellektuelle

Die globalisierungskritischen Bewegungen sind "Frühwarnsysteme" künftiger sozialer, politischer, ökonomischer, ökologischer, aber auch kultureller Konflikte, in denen die Arbeiterklasse unentbehrlich sein wird. Diese Konflikte konzentrieren sich auf Fragen der Demokratie, der Partizipation und der nationalen Souveränität, sie betreffen die Rolle internationaler Organisation und den Kampf um die Verhinderung einer imperialen Weltherrschaft, aber auch die Verteilung und Umverteilung von Reichtum, Information, Wissen, Gesundheit, den Zugang zu Trinkwasser, frischer Luft und anderen natürlichen Ressourcen. Die erneute Einbettung der Ökonomie in Institutionen sozialer und politischer Kontrolle verlangt den Stopp der Ausdehnung der Warenproduktion ("Kommodifizierung"), der Deregulierung und Privatisierung. Demokratie bedarf eines breiten Sektors der "Dekommodifizierung" (d.h. des Zugangs zu öffentlichen Gütern von hoher Qualität für alle) und eines breiten "dekommodifizierten" Arbeitsmarktes im Bereich der Bildung, der Wissenschaften, der Gesundheit, der Infrastruktur usw.

Inspiriert von Machiavellis Reflexionen über den "Fürsten" (1513) hat Gramsci die leninistische Partei zu Beginn des 20. Jahrhunderts als "modernen Fürsten" bezeichnet, dessen "organische Intellektuelle" die Arbeiter und Bauern auf nationaler Ebene zum Block der Subalternen organisieren und dabei die Hegemoniefrage stellen sollten. Ein "postmoderner Fürst" kann nicht länger den Organisationen der klassischen Arbeiterbewegungen nachgebildet werden, sondern wäre als komplexe Netzwerkstruktur zu organisieren. Seine wichtigste Funktion bestünde darin, Bündnisse zwischen sehr verschiedenen Kräften und Bewegungen zu schaffen, in dem er ein Bewusstsein über die innere Beziehung von Konflikten schafft, die auf den ersten Blick getrennt zu sein scheinen. Dabei spielen die kritischen Intellektuellen möglicherweise eine noch größere Rolle als zur Zeit Gramscis. Ihre Aufgabe, das Selbstbewusstsein dieser neuen globalen Bündnisse sozialer, politischer und kultureller Kräfte zu artikulieren, kann nur dann erfolgreich wahrgenommen werden, wenn sie auf dem fortgeschrittenen Stand der Entwicklung der Informations- und Kommunikationstechnologien stattfindet. Das Verhältnis von individuellen, partikularen und kollektiven Interessen aber muss durch die Kämpfe und Bewegungen selbst begründet werden.

Frank Deppe ist Professor für Politikwissenschaften in Marburg und veröffentlichte zuletzt "Politisches Denken im 20. Jahrhundert, Band 2: Politisches Denken zwischen den Weltkriegen." Eine erheblich erweiterte Fassung diesesTextes erschien in Z - Zeitschrift fürmarxistische Erneuerung, Heft 54, Juni 2003

(www.zeitschrift-marxistische-Erneuerung.de)